Begriffsbestimmung
Unter dem Begriff russlanddeutsche Literatur können literarische Texte zusammengefasst werden, die thematisch auf Aspekte der russlanddeutschen Geschichte von der Kolonisierung im 18. Jahrhundert bis zur Aussiedlung in die Bundesrepublik in den 1990er Jahren Bezug nehmen
Das Themenspektrum der russlanddeutschen Literatur greift bestimmte gruppenkonstitutive Narrative auf, wie beispielsweise die Ansiedlung in den zaristischen Gebieten unter der Herrschaft Katharinas II. sowie Lebens- und Alltagswelt der ländlichen Bevölkerung. Mit Blick auf das 20. Jahrhundert stehen vor allem die Deportations- und Diskriminierungserfahrungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt der literarischen Darstellungen. Weitere Themen der russlanddeutschen Literatur sind die Auseinandersetzung mit interkulturellen Aspekten der beiden Herkunfts- und Aufnahmegesellschaften, der russischen bzw. sowjetischen und der deutschen, sowie vereinzelt auch die Reflexion geistlicher und religiöser Traditionen, wie beispielsweise der Blick auf die Literatur russlanddeutscher Mennoniten zeigt.
Die russlanddeutsche Literatur umfasst zunächst "jene Auswahl von Texten, die seit der Ansiedlung unter Katharina d. Gr. [...] in den über das Russische Reich verstreuten Sprachinseln entstand"
Im Überblick über die russlanddeutsche Literaturgeschichte lassen sich unterschiedliche kulturgeschichtliche Entstehungsbedingungen differenzieren. Die in der Sowjetunion entstandene russlanddeutsche Literatur wird als sowjetdeutsche Literatur bezeichnet. Die Attribute russlanddeutsch und sowjetdeutsch verweisen somit auf die unterschiedlichen Entstehungsorte und -zeitpunkte der jeweiligen Texte. Die sowjetdeutsche Literatur umfasst jene Texte, die in der ehemaligen UdSSR im Zeitraum zwischen 1917 und 1991 aus einem Zugehörigkeitsbewusstsein zur deutschen Herkunftskultur verfasst und veröffentlicht wurden. Dagegen bezieht sich der Begriff russlanddeutsche Literatur zum einen auf die literarische Textproduktion von Deutschstämmigen vor der Oktoberrevolution, zum anderen auf diejenigen Texte, die von den Autorinnen und Autoren seit ihrer Rückwanderung als Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler in Deutschland verfasst werden.
Von der Kolonisierung zur Rückkehr in die historische Heimat. Phasen der russlanddeutschen Literaturgeschichte
Die ersten Texte, die zur russlanddeutschen Literatur gezählt werden können, entstehen im Umfeld der beginnenden Einwanderung im ausgehenden 18. Jahrhundert, nachdem Katharina II. im Rahmen ihrer Peuplierungspolitik mit ihrem Einladungsmanifest vom 22. Juli 1763 um die Ansiedlung deutscher Bauern geworben hatte.
Alexander Ritter unterteilt in seiner 1974 in der Bundesrepublik erschienenen Anthologie drei literaturgeschichtliche Phasen
Herold Belger verweist in seiner Zusammenstellung russlanddeutscher Autorinnen und Autoren von den Anfängen bis zur Gegenwart allerdings darauf, dass für die Zeitspanne bis 1870 eine kaum nennenswerte Anzahl in Buchform veröffentlichter Publikationen vorliegt.
Eine zweite literaturgeschichtliche Phase umfasst nach Ritter den Zeitraum von 1917 bis 1941.
Im anschließenden Zeitraum der Jahre von 1941 bis 1955 kommt die literarische Textproduktion in der öffentlichen Wahrnehmung weitestgehend zum Erliegen: Mit dem Inkrafttreten des offiziellen Deportationserlasses vom 28. August 1941 werden die Angehörigen der deutschen Volksgruppe im Zuge des Vorwurfs der Kollaboration mit dem NS-Regime in entlegene Gebiete des sowjetischen Reichs deportiert oder zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Die darauffolgende literaturgeschichtliche Phase setzt demnach im zeitlichen Umfeld der 1955 eingeleiteten und 1964 vom Obersten Sowjet unterzeichneten Teilrehabilitierung ein
Literarische und literaturtheoretische Texte sowjetdeutscher Autorinnen und Autoren werden in Zeitschriften bereits seit den 1920er Jahren veröffentlicht. Als erste bedeutende Zeitschrift erscheint in den Jahren 1926 bis 1939 die Deutsche Zentralzeitung in Moskau. Daneben wird im ukrainischen Charkow von 1930 bis 1935 als das "einzige deutsche Literaturjournal in der Sowjetunion"
Angesichts der über große geographische Distanzen innerhalb der Sowjetunion zerstreuten Bevölkerungsgruppe, deren kulturelle Zentren vor allem die Ukraine, Kasachstan und einige Gebiete Sibiriens bilden, kann kaum von einer homogenen literarischen Entwicklung gesprochen werden.
Die letzte Phase russlanddeutscher Literaturgeschichte kann vom Ende der 1980er Jahre bis in die Gegenwart datiert werden. Im Umfeld der Ereignisse der Deutschen Wiedervereinigung und dem Zerfall der Sowjetunion entschließen sich auch viele russlanddeutsche Autorinnen und Autoren in die "historische Heimat" zurückzukehren.
Thematisch wird darin häufig Bezug genommen auf autobiographische Erfahrungen, in denen rückblickend die sowjetische Lebenswelt mit den Herausforderungen der Ankunft in der Aufnahmegesellschaft in Deutschland kontrastiert wird.
