A. Deutsche Dissidenten, Oppositionelle und Nonkonformisten im sowjetischen Unrechtsstaat (1950er–1980er Jahre)
Viktor Krieger
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Einen zentralen Platz im historischen Gedächtnis der Russlanddeutschen nimmt der gewaltlose Kampf um Bürgerrechte und Minderheitenrechte um eine substanzielle Rehabilitierung ein. Das systemkritische Gedankengut breitete sich unter den "sowjetischen Bürgern deutscher Nationalität" überdurchschnittlich stark aus.
Einen zentralen Platz im historischen Gedächtnis der Russlanddeutschen nimmt der gewaltlose Kampf um Bürgerrechte und Minderheitenrechte um eine substanzielle Rehabilitierung ein. Das systemkritische Gedankengut breitete sich unter den "sowjetischen Bürgern deutscher Nationalität", so die in der russischen Amtssprache gebräuchliche Bezeichnung, überdurchschnittlich stark aus. Zurückzuführen ist dies auf den Umstand, dass die sowjetische Partei- und Staatsführung auch nach Stalins Tod im Jahr 1953 der deutschen Minderheit eine materielle, politische, rechtliche und nicht zuletzt moralische Wiedergutmachung verweigerte. Hinzu kam die weit verbreitete Germanophobie: Als sichtbare Vertreter derjenigen Nation, die gegen die Sowjetunion den langjährigen, verlustreichen Krieg entfesselt hat, fungierte diese Minderheit weiterhin als bevorzugtes Ziel antideutscher Ressentiments auf allen Ebenen der Macht sowie unter Nachbarn, Kollegen oder Vorgesetzten und musste besonders schwer unter den moralischen und psychologischen Folgen des "Kultes des Großen Vaterländischen Krieges" leiden. Dies umso mehr, weil es verboten war, über ihre Geschichte und Kultur zu forschen und zu publizieren.
Das Zentrale Staatsarchiv der Wolgadeutschen Republik, nach 1941 zu einer Filiale des Saratower Gebietsarchivs degradiert, blieb bis Ende der 1980er Jahre für Wissenschaftler und Heimatforscher hermetisch verschlossen. Besonders schwer wog der Umstand, dass der Dienst von Zehntausenden Deutschen in den Reihen der Roten bzw. Sowjetischen Armee während des Bürgerkrieges, in der Zwischenkriegszeit und während des deutsch-sowjetischen Krieges jahrzehntelang bewusst ausgeblendet wurde. Vor allem ihre Arbeitsmobilisierung seit September 1941 und der aufopferungsvolle Einsatz im Hinterland im Rahmen der sogenannten "Trudarmija" (Arbeitsarmee) fanden in wissenschaftlichen und enzyklopädischen Werken, in musealen und künstlerischen Repräsentationen, in russischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften oder im Fernseh- und Filmproduktionen keine Erwähnung. In einigen auflagestarken publizistischen und literarischen Werken kamen die "einheimischen Deutschen" als moralisch fragwürdige, antisowjetisch eingestellte und dem russischen Volk und Staat feindlich gesinnte Personen vor.
Die Nachkriegszeit war zusätzlich durch gravierende Benachteiligungen im soziokulturellen und im Bildungsbereich gekennzeichnet. So erlebten die Deutschen in der UdSSR eine starke intellektuelle Rückentwicklung: Diejenige Nationalität, die nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939 fast vollständig lese- und schreibkundig gewesen war und zu den am besten ausgebildeten Völkern gezählt hatte, verzeichnete 50 Jahre später (Zensus 1989) im Vergleich zu anderen Nationalitäten der Sowjetunion den geringsten Anteil an Menschen mit akademischen Abschlüssen.
1.1 Die Reaktionen der Betroffenen fielen unterschiedlich aus: Zum einen handelte es sich um die Bewegung zur Wiederherstellung der autonomen Republik, die insbesondere in den 1960er Jahren breite Massen erfasste (Autonomiebewegung). Die Forderung nach der Wiedererrichtung der 1941 gesetzwidrig liquidierten ASSR der Wolgadeutschen (ASSRdWD) war deshalb so wichtig, weil in der Sowjetunion die politische Interessenvertretung auf lokaler und Unionsebene, die Förderung der nationalen Sprache und Kultur sowie sozioökonomische Entwicklungsmöglichkeiten mit dem Vorhandensein eines nationalen Territoriums eng verbunden waren. Das Fehlen eines staatlich anerkannten "Siedlungsgebiets" barg in der UdSSR und birgt bis heute in der Russländischen Föderation schwerwiegende Nachteile.
