"An einem See hatten am Samstag zwei Gruppen - Russlanddeutsche und Skinheads - zunächst friedlich nebeneinander gefeiert", berichtete am 23. August 2009 BILD.de über eine schief gelaufene Geburtstagsfeier in Duisburg. "Nach dem Genuss von reichlich Alkohol" habe es eine Massenschlägerei gegeben. Diese Wortwahl, die den Eindruck erweckt, es handle sich bei den Russlanddeutschen um eine Art kriminelle Vereinigung, ist kein Zufall und auch keineswegs eine exklusive Einstellung des Boulevardmediums. Vielmehr steht sie exemplarisch für viele Berichte über russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler.
Die Bevölkerungsgruppe ist mittlerweile verstärkt im Zusammenhang mit russischer Einflussnahme und dem Aufstieg der Rechtspopulisten im Fokus der deutschen Medien. Dies hat mit den Ereignissen um die erfundene Vergewaltigung des russlanddeutschen Mädchens Lisa Anfang 2016 und den Wahlerfolgen der AfD in einigen von russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern geprägten Wohngebieten bei Landtagswahlen sowie der Bundestagswahl 2017 zu tun. Zur Pflichtformel der Berichterstattung wurde die Behauptung, Russlanddeutsche hätten lange als bestens integriert und völlig unauffällig gegolten.
Für die deutsche Politik mag diese Behauptung zwar zutreffen, schließlich sah sie nach dem Ende der Masseneinwanderung der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion keinen dringenden Handlungsbedarf mehr und beschäftigte sich folglich kaum noch mit dem Thema. In den Medien hingegen waren die Russlanddeutschen auch in der Zeit zwischen Mitte der 1990er-Jahre und Anfang 2016 durchaus präsent. Und zwar, wie das obige Beispiel verdeutlicht, vornehmlich im Kontext von Kriminalität und Integrationsproblemen. Eine Recherche in Online-Archiven führender deutscher Medien unterschiedlicher Ausrichtungen (Spiegel, Focus, BILD, Zeit, Welt, FAZ, SZ, Tagesspiegel, sowie öffentlich-rechtlicher Sender) zeigt, dass die Begriffe Russlanddeutsche, Wolgadeutsche, (Spät-)Aussiedler, Deutsche aus Russland fast nur in diesen Kontexten auftauchen mit sehr wenigen Ausnahmen, auf die in diesem Text später eingegangen wird.
Mörder, Gangster, Schwulenfeinde
In einer Sendung des BR aus dem Jahr 2013 hieß es: "Isolation, Arbeitslosigkeit [sind] Faktoren, die vor allem junge Russlanddeutsche zum Griff zur Flasche verleiten oder in die Kriminalität treiben". Der Bericht erzählte über die Integrationsarbeit des Evangelischen Aussiedlerforums im Pius-Viertel in Ingolstadt, das sich zu "einer Art Ghetto" entwickelt haben soll. Die Süddeutsche Zeitung berichtete 2010 über Probleme in Ingolstadt und anderen Orten: "Auch Augsburg hat mit der Integration von Aussiedlern zu kämpfen. Etwa 30.000 Russlanddeutsche leben in der Stadt mit 260000 Einwohnern - überdurchschnittlich viele es haben sich längst Parallelgesellschaften herausgebildet."
