Der Medienkonsum postsowjetischer Migranten wurde in den letzten Jahren in der deutschen Öffentlichkeit kritisch betrachtet. Dabei handelt es sich allerdings weniger um die Selbstreflexion der Akteure des deutschen Mediensystems, sondern mehr um eine diskursive Konstruktion des Fremden. Der Grundton vieler Berichte: Russlanddeutsche schauen russisches Staatsfernsehen und werden auf diesem Wege von Russland aus politisch instrumentalisiert.
Dass Migranten Medien ihrer Herkunftsländer (oder, wie im Fall postsowjetischer oder arabischer Migranten, ihres jeweiligen politisch-kulturellen Raums) konsumieren, ist wenig überraschend. Problematisch an diesem konkreten Fall ist allerdings die prekäre Datenlage, welche Raum für verschiedene wertende Interpretationen und Vermutungen schafft, die durch jeweilige Identitätsentwürfe der Sprecher geprägt sind. Dies geht teilweise auf allgemeine Probleme amtlicher Statistiken und statistischer Erhebungen zu Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund zurück, d.h. solcher, die selbst oder von denen mindestens ein Elternteil aus der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten eingewandert sind. Dass die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler und ihre Familienangehörige einen Großteil dieser nach Mikrozensus 2015 mind. 3,1 Millionen Menschen starken Kategorie ausmachen, ist aus Zuzugsstatistiken klar.
Die schnelle Anerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft von (Spät-)Aussiedlern führte dazu, dass ihre Identifikation über Einwohnermelderegister und folglich ihre Erfassung in Studien erschwert ist. Ein anerkanntes Vorgehen bei Umfragen unter Zuwanderern, auch wenn es methodisch bedingt Lücken produziert, ist das onomastische Sampling: Basierend auf Wahrscheinlichkeiten für die Herkunft von Namen wird eine Stichprobe aus Daten in Verzeichnissen für Festnetz- und mobile Telefonanschlüsse gezogen.
Dieses Verfahren kam beispielsweise in der ARD/ZDF-Studie "Migranten und Medien" von 2011 zum Einsatz.
Postsowjetische Migranten jenseits von Facebook
Schon 2011 hat knapp die Hälfte der postsowjetischen Migranten soziale Netzwerke (social netwerk sites=SNS) genutzt. Das deutschlandweit populärste Netzwerk, Facebook, spielte aber eine geringere Rolle als Odnoklassniki, das russische Pendant zu StayFriends.
Wie aktiv werden Odnoklassniki (OK.ru) und VKontakte (VK.com), das russische Facebook-Pedant, von Russischsprachigen im Ankunftsland Deutschland genutzt? Über die interne Suchfunktion werden bei ok.ru 2,4 Millionen User in Deutschland angezeigt (Stand April 2018). Die Anzahl der Accounts eignet sich allerdings kaum als Verbreitungsmaß, da sie auch inaktive, multiple, kommerzielle und Bot-Accounts einschließt. Monatliche Benutzerzahlen sind belastbarer. Nach offiziellen Angaben benutzten Anfang 2018 ca. 1,3 Millionen Menschen in Deutschland mindestens einmal im Monat Odnoklassniki.
Hiermit benutzen fast 1,3 von ca. 3,1 Millionen Menschen mit dem postsowjetischen Migrationshintergrund zumindest gelegentlich dieses SNS, oder etwa 40 Prozent. VKontakte veröffentlicht zwar keine nach Ländern aufgeschlüsselte Statistik, es können aber nicht mehr als 800.000 Tausend über die interne Suchfunktion der Plattform identifizierbare Accounts sein (bzw. 320.000 Nutzer, wenn wir denselben Anteil aktiver Nutzer wie bei Ok.ru annehmen).
Provider-unabhängige Daten bestätigen die Popularität beider SNS in Deutschland. Während Odnoklassniki nach der Kombination monatlicher Besucherzahlen und Intensität der Nutzung Platz 12 des Websites-Rankings in Deutschland belegen, ist VK auf Platz 20; beim Anteil am eingehenden Traffic überholt OK ebenfalls und ist vergleichbar mit Twitter und Instagram.
Abgesehen von den postsowjetischen Staaten kommen besonders viele Nutzer dieser Netzwerke aus Deutschland, was dem "russischsprachigen" Verbreitungsmuster entspricht.
Die Popularität von Odnoklassniki unter postsowjetischen Migranten in Deutschland entspricht auf den ersten Blick der Rolle dieses SNS in Russland, wo Facebook bis heute jenseits von Moskau marginal bleibt.
Onlinekommunikation und Veränderung der Kommunikationsmuster
In einer Situation, wo transnationale Migration subjektive Zugehörigkeiten von Menschen deterritorialisiert, ermöglicht Onlinekommunikation Migranten und ihren Angehörigen, einen konkreten Ort für familiäre Bindungen im virtuellen Raum aufzubauen und eine virtuelle Kopräsenz zu konstruieren.