Individuelle Erinnerung und kollektive Identität. Thematische Aspekte russlanddeutscher Literatur
Holger Belger fasst das Kollektiv der russlanddeutschen Autorinnen und Autoren zusammen als "Vertreter jener Literatur, die das Leben, die Kultur und Geschichte, das Schicksal und die Mentalität dieses Ethnos widerspiegelt"
Analog zur Literaturgeschichte zeigt sich, inwiefern die historischen und politischen Rahmenbedingungen Form und Inhalt der Texte prägen. Einen bedeutenden formalen Aspekt stellt für die russlanddeutsche Literatur die Mehrsprachigkeit dar.
Die zweite Generation, zu der die in den 1930er- bis 1950er-Jahren in der Sowjetunion geborenen Autorinnen und Autoren wie Nelly Däs (1930) und Viktor Heinz (1937 - 2013) gezählt werden können, veröffentlicht ihre Werke vorwiegend bilingual in russischer und deutscher Sprache. Darin zeigt sich zum einen das Bestreben, die eigenen literarischen Werke auf dem sowjetischen Literaturmarkt zu etablieren und die Texte auch dem russischsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Zum anderen erhält das Deutsche zunehmend den Status einer Sprache in der Diaspora. Während die institutionelle Förderung der Sprache schwindet, wird sie in der Literatur bewahrt und dient teilweise als nostalgische Referenz der spezifischen kulturellen Identität. Die literarischen Texte der in Deutschland lebenden Autorinnen und Autoren der dritten Generation, wie Eleonora Hummel (1970) oder Viktor Funk (1978), markieren die Rückkehr zur Monolingualität: diese Generation von Schreibenden veröffentlicht ihre Werke ausschließlich in deutscher Sprache, wobei die Texte den Sprachenwechsel häufig thematisieren und die Interlingualität u.a. durch den Gebrauch einzelner russischer Wörter oder Phrasen in den Texten weiterhin präsent ist. Das Thema der sprachlichen Pluralität stellt somit neben dem Fokus auf die Migrations- und Deportationshistorie einen Schwerpunkt der russlanddeutschen Literatur dar. Die Annäherung an die Bestimmung einer kollektiven Identität erfolgt in den Texten in hohem Maße über die Auseinandersetzung mit kollektiven Zugehörigkeiten. Der in den Texten antizipierte Bezug zur deutschen und russischen Gesellschaft zeichnet ein komplexes Bild des Zugehörigkeitsempfindens vieler Russlanddeutscher. Während die russlanddeutsche Literatur in der Sowjetunion maßgeblich auf die deutsche Herkunft als identitätsstiftende Basis des Kollektivs referiert, nehmen die aus dem Selbstverständnis der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern in Deutschland verfassten Texte vor allem Bezug auf Russland als Diaspora- und Herkunftsland.
Gruppenkonstitutive Ursprungs- und Heimatkonzepte
Demnach spiegeln die Texte unterschiedliche gruppenkonstitutive Ursprungs- und Heimatkonzepte. Welche konkrete Füllung der Begriff jeweils beinhaltet, hängt dabei von der Entstehungszeit und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab: so bezeichnet Heimat teilweise die Sehnsucht nach einem abstrakten, imaginierten oder auch transzendentalen Ursprung, teilweise aber auch konkrete, real existierende Orte der familiengeschichtlichen Herkunft.
In einigen Texten russlanddeutscher Autorinnen und Autoren ist das Konzept Heimat eng mit dem geographischen Raum der Wolgaregion und dem politischen Gebiet der ehemaligen Wolgarepublik verbunden. Die Wolga erscheint darin als zentrale Metapher für Heimat und damit den Ursprung der eigenen Lebensgeschichte.
Das in russlanddeutscher Literatur veranschaulichte Heimatkonzept verweist vielfältig auf das Bedürfnis nach eindeutiger Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Kollektiv. Eine Aussage beispielsweise der zwölfjährigen Protagonistin Alina Schmidt in Eleonora Hummels Roman Die Fische von Berlin aus dem Jahr 2005 führt den inneren Konflikt vor Augen, der sich aus russlanddeutscher Perspektive in der Auseinandersetzung mit Konzepten von Heimat und Zugehörigkeit ergibt. In einem Gespräch mit ihrer Schwester, kurz vor der Umsiedlung von Kasachstan nach Deutschland, sagt Alina: "[D]ort leben, wo andere sind wie ich, das möchte ich gern."
Hinsichtlich der Frage nach einer Kollektividentität der Russlanddeutschen spielt die Selbstbestimmung als nationale bzw. ethnische Minderheit eine entscheidende Rolle. Die Gruppe der Russlanddeutschen konstituiert sich im gesellschaftspolitischen Diskurs auch heute noch maßgeblich über die gewaltbesetzte Vergangenheitserfahrung der Deportationen, Enteignungen und Diskriminierungen, denen sie als Volksgruppe in der Sowjetunion ausgesetzt war. In diesem Sinne ist die Thematisierung und Aufarbeitung der über Jahrzehnte in der Sowjetunion verschwiegenen Erfahrungen ein zentraler Bestandteil der kollektiven Identitätszuschreibung.
Eleonora Hummel und Artur Rosenstein verweisen in der Einleitung zur 2016 erschienenen Anthologie Deutsche Autoren aus Russland auf die Einzigartigkeit der literarischen Stoffe und die Vielschichtigkeit russlanddeutscher Texte, insofern sich darin ein Bekenntnis zu den spezifischen Erfahrungen einer Bevölkerungsminderheit ablesen lässt.
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