"Knapp 1000 der mehr als 12.000 Häftlinge in Bayern sind Russlanddeutsche. Sie sind wegen ihrer Gewaltbereitschaft gefürchtet", hieß es im Bericht der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2012 über den "Russenmafia-Prozess von Regensburg". "In der Justizvollzugsanstalt Freiburg (Baden-Württemberg) haben sich über mehrere Tage etwa 70 Häftlinge geweigert, das Essen aus der Anstaltsküche zu essen, weil es von einem homosexuellen Koch zubereitet wurde. Bei den Häftlingen […] soll es sich größtenteils um Russlanddeutsche gehandelt haben", erzählte 2015 die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Die bereits zitierte BILD.de erwähnt Deutsche aus Russland wie selbstverständlich im Zusammenhang mit Ausländerkriminalität: "Weiterer Beleg für die höhere Kriminellenquote unter Angehörigen anderer Kulturkreise: Mehr als ein Fünftel der Strafgefangenen in deutschen Gefängnissen hat einen ausländischen Pass – bei einem Bevölkerungsanteil von einem Elftel. Hinzukommt ein ebenfalls überdurchschnittlicher Anteil an Spätaussiedlern ("Russlanddeutsche")". Der Grund für diese Publikation war ein Interview des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch; der CDU-Politiker behauptete, man habe in Deutschland "aus multi-kultureller Verblendung" bestimmte Verhaltensweisen bei gewaltbereiten Ausländern toleriert.
Frust und "Multikultischeiße"
Den Höhepunkt an Intensität erreichte die Berichterstattung über Russlanddeutsche in den Jahren 2008 und 2009 im Zusammenhang mit zwei aufsehenerregenden Mordprozessen; in einem davon wurde ebenfalls viel über "Multi-Kulti" gesprochen. In beiden Fällen waren die Angeklagten Russlanddeutsche, in beiden Fällen wurde ihre Herkunft thematisiert und ausführlich über ihre familiären Hintergründe, Lebensumstände und Migrationserfahrungen berichtet, beide wurden zu lebenslanger Haft verurteilt.
Im Juli 2009 griff der 28-jährige Aussiedler aus Russland Alex Wiens die ägyptischen Eheleute Marwa El- Sherbini und Elwy Ali Okaz im Gerichtssaal des Dresdner Landgerichts mit einem Messer an. Die 31-jährige Apothekerin, die im dritten Monat schwanger war, erlitt 16 Stichverletzungen und starb noch am Tatort. Ihr Mann, ein Doktorand am Max-Plank-Institut in Dresden, hat die Messerattacke schwer verletzt überlebt. In der Berufungsverhandlung war es um die Geldstrafe wegen Beleidigung gegangen, die gegen Alex Wiens verhängt worden war: Er hatte auf einem Spielplatz Marwa El-Sherbini wegen ihres Kopftuchs als Islamistin und Terroristin beschimpft.
Während einige Medien, wie zum Beispiel Die Zeit und Der Tagesspiegel, sich offenbar dafür entschieden, die Herkunft und den Hintergrund des Täters nicht zu erwähnen, wurden sie in den meisten Berichten betont und ausführlich geschildert: "So treffen an jenem 21. August die hoffnungsvolle Ägypterin und der frustrierte Russlanddeutsche aufeinander". Der Täter habe laut Anklage aus Hass auf Nichteuropäer und Muslime gehandelt. Der gelernte Elektromonteur, der im russischen Perm als Alexander Nelsin geboren wurde, kam mit 23 Jahren nach Deutschland, habe sich sehr bemüht, sehr gut Deutsch zu lernen, sei aber vom Leben in Deutschland wegen der "Multikultischeiße" enttäuscht gewesen, so die Richterin Birgit Wiegand nach der Urteilsverkündung. "In erster Linie habe er Muslime verachtet", sagte Wiegand. Dass er selbst anderer Herkunft sei, habe er verdrängt. Dass er ein perfekter Deutscher sein wollte, sei eine "utopische Vorstellung" gewesen". Der Ausdruck "andere Herkunft" deutet auf unüberwindbare Differenzen und nicht etwa bloß auf den Geburtsort außerhalb der Bundesrepublik hin; dass es für Russlanddeutsche ohne Weiteres zutrifft, klingt sowohl für die Richterin, als auch für das Medium, das ihre Worte zitiert, wie eine Selbstverständlichkeit.