Sowohl in einer interpersonalen Kommunikation (inkl. Messengerdienste und Videotelefonie), als auch über one-to-many Veröffentlichungen bei Sozialen Netzwerken können sie einander auf dem Laufenden halten. Die SNS-Nutzung ermöglicht nicht nur, dass der Austausch öfter stattfindet, sondern auch, dass Beziehungen als emotional reicher und befriedigender erlebt werden.
Diese technosozialen Entwicklungen haben bei Einwanderern besondere Ausprägungen. Dazu gehört das Phänomen der digital diasporas: Migrantencommunities benutzen digitale Technologien, um sinnhafte Verbindungen zum Herkunftsland und Herkunftskulturen aufrechtzuerhalten, das beinhaltet auch Vernetzung mit anderen Diasporaangehörigen im Ankunftsland und Entwicklung hybrider Identitäten.
Anhand kultureller Identität und kommunikativer Vernetzung entwickelten Hepp und Kollegen in einer medienethnographischen Studie mit u.a. russischsprachigen Migranten in Deutschland drei Medienaneigungstypen.
Für Herkunftsorientierte ist eine subjektiv gefühlte Zugehörigkeit zu ihrer Herkunftsregion prägend. Ihre Aufrechterhaltung findet auch vermittelt über die Mediennutzung statt, wie russisches Fernsehen oder russische SNS.
Bei Ethnoorientierten wird die Zugehörigkeit im Spannungsverhältnis zwischen dem Herkunftsland und dem Migrationskontext definiert, zentral für sie ist die jeweilige Community in Deutschland. Sie konsumieren deutsche und russische Medien. Für die interpersonale Vernetzung mit anderen Diasporaangehörigen und mit persönlichen Netzwerken in der Herkunftsregion nutzen sie russische Social Networking-Seiten.
Die Weltorientierten entwickeln europäische bzw. globale Zugehörigkeit anstatt einer nationalen und zeichnen sich durch ein internationalisiertes, u.a. englischsprachiges Medienrepertoire aus.
Odnoklassniki entspricht im besonderen Maße den Bedürfnissen von Herkunfts- und Diasporaorientierten und reproduziert zugleich solche Identitätsentwürfe. Das Interface bietet an, Menschen aus der eigenen Schulklasse, Hochschule oder Betrieb zu finden; dabei können nicht nur aktuelle, sondern auch alte, sowjetische Ortsnamen angegeben werden, was diese Suche den noch in der ehemaligen Sowjetunion sozialisierten Menschen erheblich erleichtert.
Die Aufrechterhaltung bzw. Rekonstruktion individueller Netzwerke fördert die biographische Arbeit in der transnationalen Migration. Bei der visuellen Präsentation der Migrations- und Familiengeschichte bieten Internetplattformen eine Alternative zu Fotobüchern: die eigene Herkunft sowie das Aufnahmeland werden durch Bilder kommuniziert und archiviert.
Im Vergleich zu VKontakte und insbesondere zu Facebook werden bei Odnoklassniki relativ selten eigene Beiträge gepostet.
Persönliche Netzwerke und abstrakte Herkunftsgruppen werden gleichzeitig aktualisiert, wenn virtuelle Postkarten zu sowjetisch-russischen Feiertagen ausgetauscht werden. Im Segment von Odnoklassniki, der an in Deutschland lebenden Menschen orientiert ist, gibt es neben Gruppen, die Herkunftsidentitäten pflegen und zum Beispiel „frühere und heutige“ Einwohner eines Städtchens im Nordkasachstan ansprechen, eine Vielzahl von lokalen Gruppen für Russischsprachige in Deutschland.
Weitere Gruppen bzw. Public Pages reichen vom Entertainment bis zu Politik. Aus dem deutschen politischen Spektrum lassen sich dort sehr viele Anhänger und Sympathisanten von AfD und PEGIDA ausmachen.
VKontakte ähnelt von seinem Aufbau her Facebook und ist stärker auf eine themenzentrierte Interaktion ausgerichtet. Lokale Gruppen der russischsprachigen Migranten sind im "deutschen" Segment weniger zahlreich als bei Odnoklassniki, "Landsleute-Gruppen" marginal. Andere deutschlandbezogene Gruppentypen aus den Bereichen von Entertainment oder auch Politik sind vergleichbar vertreten.
Zwar gibt es weniger aktive AfD- und Pegida-Gruppen und die existierenden haben weniger Mitglieder (insbesondere bei „russlanddeutschen“ AfD-Gruppen), aber rechtsradikale Akteure aus Deutschland, mit oder ohne Bezug zu Russlanddeutschen bzw. postsowjetischen Migranten, sind auf VKontakte breiter vertreten.
Dank des unterschiedlichen Charakters der Plattformen ist Odnoklassniki mehr auf herkunfts- oder diasporaorientiere Identitäten ausgerichtet. Allerdings unterstützt auch dieses SNS den Austausch praktischer Informationen und Orientierung in Deutschland. Vergleichbar kann das "postsowjetisch-deutsche" Facebook-Segment nicht pauschal als "liberal" eingestuft werden, auch wenn "weltorientierte" Identitätsangebote hier häufiger vertreten sind.
Risiken der hybridisierten Kommunikation
Die Online-Kommunikation hat nicht nur positive Einflüsse auf Beziehungen innerhalb einer Diaspora. Dass interpersonelle und massenmediale Ebenen über Social Media eng miteinander verwoben werden, kann soziale Beziehungen auch belasten.