Hier lassen sich gewisse Parallelen zu der krim-tatarischen Nationalbewegung erblicken, die ebenfalls um das Rückkehrrecht in die traditionellen Siedlungsgebiete und um die Neugründung der Krimer ASSR kämpfte, allerdings wesentlich entschlossener und einheitlicher, als es unter den Deutschen der Fall war. Bei letzteren spielten etwa die Emigrationsbestrebungen eine ebenso wichtige Rolle, auch die konfessionelle Spaltung in Katholiken, Lutheraner und ev.-freikirchliche Gemeinden stand einer einheitlichen Vorgehensweise im Weg.
Bislang ist über die Kontakte der Autonomiebefürworter zu anderen Nationalbewegungen mit ähnlichen Problemlagen, etwa zu der krim-tatarischen, oder zu sowjetischen Oppositionellen und Bürgerrechtlern wenig bekannt. Das lässt sich zu einem guten Teil damit erklären, dass die sowjetische Dissidentenszene in den 1960er Jahren noch im Entstehen war – sie entfaltete ihre vielschichtigen Aktivitäten vor allem in den 1970er Jahren. Sicher gab es auch andere Gründe. Soweit bekannt, hat von den sowjetischen Oppositionellen, kritischen Intellektuellen und Menschenrechtlern lediglich Alexej Kosterin für die Deutschen Partei ergriffen und ihre Bemühungen in der Autonomiefrage unterstützt. Nach Ansicht des KGB trug die deutsche national-kulturelle Bewegung zwar "einen politisch schädlichen Charakter", aber verfolgte keine "antisowjetischen Ziele". Deshalb hat man vor der strafrechtlichen Verfolgung der Autonomieanhänger weitgehend abgesehen, aber eine ganze Palette von "vorbeugend-prophylaktischen Maßnahmen" gegen sie ergriffen. Die Aktivisten wurden von den KGB-, Staats- und Parteiorganen, von gesellschaftlichen Organisationen und Arbeitskollektiven eingeschüchtert, unter Druck gesetzt und als Nationalisten diffamiert. Sie wurden ständig überwacht, ihre Post regelmäßig abgefangen und durchsucht. Immer wieder zitierten Republik- und Gebietsstaatsanwaltschaften und Parteikomitees verschiedener Ebenen die widerspenstigen Deutschen herbei und drohten mit Repressalien, falls diese nicht von ihrem "gesellschaftlich-schädlichen Treiben" Abstand nähmen. Der Parteiausschluss war ein weiteres bewährtes Mittel, prominente Kritiker zu diskreditieren.
Ungeachtet zahlreicher Petitionen und mehrerer Delegationen der Deutschen nach Moskau blieb in Bezug auf die Wiederherstellung der Wolgarepublik die restriktive Haltung der Sowjetführung unverändert. Das führte nicht nur zu Resignation und zum Rückzug ins Private, sondern leitete einen Gesinnungswandel ein, von einer im Grunde genommen prosowjetischen zu einer prowestlichen Haltung, machte aus einem durchaus systemloyalen Menschen einen möglichen Oppositionellen, einen potenziellen Emigranten. Somit endete zu Beginn der 1970er Jahre die erste Periode der deutschen Autonomiebewegung. Zu neuen Aktivitäten kam es erst seit Mitte der Achtziger Jahre, mit den sich abzeichnenden Reformbemühungen nach dem Tod der greisen Generalsekretäre der KPdSU Leonid Breschnew (1982) und Konstantin Tschernenko (1984).
1.2 Die Ausreisebewegung bekam zunehmend Zulauf und Unterstützung. Die "Emigrationsstimmungen", so im Propagandarussisch, waren vornehmlich unter den sogenannten Administrativumsiedlern und ihren Nachkommen weit verbreitet. Dazu zählten hauptsächlich solche Schwarzmeerdeutsche, die 1941 unter reichsdeutsche bzw. rumänische Besatzung gerieten und 1943-1944 mehrheitlich in das völkerrechtswidrig annektierte Warthegau umgesiedelt wurden. Fast allen wurde in dieser Zeit die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen. Die Sowjetunion akzeptierte diese Sammeleinbürgerung nie und "repatriierte" diese Menschen – insgesamt mehr als 200 000 – größtenteils gegen ihren Willen zurück in die UdSSR, aber nicht in ihre ukrainischen Heimatorte, sondern verbannte sie nach Sibirien, in den Hohen Norden, nach Zentralasien und in das Gebiet am Oberlauf der Flüsse Kama und Wolga. Die Bundesrepublik erkannte als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches diesen Personenkreis im Februar 1955 als "Deutsche im Sinne des Grundgesetzes" an. Somit durften sie als Vertriebene bzw. als Aussiedler in die Bundesrepublik ausreisen. In den Verbannungsorten "verschwägerten" sich diese potentiellen deutschen Staatsbürger mit anderen Gruppen der Russlanddeutschen, so dass sich der Kreis der Rückkehrberechtigten im Laufe der Zeit stark vergrößerte.