Der andere Täter soll ebenfalls aus Frust gehandelt haben, doch im Gegensatz zu Alex Wiens soll es ihm nie darum gegangen sein, sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen. In März 2008 warf der 30-jahrige heroinabhängige Kleinkriminelle Nikolai H. einen sechs Kilo schweren Holzklotz von einer Brücke auf die Autobahn und traf damit ein vorbeifahrendes Auto. Die Tat ereignete sich in der Nähe von Osnabrück, im Auto befand sich ein Ehepaar mit zwei Kindern. Die 33-jährige Olga K., die auf dem Beifahrersitz saß, war auf der Stelle tot.
Sowohl der Täter, als auch seine Opfer kamen nach Deutschland aus Kasachstan. Eines der Verhandlungsthemen im Prozess waren die schlechten Deutschkenntnisse des Angeklagten. Nikolai H., der bereits seit 14 Jahren in Deutschland lebte, verlangte nach einem Dolmetscher. Das Gericht lehnte es ab: Ein Deutscher soll eben Deutsch können. "Deutschlands bekannteste Gerichtsreporterin" Gisela Friedrichsen berichtete aus der Verhandlung: "Bis 2003 lebte [Nikolai H.] im Haushalt seiner Eltern, wo stets russisch gesprochen wurde. Auch mit seinen wenigen russisch-stämmigen Freunden spricht er nicht deutsch, sondern russisch. Wenn er schimpfe, so seine Verteidiger, schimpfe er auf russisch. Wenn er träumt, träumt er russisch. Deutscher ist er nur auf dem Papier".
Die Herkunft des Täters spielte in der Berichterstattung insgesamt keine große Rolle, in vielen Meldungen wurde sie gar nicht erwähnt, und wenn schon, dann folgten die Berichterstatter oft der Formel der Verteidigung: "Deutscher nur auf dem Papier": Mal wurde Nikolai K. als Deutsch-Kasache bezeichnet, mal als "Kasache mit deutschem Pass".
"Russen stehen schon in Startlöchern"
Diese begriffliche Verwirrung in Bezug auf deutschstämmige Aussiedler und Spätaussiedler aus der ehemaligen UdSSR ist in den deutschen Medien nicht ungewöhnlich; häufig werden die Begriffe Russlanddeutsche, Deutsch-Russen, Deutsch-Kasachen, Deutsch-Usbeken usw. synonym verwendet. Nach einem ähnlichen Prinzip werden manchmal auch die in die Bundesrepublik übergesiedelten Angehörigen der deutschen Minderheiten aus Polen oder Rumänien bezeichnet, wenn auch unvergleichlich seltener. Dabei haben diese Begriffe grundsätzlich unterschiedliche Bedeutungen: Ein Deutscher, der beispielsweise aus Kasachstan nach Deutschland übersiedelt, wird dadurch keineswegs zum "Kasachen" oder "Deutsch-Kasachen". Das unterstrich auch der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Dr. Bernd Fabritius auf der Fachtagung der Bundeszentrale für politische Bildung "Perzeption, Partizipation, politische Bildung. Deutsche aus Russland und russischsprachige Gruppen in Deutschland", die am 02. und 03. Mai 2018 in Köln stattgefunden hat.
So kommt aber die viel beklagte Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung vieler russlanddeutscher (Spät-)Aussiedler als Heimkehrer und deren Wahrnehmung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft als Fremde zum Ausdruck. Im rechtlichen Sinne ist der Begriff "Heimkehrer" in Bezug auf russlanddeutsche Aussiedler nicht immer falsch, dennoch war seine Verwendung seit den 1990er-Jahren nur sehr selten berechtigt. In den Medien manifestiert sich dieses Phänomen meistens in latenten Formen. Es gibt aber auch genug Beispiele dafür, wie diese ablehnende Haltung direkt geäußert wird.
