Dokument 1.2: Brief von Therese Chromowa an Nikita Chruschtschow über die Frage der Wiederherstellung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, 15. September 1961
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An das ZK der KPdSU
Persönlich dem Ersten Sekretär der KPdSU
Nikita Sergejewitsch Chruschtschow
Von Chromowa, Therese Christjanowna
[Region Krasnojarsk], Jenissejsk, Proletarski [Straße] 30
Gesuch
Angesichts der am 22. Kongress der KPdSU bevorstehenden Annahme des Programms zum Aufbau des Kommunismus, wollen wir, Sowjetdeutsche, die Aufmerksamkeit der Partei- und Regierungsführung auf die schon 20 Jahre dauernde ungleichberechtigte Lage der Sowjetdeutschen lenken. Wir sehen uns genötigt die Kommunistische Partei zu ersuchen, die Frage der Rehabilitierung der Sowjetdeutschen auf die Tagesordnung des ZK der Partei oder sogar des 22. Parteitags zu stellen.
Bitte beachten Sie folgende Erklärung:
Sowjetdeutsche zogen seit 1764 freiwillig nach Russland.
Sie wurden von der zaristischen Regierung in der Ukraine, im Kaukasus, im Leningrader Gebiet und hauptsächlich an der Wolga angesiedelt. Sie haben den jahrhundertelang brachliegenden Boden in fruchtbares Land verwandelt.
Seit den 80er Jahren des vergangenen [19.] Jahrhunderts fing der Zarismus an, gegen die Deutschen an der Wolga, in der Ukraine, im Kaukasus und im Leningrader Gebiet eine chauvinistische und Russifizierungspolitik zu betreiben. Nach 30–40 Jahren wurden Vorbereitungen einer für den April 1917 geplanten Verbannung aller Deutschen aus dem Wolgagebiet getroffen. Erst der Sturz der Monarchie verhinderte die Durchführung dieses barbarischen Ereignisses. Nach dem Appell der Kolonisten an die Provisorische Regierung, dieses Gesetz aufzuheben, stimmte Kerenskilediglich zu, "den Ukas vorläufig auszusetzen". Nur die Große Sozialistische Oktoberrevolution hob diesen barbarischen Erlass auf und beendete die nationale Unterdrückung und Ungleichberechtigung. Am 19. Oktober 1918 unterschrieb W.I. Lenin ein Dekret über die Autonomie der Wolgadeutschen. Zusammen mit allen Völkern der UdSSR bauten die Deutschen der Autonomen Republik von 1918 bis 1941 den Sozialismus auf, schufen ihre Kultur, national in der Form und sozialistisch im Inhalt. Es entstand eine reiche industrielle und landwirtschaftliche Basis für das [Sowjet]Land. Menschen wurden überzeugte Erbauer des Sozialismus.
1941 wurden ausnahmslos alle Wolgadeutschen durch den Erlass vom 28. August nach Sibirien
verbannt, besudelt, verleumdet und sind bis heute immer noch nicht rehabilitiert. Niemand wird uns weismachen, dass dieser barbarische Ukas dem Sowjetstaat Nutzen gebracht hat.
[…]
Ab 1941 leiden die Sowjetdeutschen ununterbrochen unter chauvinistischen Angriffen, Repressionen, Gesetzlosigkeit und Verächtlichmachung; sie durften nicht in ihrem Beruf weiterarbeiten, Frauen mit Säuglingen und Kleinkindern wurden unter dem Vorwand der Mobilisierung aus Sibirien noch einmal in den Norden umgesiedelt.
So wurde 1941 die vom großen Lenin errichtete Autonomie der Sowjetdeutschen an der Wolga in rücksichtsloser Art und Weise liquidiert. Es sieht so aus, dass die unter dem Zarismus geplante Barbarei – die Verbannung aller Deutschen aus dem Wolgagebiet – 24 Jahre nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution stattfand.
Drei Jahre nach Kriegsende wurde uns, den Sowjetdeutschen, der Erlass vom 26. November 1948 bekannt gegeben, in dem stand, dass die Deutschen, Kalmücken, Finnen, Letten, Griechen, Inguschen, Tschetschenen u.a.
in die entsprechenden Gegenden auf ewig [unterstrichen im Original] ausgesiedelt sind. Und dass ihre Entfernung von den Ansiedlungsorten ohne die Erlaubnis des Innenministeriums mit 20 Jahren Lagerhaft bestraft wird. […] Am 13. Dezember 1955 wurde verabschiedet und von der Sonderkommandantur
jedem von uns gegen Unterschrift erst im März 1956 bekannt gegeben, dass laut dem Erlass vom 13. Dezember 1955 die Sowjetdeutschen kein Recht hatten, die Rückgabe von dem [konfiszierten] Kollektiv- und Privateigentum zu fordern und sie nicht in die Orte zurückkehren dürfen, aus denen sie verbannt wurden. Auf unser geäußertes Befremden sprachen einige von der Kommandantur ganz offen: Die Deutschen sind eine in Verruf geratene Nation und ihre Konzentration an einem Ort darf nicht zugelassen werden.