Der Hintergrund ist fortschreitende Hybridisierung der Mediensysteme:
Bei der Produktion und Nutzung medialer Angebote verschwimmen Grenzen zwischen verschiedenen Plattformen wie Social Media und Fernsehen (Stichwort Konvergenz). Die Nutzer werden zu unverzichtbaren Akteuren der Erstellung und Verbreitung medialer Inhalte. Aufgrund der engen Verbindung politischer und medialer Sphären betrifft Hybridisierung auch Formen politischer Macht.
Das mediale Angebot verschiebt sich in seiner Gesamtheit allerdings nicht zu liberalen oder anderen marginalen Positionen. Beispielsweise werden Angebote der staatlichen Agentur RIA Nowosti oder politische Talk-Shows des Rossia-1-Fernsehens auch über Social Media konsumiert und verbreitet.
Die SNS und Messenger ermöglichen unkomplizierte transnationale Verbreitung von medialen Angeboten aus Russland unter aktiver Beteiligung russischsprachiger Bevölkerung. In diesem Kontext gab es investigative journalistische Berichte zu gezielten Versuchen des russischen Staates, Machtverhältnisse in westlichen Ländern über die Beeinflussung öffentlicher Meinung zu verschieben.
Hier sollte bedacht werden, dass Russischsprachige in Deutschland Zugang zu medialen Angeboten und Inhalten haben, die in Russland für russische Bürger konzipiert worden sind. So hat beispielsweise das "Untergang Europas"-Szenario in Russland ein viel größeres Auditorium als in Deutschland, und von diesem hängt die Legitimation des jetzigen russischen Regimes direkt ab.
Gruppendiskussionen, die von uns im Rahmen der noch laufenden qualitativen Pilotstudie "Osteuropa bei uns" 2017 durchgeführt wurden, offenbarten das Konfliktpotenzial des transnationalen Medienkonsums in Familien- und Freundenetzwerken. Sowohl die inzwischen erwachsene Russlanddeutsche "Generation 1,5" als auch neu zugezogene hochqualifizierten Migranten aus Russland erlebten den Konsum russischer Massenmedien durch Eltern als Belastung, auf die sie vor allem mit dem Verzicht auf die Diskussion politischer Themen oder auch ihres Lebens in Deutschland reagieren können.
Neue Entwicklungen: Migrantencommunities und Politik
Mit der Diversifizierung postsowjetischer Migrantencommunities, die nicht alleine mehrere Generationen einschließen, sondern auch mehrere Bildungsstände, Migrationsverläufe etc., diversifizieren sich auch Netzcommunities. Der Bildungsstand der jüngeren Generationen hat sich gegenüber den 1990ern deutlich verbessert, ebenfalls verschieben sich ihre Sprachkompetenzen und -präferenzen hin zur deutschen Sprache.
Die soziale und kulturelle Zusammensetzung der Neuzuzüge aus dem postsowjetischen Raum ist ebenfalls heterogener geworden. Der Migrationsdruck auf bestimmte Gruppen in Russland wie Homosexuelle, religiöse Minderheiten oder systemisch nicht integrierte politische Akteure ist gewachsen. Das kulturelle Kapital der Hochqualifizierten ist inzwischen besser auch transnational nutzbar, was Migrationsprojekte (Migration auf Zeit oder Auswanderung aus Russland) attraktiver macht. Spezifische regionale, soziodemografische, kulturelle und auch politische Nutzerprofile werden in die Migration mitgenommen, so dass digitale Präferenzen der Migranten diese Vielfalt reflektieren.
Seit 2011 hat sich das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland vor dem Hintergrund des Krieges in der Ostukraine, der Krim-Annexion und des inzwischen internationalisierten Syrien-Krieges deutlich angespannt. Neben den homeland issues gehören die Flüchtlingskrise von 2015 und die sie begleitende Aufwertung rechstpopulistischer Positionen und Akteure zu den politischen Tendenzen, die einen neuen Kontext für die Identitäten postsowjetischer Migranten setzen.
Bei einem Teil der Migranten fand eine Aktualisierung der pro-russischen Identitäten, ihrer konservativen Interpretation und relationale Aufwertung gegenüber modernisierten bzw. liberalen Identitätsentwürfen statt.
Der wohlbekannte Fall Lisa spielte sich im transnationalen Kontext und unter Beteiligung der russischen Staatsmedien und postsowjetischen Migranten ab: in dessen Zuge wurden in kürzester Zeit in mehr als 40 Städten synchrone Kundgebungen von Russlanddeutschen bzw. postsowjetischen Migranten gegen Bundeskanzlerin Merkel und Flüchtlinge aus dem Nahen Osten durchgeführt.
Nach Nikolai Mitrokhin lief die Verbreitung eines Aufrufs mit der Überschrift "Achtung! Es ist Krieg!" über WhatsApp und private Einladungen via SNS, speziell Odnoklassniki. Der Fall Lisa hatte Züge einer fluiden "moralischen Panik" gegen Flüchtlinge,