Im Oktober 1991, als die Einwanderung der Russlanddeutschen aus der zerfallenden Sowjetunion zur Massenbewegung wurde, machte sie Der Spiegel zum Titelthema. Im redaktionellen Leitartikel war zum Beispiel Folgendes zu lesen: "Wer irgendwo einen deutschen Urgroßvater im Stammbuch nachweisen kann oder gar Verwandte in der Traumheimat Großdeutschland, betreibt nur noch eines: die baldige Rückkehr ins Land der Ahnen an Rhein und Main. Fehlende Deutschkenntnisse (‘Das lernen wir dort‘) sind inzwischen ebensowenig ein Bleibegrund wie die eintreffenden Horrornachrichten von Lagerleben, von Arbeitslosigkeit und hochkochendem Ausländerhaß im gelobten Deutschland. [… Sie seien] längst mit Russen oder Kasachen assimiliert und oft bar jeder Bindung zum ‘Reich‘, wie sie Deutschland nun erst recht nennen […] 11 000 Ausreisevisa gehen derzeit pro Monat über die Tische der Deutschen Botschaft am Moskauer Lenin-Prospekt. Aber ‘die Schlange draußen will und will nicht kürzer werden‘, sorgt sich Konsul Ingo Herbert. […] Das neue Deutschland, dies scheint gewiß, wird in den kommenden Jahren Hunderttausende, wenn nicht Millionen Rußland-Deutsche integrieren müssen. Jedenfalls dann, wenn das Parlament diesem Zuzug nicht mit einer ‘Kriegsfolgen-Abschlußgesetzgebung‘ ein Ende setzt, wie dies unter den Sozialdemokraten vor allem Partei-Vize Oskar Lafontaine seit längerem fordert." Dass der Verlust der deutschen Sprache erst in den jungeren Generationen infolge der massiver Russifizierung erfolgte und dass deutschstämmige Sowjetbürger bis in die Perestroika-Zeit allein aufgrund ihrer Herkunft aus vielen Lebensbereichen ausgeschlossen wurden, fand in diesen Ausführungen dagegen kaum Erwähnung.
Der Spiegel begründete mit seinem Titelthema offenbar eine medienübergreifende Tradition, sehr konservative Aktivisten, die sich gern als Vertreter aller Russlanddeutschen gerieren, in Ermangelung anderer Figuren als rechtmäßige Sprecher dieser äußerst heterogenen Gruppe zu akzeptieren. So feierte im zitierten Artikel seinen ersten medialen Auftritt in Deutschland Heinrich Groth, der später als Hauptorganisator der Protestdemos im Fall Lisa bekannt wurde. Damals hat ihn Der Spiegel als "Vorsitzenden der Sowjetdeutschen-Gesellschaft mit dem irreführenden Namen ‘Wiedergeburt‘" vorgestellt, den seine Mitstreiter "Nasch Fjurer" (unser Führer) genannt haben sollen. Ein Jahr später führte Der Spiegel wieder ein Gespräch mit Groth, in dem er Ansprüche der Russlanddeutschen auf Königsberg verkündete ("Ostpreußen ist ein Gebiet, das noch nach Deutschtum duftet"), den nationalen Geist der Russlanddeutschen beschwor, der Bundesregierung die Schuld für ihre Probleme in Deutschland gab ("Bonn hat nie erklärt, daß wir keine Asylanten oder Wirtschaftsflüchtlinge sind. Wir sind Deutsche, und wir wollen entsprechend behandelt werden. Wir sind genauso deutsch wie die Leute in den Bonner Ministerien, die über uns entscheiden. Wir sind wegen unserer Nationalität sogar verfolgt worden.") und erklärte, wie er die Politik unter Druck setzen wolle: "Die Regierung wird sich etwas einfallen lassen müssen, falls wir Hunderttausende von Aussiedlern dazu aufrufen, die Republikaner zu wählen". Später saß Groth tatsächlich im Vorstand dieser rechtsradikalen Partei, die allerdings nie eine nennenswerte Unterstützung von Russlanddeutschen genoss. 2018 machte Groth wieder Schlagzeilen – diesmal als Mitarbeiter des russlanddeutschen AfD-Bundestagsabgeordneten Waldemar Herdt; es hieß, er sei dem Verfassungsschutz seit langem wegen seiner Nähe zu russischen Geheimdiensten bekannt.