Nach der Auflösung der Sonderkommandanturen des Innenministeriums und der Aufhebung des Sondersiedlerstatus Ende 1955 zogen die meisten in der Russländischen Unionsrepublik untergebrachten "Repatriierten" nach Zentral- und Südkasachstan und in andere zentralasiatische Unionsrepubliken, vor allem nach Kirgisien. Dort fanden sie ähnliche klimatische Bedingungen und vertraute Beschäftigungen in verschiedenen ländlichen Ortschaften und sogar einigen Städten (Karaganda, Frunse/Kirgisien oder Issyk/Gebiet Alma-Ata) vor, die bereits einen hohen Anteil an Landsleuten aufwiesen. Nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen UdSSR–BRD im Jahr 1955 und einer begrenzten Zulassung des Schriftverkehrs mit dem westlichen Ausland sammelten sich in der Deutschen Botschaft bis 1957 Anträge von über 80 000 erwachsenen Ausreisewilligen; bis Ende der Sechziger Jahre durften allerdings nur einige Tausend das Land verlassen.
Dabei sollte folgende Besonderheit der bis Ende der Sowjetunion geltenden Rechtslage berücksichtigt werden: die Emigration durfte nur im Rahmen der Familienzusammenführung stattfinden, das heißt, dass nur solche Sowjetbürger einen Antrag zur ständigen Wohnsitznahme im Ausland stellen konnten, die dort einen Verwandten ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) hatten, der ihnen eine Einladung schicken durfte. Die zuständigen OWIR-Behörden (Abteilungen für Visen und Erlaubnisse) verhielt sich sehr restriktiv; Absagegründe wurden nicht mitgeteilt und konnten deshalb auch gerichtlich nicht angefochten werden. In der Regel mussten Ausreisewillige mehrere Anträge stellen und jahre-, oft jahrzehntelang auf die amtliche Erlaubnis warten.
Insbesondere nach dem Scheitern der Bemühungen um das Erlangen der national-kulturellen Gleichberechtigung durch die Wiederherstellung der Autonomen Republik und mit dem Ausbleiben des finanziell und materiell abgesicherten Kompensations- und Rücksiedlungsprogramms, verstärkten sich seit Anfang der 1970er Jahre der Wunsch auch enttäuschter einstiger Autonomieanhänger nach Rückkehr in die historische Heimat. Hier hoffte man endlich als "Gleiche unter Gleichen" (ausgesprochen auch als "Deutsche unter Deutschen") leben zu können. Zu solch einem Stimmungs- und Identitätswandel haben auch die veränderten Innen- und außenpolitischen Bedingungen beigetragen, u.a. die Normalisierung der Beziehungen mit der Bundesrepublik ("Moskauer Verträge") und die Verabschiedung von KSZE-Abschlussdokumenten in Helsinki 1975. Um den Druck auf die Behörden zu erhöhen, sich vor den staatlich organisierten Schikanen besser zu schützen und das Ausland auf ihre Lage aufmerksam zu machen, verschickten russlanddeutsche Aktivisten individuelle und kollektive Beschwerden nicht nur an sowjetische Adressaten, sondern sprachen nun auch gezielt bundesdeutsche Politiker, Presseorgane und Institutionen, internationale Menschenrechtsorganisationen bis hin zu den Vereinten Nationen an. In den 1970er Jahren kam es zu zunehmend sichtbaren kollektiven Aktionen: Gründungen verschiedener Komitees und Vereinigungen, demonstrative Besuche der westdeutschen Botschaft, Ansammlung in größeren Gruppen vor OWIR-Behörden und vor Republikparteizentralen in Frunse/Kirgisien bzw. in Duschanbe/Tadschikistan mit Forderungen positiver Ausreisebescheide, Sitzblockaden etwa in Estland und in Moskau, Demonstrationen auf dem Roten Platz und anderen prominenten Orten.
