Eine erfundene Vergewaltigungsgeschichte eines minderjährigen Mädchens aus Marzahn-Hellersdorf im Januar 2016, der sogenannte Fall Lisa, brachte eine rechtsorientierte und anti-demokratische Entwicklung innerhalb "russlanddeutscher" und russischsprachiger Migranten-Communities ans Tageslicht, die schon länger unter der Oberfläche der öffentlichen Aufmerksamkeit brodelte. Dabei spielt die Sozialisation der "postsowjetischen Migranten" in der sozialistischen Diktatur sowie die gegenwärtige Medien- und Informationspolitik Russlands eine zentrale Rolle. Diese Mischung aus anerzogenen Ressentiments und Weltbildern auf der einen und Desinformation und aufrührerischer Berichterstattung russischer Medien auf der anderen Seite verstärkte antidemokratische und rechte Tendenzen in Teilen dieser Migrantengruppe.
Rückblick in die 1990er
Um das Geschehen in seiner Gesamtheit erfassen zu können, bedarf es einer Retrospektive. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden russlanddeutsche (Spät-) Aussiedler und deren Angehörige größtenteils in den westdeutschen Flächenbundesländern angesiedelt. In Berlin hingegen wurden Russlanddeutsche gezielt im Osten des Bundeslandes angesiedelt. Die östlichen Plattenbaugebiete wiesen einen enormen Leerstand auf, da viele zuvor hier lebenden Menschen in den "Westen" gezogen waren. Zurück blieben häufig die so genannten Verlierer der Wiedervereinigung. Dieser verbliebene Teil der Kernbevölkerung projizierte seine Verbitterung über eigene Missstände auf die neuhinzugekommenen Russlanddeutschen und warf ihnen Bereicherung am Deutschen Staat vor, während sie selbst flächendeckend ihre Arbeit verloren.
Die teilweise aggressiven Anfeindungen der Einheimischen enttäuschten die Erwartungen vieler Russlanddeutscher so nachhaltig und tiefgreifend, dass sie sich zum Selbstschutz in eine Parallelgesellschaft zurückzogen. Ein weiterer Faktor, der diesen Rückzug begünstigte, war der diskriminierende Umgang der Ostberliner Behörden mit den Neuankömmlingen. Zum einen wussten die Ostberliner Beamten häufig nicht, wie diese Migranten zu beraten sind, da sie sich selbst in ein neues Verwaltungssystem einarbeiten mussten. Zum anderen projizierten auch sie ihre Frustration auf die Russlanddeutschen, indem sie die Russlanddeutschen beispielsweise falsch berieten oder ohne triftigen Grund täglich bei sich erscheinen ließen. Folglich versäumten es viele der Russlanddeutschen ihre Berufsabschlüsse anerkennen zu lassen und mussten niedrigbezahlte Arbeit aufnehmen.
Einfluss russischer Staatsmedien
Bereits im Sommer 2014 suchte das Team um den damaligen Geschäftsführer des Aussiedlervereins Vision e.V.
Seit Beginn des Ukraine-Konflikts im Februar 2014 konnten die aktiven Mitglieder des Vereins Vision e.V. einen deutlichen Einfluss russischer Staatsmedien auf die russlanddeutsche und russischsprachige Community in Marzahn-Hellersdorf beobachten.
Die russischen Staatsmedien, allen voran der Erste Kanal "Pervyj Kanal" mit der noch aus der Sowjetzeit allen Migranten aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion vertrauten Nachrichtensendung "Programma Vremja", reagierten auf die Sanktionen seitens der Europäischen Union mit einer Verunglimpfung "des Westens". So propagierten die russischen Medien eine "Dekadenz des Westens" und den wirtschaftlichen Untergang Europas, der nicht zuletzt durch die Sanktionspolitik herbeigeführt werden würde.
Plötzlich befürchteten die Menschen, dass die EU mit Deutschland als wirtschaftliche Spitze sich ins eigene Fleisch schneide. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis alle Menschen in Deutschland die Folgen zu spüren bekämen. Dieses Narrativ verfestigte sich bei vielen russischsprachigen Migranten. Häufig auch bei den russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern. Schließlich hatten viele von ihnen nicht selten den kräftezehrenden Akt einer Auswanderung nach Deutschland in Kauf genommen, um sich wieder sicher fühlen zu können.
Diese Entwicklungen finden kaum Interesse bei der Kommunalpolitik
Auf diesen plötzlichen, starken Aufruhr im Bezirk, der durch den Konsum von russischen Staatsmedien verursacht wurde, wollte Vision e.V. die Kommunalpolitik aufmerksam machen.
Da die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler bis dato seit vielen Jahren nicht negativ auffielen und damit als gut intergiert galten, fand der Apell weder bei der Kommunalpolitik noch bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren die notwendige Resonanz.
Resignierend beendete Vision e.V. die Suche nach Kooperationspartnern, um der Situation im Bezirk entgegenzuwirken. Geschäftsführer Alexander Reiser mahnte: "Es wird bald knallen, wenn keiner was macht" – er sollte Recht behalten.