Was 1991 befürchtet wurde, sorgte zehn Jahre später für Wut: Die CDU habe in die Bundesrepublik Millionen falsche Deutsche eingeschleust, welche unwillig und unfähig seien, sich zu integrieren und nur die Sozialsysteme belasten würden. "Die Einbürgerung ist Ausdruck des Erfolges des Integrationsprozesses. Sie bildet daher den Endpunkt und steht nicht am Anfang der Integration", dies sei im CDU-Einwanderungskonzept nachzulesen, schrieb 2001 das Nachrichtenmagazin Focus: "Für die derzeit größte Gruppe der Einwanderer soll weiterhin genau das Gegenteil gelten. Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion besitzen das Anrecht auf Sofort-Einbürgerung, ganz gleich ob sie nach Abstammung Deutsche sind oder als Schwiegersöhne, -töchter und Kindeskinder in längst gemischtnationalen Familien leben. Wer einen Aussiedlerantrag stellt, muss nur für sich die deutsche Volkszugehörigkeit und ein Bekenntnis zur deutschen Kultur nachweisen – nicht aber für die restliche Familie. Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit bei Aussiedlern verheimlichen die amtlichen Statistiken. Angeblich wegen der verzwickten Rechenaufgabe. Nur für fünf Jahre nach der Einreise erfasst die Bundesanstalt für Arbeit (BA) Aussiedler gesondert in der Arbeitslosenstatistik. Später verschwinden sie in den allgemeinen Arbeitslosenzahlen. Bei 25,4 Prozent stand die Spezialquote der Aussiedler im Jahresdurchschnitt von 1996 bis 2000. Mehr als die Hälfte von ihnen befand sich im besten Berufsalter zwischen 20 und 45 Jahren. Aber nur gut ein Drittel der Arbeitssuchenden weist eine hier anerkannte Ausbildung vor. Sogar Hochschulabschlüsse sind nichts wert, wie zum Beispiel bei Lehrern."
Bemerkenswert an diesem Text ist nicht zuletzt, dass er Versäumnisse der bundesrepublikanischen Politik indirekt den Aussiedlern zu Last legt, wie zum Beispiel die Nichtanerkennung der Abschlüsse bei gleichzeitigem Mangel an Fortbildungs- und Umschulungsangeboten.
Im Jahr 2013, als die Russlanddeutschen aus heutiger Sicht schon längst als "Mustermigranten" gegolten haben sollen, greift dasselbe Medium zu noch heftigerem Vokabular: "Mit der Lockerung des Vertriebenengesetzes rollt auf Deutschland eine Aussiedlerwelle zu, warnen Experten. […] Russen stehen bereits in den Startlöchern. Das Gesetz, das gerade beim Bundespräsidenten liegt, könnte sich so noch als wahre Zeitbombe erweisen […] Auf russischen Webseiten wird schon geworben: Sobald das Gesetz in Kraft trete, bestehe die Möglichkeit, die deutsche Volkszugehörigkeit zu kaufen. Es gibt Briefe von Anwaltskanzleien, die sich auf das Thema spezialisiert haben. Sie empfehlen Ausreisewilligen, sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes Anträge zu stellen. Denn der Gesetzgeber in Deutschland werde schnell sein eigenes Machwerk korrigieren müssen, wenn er die Folgen realisiere." Die von Focus prophezeite Katastrophe blieb dennoch aus, obwohl die Zahl der einreisenden Aussiedler in den Folgejahren tatsächlich angestiegen ist: Von 1800 Personen in 2012 auf 6000 in 2015, in der gesamten Zuwanderungsbilanz lag ihr Anteil respektive bei 0,2 Prozent und knapp 0,3 Prozent.