In ihren Bemühungen erfuhr die deutsche Ausreisebewegung eine starke Unterstützung durch die politische Opposition in der UdSSR als Teil des Kampfes um die Bürger- und Menschenrechte. Gerade in diesen Entspannungsjahren entfaltete sich die sowjetische Dissidentenbewegung, was sich u.a. in der Gründung des "Komitees für Menschenrechte in der UdSSR" am 4. November 1970 oder der "Gruppe zur Förderung der Erfüllung der Beschlüsse von Helsinki in der Sowjetunion" (Moskauer Helsinki-Gruppe) am 12. Mai 1976 zeigte.
Einer der prominentesten Unterstützer der bedrängten Deutschen war der herausragende Wissenschaftler, Dissident und Nobelpreisträger Andrej Sacharow. In mehreren Eingaben an höchste sowjetische Stellen und in Appellen an ausländische Regierungen und internationale Organisationen machte er die Unterdrückung der deutschen Minderheit publik:
Die deutsche Emigration basiert auf dem natürlichen Wunsch der Menschen, in das Land ihrer Vorfahren überzusiedeln und an ihrer Kultur, Sprache, den wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften teilzuhaben. Nicht minder natürlich ist der Wunsch, ein solches Land zu verlassen, in dem ihr Volk ungeheuerlichen Repressalien – faktisch einem Genozid – ausgesetzt war, wo sie bis heute diskriminiert, im Bildungsbereich und in der Berufswahl eingeschränkt werden. Hunderttausende Deutsche starben in den Lagern und den Reservationen [d.h. Sondersiedlungen], bis heute dürfen sie nicht an ihre ehemaligen Wohnorte zurückkehren, immer noch gibt es unter ihnen fast keine Personen mit akademischer Bildung, noch heute kann ein deutsches Schulkind von seinen Schulkameraden, die zur Genüge Kriegsfilme zu sehen bekommen, als Faschist diffamiert werden.
Die Ausreisebewegung wurde in all den Jahren zum Beweis eines nicht versiegenden Freiheitsdrangs, der die ideologischen Säulen der sozialistischen Gesellschaftsordnung (Internationalismus, Völkerfreundschaft, Gleichberechtigung etc.) in den Augen nicht nur der sowjetischen Bevölkerung, sondern auch der ausländischen Öffentlichkeit als Propagandalügen bloßstellte. Deshalb war eine Antragstellung, v. a. zur Übersiedlung in das verhasste revanchistische Westdeutschland, in den Augen der Sowjetoffiziellen eine schwerwiegende antisowjetische Tat, trotz aller Lippenbekenntnisse zu Menschenrechten und völkerrechtlichen Verträgen, etwa der Schlussakte von Helsinki, die die Sowjetunion 1975 unterschrieben hat. Immerhin haben bis 1986 insgesamt 95 107 Personen ihre Aussiedlung in die Bundesrepublik ertrotzt.
Der Preis dafür war sehr hoch: Unvollständigen Angaben zufolge wurden seit 1972 nicht weniger als 86 Personen für ihre Ausreisebemühungen strafrechtlich belangt und abgeurteilt, davon endeten zwei in einer psychiatrischen Anstalt, ein Ausreisewilliger wurde ermordet und ein weiterer verstarb im Straflager. Tausende Aktivisten mussten häusliche Durchsuchungen, eine ständige Observierung, physische und psychische Gewalt, verleumderische Pressekampagnen, Berufs- und Studiumsverbote, "prophylaktische" Maßnahmen der KGB-Organe oder der Staatsanwaltschaft, nicht zuletzt auch den geballten Hass aufgehetzter Arbeitskollegen über sich ergehen lassen.