Es stellt sich heraus, dass der Erlass vom 13. Dezember 1955 die Sowjetdeutschen als gefährlichste Staatsverbrecher betrachtet (Verbot der Rückkehr in die Heimatorte, Beschlagnahme von Eigentum), d.h. sie bleiben nicht rehabilitiert. Es scheint, dass die Sowjetdeutsche[n] durch die sowjetische Verfassung in Bezug auf ihr Eigentum und nationale Rechte nicht geschützt sind.
a) Gemäß der Verfassung hat jede Nationalität das Recht, ihre Kinder in der Muttersprache zu unterrichten. Wir haben keine nationalen Schulen, in denen unsere Kinder auf Deutsch unterrichtet werden könnten, damit wird eine der Grundvoraussetzungen der Leninschen Nationalitätenpolitik verletzt.[…]
b) Für 1 Million 620 Tausend Sowjetdeutsche wird bei uns in der UdSSR keine sowjetdeutsche Literatur herausgegeben. Was die Zeitungen "Neues Leben"und "Rote Jugend" angeht, verglichen mit dem, was vor dem Krieg im ASSR der Wolgadeutschen veröffentlicht wurde und was etwa für 350 000 Deutsche in Rumänien veröffentlicht wird, die über eine eigene Autonomie verfügen, so ist das ein Elend und befriedigt keineswegs die Bedürfnisse der deutschen Presse.
[…]
d) Alle kleineren Nationen wie Letten, Tadschiken, Turkmenen, Esten, Kirgisen, Tschuwaschen, Mordwinen, Baschkiren, Kalmücken und andere, der [Bevölkerungs]Zahl nach geringer als Sowjetdeutsche, haben ihre [Unionsrepubliken und] autonomen nationalen Republiken und jede hat im Nationalitätenrat mehrere Dutzende von Abgeordneten.Die 1 Million 620 000 Sowjetdeutschen dagegen haben keine eigene autonome Republik und keinen einzigen Abgeordneten im Obersten Sowjet. […] Am 11. Februar 1957 hat der Oberste Sowjet ein Gesetz über eine vollständige Rehabilitierung von solchen Völkern wie Kalmücken, Finnen, Tschetschenen, Inguschen und andere verabschiedet.
Sie bekamen Autonomien und Territorien zurück, wo sie vor der Verbannung wohnten. Zu den Sowjetdeutsche gab es in diesem Erlass [faktisch: Gesetz] kein einziges Wort, die bleiben bis jetzt unschuldig verleumdet. Sogar in der erst vor wenigen Jahren veröffentlichten sowjetischen Enzyklopädie (S. 106–113) sind alle nationalen Minderheiten aufgeführt, nur über die Sowjetdeutschen wird ein Mantel des Schweigens gedeckt, d. h. in der offiziellen und wissenschaftlichen Presse erfährt man nichts über uns. Das ist, auf Deutsch ausgedrückt: Man will uns totschweigen.
Wo ist die Gleichheit, Brüderlichkeit, Freundschaft mit Sowjetdeutschen? W.I. Lenin schrieb: "Wer die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen nicht anerkennt und nicht verteidigt, wer nicht jede nationale Unterdrückung oder Rechtsungleichheit bekämpft, der ist kein Marxist, der ist nicht einmal ein Demokrat."
Im Anbetracht des oben genannten, bitten wir:
Die Erlasse vom 28. August 1941, 26. November 1948 und 13. Dezember 1955 aufzuheben und die gesamte deutsche Bevölkerung in die früheren Wohnorte in der Ukraine, den Kaukasus, in die Wolgaregion und in das Leningrader Gebiet zurückzubringen. Das heißt, die Sowjetdeutschen politisch und wirtschaftlich vollständig zu rehabilitieren (einschließlich der Rückgabe des konfiszierten kollektiven und persönlichen Eigentums).
Wiederherstellung der ASSRdWD als kulturelles und nationales Zentrum aller Sowjetdeutschen. […]
Die Wiederherstellung der ASSRdWD und der deutschen Landkreise und Siedlungen in der Ukraine, dem Kaukasus und im Gebiet Leningrad umso schneller zu organisieren, damit die sowjetischen Deutschen im Jahr 1964 den 200. Jahrestag ihres freiwilligen Anschlusses an den russischen Staat
bereits zu Hause, in ihren Heimatorten auf der Grundlage der Brüderlichkeit und nationaler Gleichheit mit allen Völkern feiern könnten. Eine ausreichende staatliche Unterstützung für die rückkehrenden Sowjetdeutschen und ihre Einrichtung in den früheren Wohnorten an der Wolga, in der Ukraine, im Kaukasus, im Gebiet Leningrad.
[…]
Inständig und nachdrücklich bitte ich Sie, Nikita Sergejewitsch, mich in dieser Frage bis Anfang des Oktobers persönlich anzuhören, noch vor dem Beginn des 22. Kongresses der KPdSU. Ich bitte schon zum zweiten Mal um einen persönlichen Empfang (das erste Mal war es im Mai 1960). Nicht nur schriftlich, sondern in einem persönlichen Gespräch möchte Ihnen ich sagen, dass wir, Sowjetdeutsche, mit den deutschen Staaten DDR und insbesondere BRD außer der Sprache nichts gemein haben. Unsere Heimat, die Heimat der Sowjetdeutschen ist hier, in Russland, in der Sowjetunion. Niemand hat das Recht uns, den Sowjetdeutschen, die Untaten Hitlers, Strausses, Adenauers und wie sie alle dort heißen, in die Schuhe zu schieben. Wir hassen sie ebenso stark und vielleicht noch mehr für all die Schrecken, die sie unseren Sowjetmenschen gebracht haben.
[…]
15 / IX-61 Unterzeichnet: Chromowa
Richtig 23.10.1961 H. Kaiser
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