Als Russlanddeutsche noch gute Deutsche waren
Dieses Bild von Russlanddeutschen unterscheidet sich radikal von der idealisierten Vorstellung, die in Deutschland seit den Fünfzigerjahren bis zum Beginn der Masseneinwanderung aus der UdSSR herrschte. Russlandddeutsche wurden als überdurchschnittlich fleißig beschrieben und in ihrer Arbeitsmoral den benachbarten Völkern der UdSSR sogar weitaus überlegen. Sie wurden primär als Opfer der stalinschen Deportation dargestellt, denen die Sowjetführung die Rückkehr in ihre einstigen Siedlungsgebiete und die Wiederherstellung der Autonomie an der Wolga verwehrt haben soll, weil sie als herausragende Arbeitskräfte an ihren neuen Wohnorten unersetzlich geworden wären: "Jeder Kolchos-Vorsitzende in Sibirien weiß, daß die Deutschen ein unschätzbares Kapital sind: fleißig, arbeitsam, selten Raucher, fast nie Säufer, mit der niedrigsten Kriminalitätsrate in der ganzen Sowjetunion". Außerdem seien sie extrem heimatgebunden, wobei unter "Heimat" die Sowjetunion gemeint war: "Der Verdacht, die Deutschen wollten sich später einem neuen Deutschen Reich anschließen, ist absurd: Ein Austritt aus der Sowjetunion ist dem Sowjetdeutschen ganz fremd; eher würde heutzutage ein Russe das große Imperium verlassen".
Ein anderes, damals in deutschen Medien (und heute noch in konservativer russlanddeutscher Publizistik) stark präsentes Narrativ besagte, die Russlanddeutsche seien das am meisten diskriminierte Volk der UdSSR gewesen, höchstens die Krimtataren hätten noch schlimmer gelitten: "Selbst der jüdischen Minderheit, heute etwa ebenso stark wie die deutsche, wurde im Fernen Osten ein eigenes Territorium zugeteilt: Birobidschan, das immer noch als nationale Heimstatt der Sowjetjuden gilt, obwohl dort kaum welche lebten". Diese Optik lässt völlig außer Sicht, dass Birobidschan 1940 als eine mögliche Deportationsstätte für europäische Juden zwischen den Nazis und der Sowjetführung im Gespräch war, und dass sowjetische Juden 1953 auf dem Höhepunkt der antisemitischen Kampagne ihre Deportation dorthin fürchten mussten.
Ein typisches Beispiel aller drei Attitüden (Fleiß, Heimattreue und Opferrolle) findet sich in einer Publikation des Spiegels aus dem Jahr 1967: "Erst 1964 wurde die Ehre der Wolgadeutschen wiederhergestellt. Doch in ihre Wolga-Heimat durften sie nicht zurück, sie erhielten auch nicht wieder eine eigene Republik. Die tüchtigen Schwaben hatten sich an ihren neuen Arbeitsstellen unabkömmlich gemacht. Sie haben deutsche Zeitungen, Sibiriens Sender sprechen deutsch für sie; doch eine nationale Gemeinschaft gibt es nicht mehr – und sie drängen auch nicht danach." Gleichzeitig konnten alle realen oder vermeintlichen Verbesserungen der Lage der Deutschen in der Sowjetunion auf die Unterstützung aus Deutschland zurückgeführt werden. In diesem Sinne wurde zum Beispiel 1971 die Ernennung eines deutschstämmigen Ministers in der UdSSR als ein Erfolg der Ostpolitik von SPD/FDP ausgelegt. Eine Rezension über zwei Erinnerungsbände russlanddeutscher Autoren im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem Jahr 2003 lässt erahnen, warum ausgerechnet dieser Blickwinkel in der deutschen Berichterstattung so wichtig war: "Es geht hier um das Erinnern an "deutsche Opfer", freilich – und diese Hinzufügung erscheint angesichts gewisser gegenwärtiger Diskussionen durchaus angebracht – um "deutsche Opfer", die niemals "deutsche Täter" waren und auch nicht solche werden konnten."