1.3 Eine nicht zu übersehende Ausdrucksform der Unzufriedenheit und der Nonkonformität stellte schließlich die Hinwendung zum Glauben dar. Schon kurz nach dem Kriegsende, aber vor allem nach der Aufhebung des Regimes der Sondersiedlungen Mitte der 1950er Jahre erfasste die deutsche Bevölkerung eine Welle der Besinnung und Rückkehr zu religiösen Werten, die in diesem Ausmaß wohl einmalig in der UdSSR war. Im Ural und in Sibirien, aber vor allem in Kirgisien und Kasachstan entstanden hunderte katholische, evangelisch-lutherische und insbesondere freikirchliche Gemeinden, die ein rasches Wachstum verzeichneten. Die ausgebliebene politische Gleichstellung und die geringen sprachlich-kulturellen Möglichkeiten, die psychologische Last der ungesühnten stalinistischen Verbrechen und spürbare antideutsche Feindseligkeiten führten neben dem Leid und der Trauer um die umgekommenen Angehörigen dazu, dass sich bei einem beträchtlichen Teil der Minderheit eine starke Abneigung zu den moralisch-politischen Werten der sozialistischen Gesellschaft und zu ihren Institutionen und Trägern entwickelte. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass sich die gesellschaftlichen Aktivitäten der Russlanddeutschen überdurchschnittlich oft in religiösen Gemeinden abspielten. Zudem waren sie praktisch die einzige Institution, in der Deutsch als liturgische Sprache noch eine wahrnehmbare Rolle spielte.
Laut behördlicher Angaben stellten Anfang der 1980er Jahre die Deutschen in Kirgisien in den registrierten und nichtregistrierten freikirchlichen Gemeinden (Baptisten, Initiativ-Baptisten, Mennoniten, Adventisten, Pfingstler, Zeugen Jehovas u.a.) entsprechend 72 und 83 Prozent der Mitglieder. In Kasachstan waren zu dieser Zeit um die 20 Prozent der insgesamt erfassten Gläubigen Nachfahren deutscher Siedler, bei einem Anteil von nur 6 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Republik.
In der Sowjetunion, in der die marxistisch-leninistische Ideologie mit ihrem Atheismus als einzige offizielle Staats- und Parteidoktrin galt, bedeutete ein öffentliches Bekenntnis zum Glauben einen schwerwiegenden Verstoß gegen die bestehende gesellschaftspolitische Ordnung. Die sowjetische Kirchenpolitik kritisierten die Anhänger des Zentralrats der Kirchen der Initiativ-Baptisten, die sich 1961 von dem offiziellen Bund der Baptisten abspalteten, besonders scharf. Die deutschen Christen stellten dort – neben den russischen und ukrainischen Brüdern – einen überdurchschnittlichen Anteil an Gemeindemitgliedern. Zusammen mit vielen mennonitischen Brüdergemeinden zeichneten sie sich durch eine aktive kirchliche Opposition aus. Sie forderten eine Nichteinmischung in die kirchlichen Angelegenheiten seitens der staatlichen Stellen, praktizierten trotz gesetzlicher Verbote die Unterweisung der Kinder in der Glaubenslehre. Mit dem unabhängigen Verlag "Christianin" (Christenmensch) , mit mehreren Untergrunddruckereien, der Samisdat-Zeitschrift "Bulletin der Verwandten von Inhaftierten der ev. Christen-Baptisten in der UdSSR" usw. entfalteten die Initiativ-Baptisten eine rege politische und verlegerische Tätigkeit. Ferner lehnten solche freikirchlichen Gemeinden den Militärdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen ab, folgten nicht dem Missionierungsverbot, appellierten an die internationale Öffentlichkeit und wussten die sowjetischen Menschenrechtsaktivisten auf ihre Belange aufmerksam zu machen.
Aus diesem Grund mussten Dutzende Prediger und einfache Gläubige mehrere Jahre im Straflager für ihre religiösen Überzeugungen verbüßen; Zigtausende erlebten administrative und polizeiliche Schikanen, Entzug des elterlichen Sorgerechts, hohe Geldstrafen, körperliche und verbale Gewalt.
Mit ihrem hartnäckigen Einfordern der religiösen, bürgerlichen und national-kulturellen Rechte leisteten die Russlanddeutschen einen wichtigen Beitrag zur Delegitimierung und letztendlich zum Zusammenbruch des sozialistischen Unrechtsstaates UdSSR.
Dr. Viktor Krieger wurde 1959 im Gebiet Dschambul, Kasachstan, geboren. Er studierte in Nowosibirsk und promovierte über deutsche Siedler in Kasachstan zur Zarenzeit an der Akademie der Wissenschaften in Alma- Ata. 1991 siedelte er nach Deutschland über. 1992-93 war er im Generallandesarchiv Karlsruhe beschäftigt. Zurzeit freiberuflicher Historiker und Lehrbeauftragter des Historischen Seminars an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen im Kontext der multikulturellen und -konfessionellen Vielvölkerstaaten Russland und die Sowjetunion, insbesondere in Zentralasien seit Ende des 19. Jh. bis heute.
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