Noch Ende der 80er Jahre, als die große Umsiedlungsbewegung bereits ansetzte, wurden Russlanddeutsche als eine Bereicherung für Deutschland und "erwünschte" Einwanderer über "problematische Asylanten" favorisiert – so die Position eines deutschen Politikers in der distanziert-ironischen Darstellung in Der Spiegel.
Exoten, Bedrohung und AfD-Wähler
Auch Jahrzehnte später stehen Russlanddeutsche in deutschen Medien oft als Exoten da: Sei es wegen ihrer merkwürdigen mitgebrachten Bräuche oder ihrer übertriebenen Deutschtümelei. Deutsche und Aussiedler seien "zwei Kulturen, die hier aufeinandertreffen – bis hin zu der Art und Weise, wie man eine Toilette benutzt.", schreibt die FAZ. Über Arthur Bechert, den ersten russlanddeutschen Aussiedler, der in der BRD für ein politisches Amt kandidierte, erzählte die Zeitung, in seiner Partei, der CSU, habe man "Schwierigkeiten mit einem Mann aus Russland, der deutscher sein wollte als die Deutschen, ja, sogar bayerischer als die Bayern", als sei es selbstverständlich, dass ein Deutscher aus Russland in Wirklichkeit gar kein Deutscher sei. In gesamtdeutschen und lokalen Medien wimmelt es nur so von Kalinka, Matrjoschka oder Rjabinuschka genannten Supermärkten, Begegnungsstätten und Gesangsvereinen, die eine schöne Kulisse für ein Leben in Kleinrussland irgendwo in deutscher Provinz bieten. Manchmal vernimmt man nostalgische Töne, vor allem dann, wenn es um verschwindende Dialekte der Russlanddeutschen geht. Der Norddeutsche Rundfunk brachte es sogar fertig, eine russlanddeutsche Pfingstchristengemeinde in einer Dokumentation so darzustellen, dass bei den Zuschauern der Eindruck entstand, es handle sich um Russlanddeutsche per se, was dem öffentlich-rechtlichen Sender anschließend viel Kritik einbrachte.
Seit Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine im Februar 2014 erscheinen die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler meistens als ein bedrohliches Milieu und ein Risiko für die Sicherheit des Staates. So berichtete der Focus, die Sportklubs der "altrussischen" (tatsächlich, in den letzten Jahren der UdSSR auf der Grundlage von Judo entwickelten und erst 1995 patentierten) Kampfkunst "Systema", die es in über 30 deutschen Städten geben soll, seien Trainings- und Rekrutierungsstätten für russische Agenten und Schläferzellen. Russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler werden zwar nicht explizit genannt, kommen aber als die mit Abstand größte Gruppe innerhalb der russischsprachigen Minderheit als Erste in den Sinn.
Zum Wendepunkt in der deutschen Berichterstattung über russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler wurde der sogenannte Fall Lisa. Die Falschmeldung von der Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens aus dem Berliner Bezirk Marzahn, die vom russischen Sender "Der erste Kanal" lanciert wurde, mündete in bundesweiten Demonstrationen gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. An diesen Demonstrationen nahmen insgesamt über 10.000 Menschen teil, überwiegend russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler. Deutsche Medien brachten dieses Ereignis sofort in einen Zusammenhang mit der sogenannten "Hybriden Kriegsführung", einer Taktik, die Russland etwa im Krieg gegen die Ukraine anwendet. Dabei werden angeblich unzufriedene russischsprachige Gruppen mobilisiert mit dem Ziel, die Gesellschaft zu destabilisieren und den Staat zu schwächen. Als eine für Deutschland potentiell gefährliche Gruppe wurden von deutschen Medien "Russlanddeutsche" identifiziert. Typisch für diese Art der Berichterstattung war der Beitrag des Bayrischen Rundfunks vom 03.02.2016. Dort werden Russlanddeutsche in einer Reihe mit Pegida und Rechtsradikalen genannt. Nicht nur spekulierte der Sender, der russische Propagandakrieg richte sich vor allem an Russlanddeutsche (was noch nachvollziehbar war), es wurde aber ohne jeden Quellenbezug behauptet, das russische Fernsehen sei für sie die erste und die glaubwürdigste Informationsquelle. Tatsächlich lagen zu dem Zeitpunkt des Berichts noch keine zuverlässigen Statistiken über den Medienkonsum der russischsprachigen Minderheit in Deutschland vor. Erst im Oktober 2016 wurde die Studie der Boris-Nemzow-Stiftung über diese Gruppe veröffentlicht, die zum ersten Mal solche Daten sammelte. Diese Studie wurde allerdings wegen zahlreicher methodischer Schwächen kritisiert. Dennoch geht selbst aus dieser Studie hervor, dass 40 Prozent der Russischsprachigen in Deutschland russisches Fernsehen schauen und lediglich 32 Prozent ihm vertrauen.
Nach dem Fall Lisa und den ersten elektoralen Erfolgen der AfD in einigen von Russlanddeutschen dominierten Gegenden stehen die nationalistischen Tendenzen in den russlanddeutschen Gemeinden und die vermeintliche Nähe dieser Gruppe zu AfD im Zentrum der Berichterstattung. Der russlanddeutsche AfD-Bundestagskandidat Waldemar Birkle aus Pforzheim-Haidach war Gast in der Sendung von Dunya Hayali und Protagonist eines Berichts der Tagesthemen. Im April 2017 wurde im 20-minütigen Feature über den vermeintlichen Rechtsruck der Russlanddeutschen im NDR behauptet, das soziale Profil der Russlanddeutschen entspräche dem der AfD-Wähler, im Mai war das ein Thema im ARD Monitor. Je näher der 24. September 2017 rückte, der Tag der Bundestagswahl, desto mehr Medien unterstellten Russlanddeutschen AfD-Sympathien und Anfälligkeit für russische Staatspropaganda, die die Rechtspopulisten massiv unterstützte. Der in Berlin lebende russische Soziologe Igor Eidman ging in der Neuen Zürcher Zeitung sogar soweit, das Wirken der angeblich kremlnahen rechtsextremen Minipartei Die Einheit als Erfolgsfaktor der AfD zu interpretieren: "Die Wahlen zum Berliner Senat haben gezeigt, dass diese Arbeit bereits Früchte trägt. In Bezirken mit hohem Anteil russischsprachiger Bewohner wie in Marzahn hat die AfD die Christlichdemokraten stark abgedrängt".
Der Vollständigkeit halber muss auch Folgendes festgehalten werden: Während es zu keinem Zeitpunkt an Stimmen mangelte, die Russland in Schutz nahmen oder wenigstens zur Differenzierung ermahnten, hatten die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler in der breiten Öffentlichkeit kaum Fürsprecher. Lediglich Aussiedlerverbände wehrten sich gegen die pauschalisierende Vereinnahmung dieser Minderheit als kremlhörige "fünfte Kolonne".
Die Ergebnisse der Bundestagswahl und die nachfolgenden soziologischen Untersuchungen zeigten jedoch, dass sich das Wahlverhalten der Russlanddeutschen vom gesamtdeutschen Durchschnitt nur unwesentlich unterscheidet. Für die rechtspopulistische AfD stimmten 15 Prozent von ihnen, deutlich weniger, als von der Forschung vorausgesagt. Die eigentliche Überraschung war die stark gewachsene Zustimmung für die Linkspartei, 21 Prozent der deutschen Wähler mit Wurzeln in der UdSSR gaben den Linkspopulisten ihre Stimme.