Flüchtlingskrise als weiterer Katalysator
Während in den deutschen Medien die Ohnmacht der Regierung bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs dauerpräsent war, konnten die Anwohnerinnen und Anwohner in den sozial schwachen Großsiedlungen in Marzahn und Hellersdorf aus ihren Fenstern dabei zusehen, wie die oft überforderten Träger und ehrenamtlichen Helfer über Nacht Turnhallen und andere Gebäude in Flüchtlingsunterkünfte umfunktionierten. Gleichzeitig war vielen Anwohnerinnen und Anwohnern aber klar, dass keine Flüchtlingsunterkünfte in Regionen wie Mahlsdorf, Kaulsdorf und Biesdorf eingerichtet wurden, also den wohlhabenden Teilen des Bezirks. Schulklassen und Kindergartengruppen waren durch die Neuzugänge überfüllt, Unterricht fiel vielerorts bereits vor der Flüchtlingskrise durch chronischen Lehrermangel häufig aus.
Russische Medien nutzen Flüchtlingskrise für Diffamierung
Die russischen Staatsmedien griffen indes die Flüchtlingskrise auf, um einmal mehr "eindeutige Beweise" für den bevorstehenden Untergang des Westens zu erbringen. Die Berichtserstattung konzentrierte sich auf eine für Europa verheerende Flüchtlingswelle und eine damit einhergehende angebliche Kriminalitätszunahme, derer in erster Linie Deutschland nicht mehr Herr werden könne.
Die Komposition dieser drei Faktoren – der Berichterstattung deutscher Medien, der eigenen Erfahrungen im Bezirk sowie der Einfluss russischer Staatsmedien – führten zu einer Verstärkung des Misstrauens gegenüber den Strukturen des deutschen Staates.
So entstand eine Situation, in der sich die russlanddeutsche "Community" vor Ort und die Kommunalpolitik zunehmend weiter voneinander entfernten: Schrittweise bildete sich ein Nährboden für eine Eskalation wie den späteren "Fall Lisa".
Es knallt im Januar 2016
An einem Sonntag, dem 17. Januar 2016, berichtet die Tante des in Berlin Marzahn-Hellersdorf lebenden russlanddeutschen Mädchens Lisa unter Tränen im russischen Ersten Kanal, dass ihre Nichte von drei Flüchtlingen entführt und in einer Wohnung vergewaltigt worden sei. Die deutsche Polizei habe die darauffolgende Anzeige abgeschmettert. Höhnisch kommentiert der Reporter zum Schluss, er habe versucht mit der deutschen Polizei zu sprechen, jedoch sei an einem Sonntag dort niemand erreichbar. Angeblich hätten sich die Tante und der Onkel des Mädchens ohne das Wissen der Eltern an den Journalisten des Ersten russischen Staatssenders gewandt.
Es vergingen keine 24 Stunden nach der Ausstrahlung des Berichtes und innerhalb russischsprachiger Netzwerke in Deutschland machten wütende Aufrufe zu Demonstrationen gegen "Merkels Flüchtlingspolitik", gegen Flüchtlinge selbst sowie gegen eine angebliche staatliche Vertuschungsstrategie in diesem Zusammenhang die Runde. Die Verbreitung der Aufrufe erfolgte dabei via Messenger-Dienste wie WhatsApp oder soziale Netzwerke wie Odnoklassniki, dem in der "Erlebnisgeneration" (also diejenige, die die Migration im Erwachsenenalter bewusst vollzogen hatte) russlanddeutscher (Spät-)Aussiedler populärem russischen "StayFriends"-Pendant. Deutschlandweit kam es zu zahlreichen Demonstrationen mit insgesamt schätzungsweise 10.000 Demonstranten. So auch vor dem Kanzleramt in Berlin mit geschätzten 1.000 Demonstranten.
Sprachprobleme und mangelnde Kenntnis des Anzeigeablaufs
Wie sich später herausstellte, ist tatsächlich Folgendes passiert: Die 13-jährige Lisa erhielt am Tag ihres Verschwindens ein schlechtes Zwischenzeugnis und wollte es vor ihren strengen Eltern verheimlichen. Das Mädchen übernachtete bei einem ihrer volljährigen männlichen Freunde. Um nicht auch noch dafür von der Familie bestraft zu werden, erzählte Lisa ihren Eltern nach ihrer Rückkehr, drei "Südländer" hätten sie verschleppt, festgehalten und vergewaltigt. Die Eltern fuhren zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Bei der Befragung des Mädchens fiel der Polizei auf, dass sie zwischen verschiedenen Versionen wechselte. Daraufhin bat die Polizei die Eltern mit dem Mädchen allein sprechen zu können. Die Eltern interpretierten dies als einen Versuch der Polizei, das Mädchen davon abzubringen, die Wahrheit zu sagen, um keine negativen Schlagzeilen zur Flüchtlingskrise zu riskieren. Schließlich sorgte ein Sprachproblem der Eltern sowie ihre mangelnde Kenntnis des administrativen Ablaufs dafür, dass sie davon ausgingen, die Anzeige sei abgewiesen worden und dass der Fall somit nicht weiter verfolgt werde.
Deutsche Stellen scheitern daran, die Lage einzuschätzen
Bei allen der russischsprachigen Community bekannten Akteuren in Politik und Vereinswesen liefen aufgrund von zahlreichen wütenden Anrufen die Telefone heiß.
Schockiert über das Ausmaß der eingehenden Beschwerden erbaten Vision e.V. und der Aussiedlerverein Lyra e.V. eine Stellungnahme der Polizei und der Kommunalpolitik zur Beruhigung der Lage.
Tagelang wurden diese Bitten von den entsprechenden Stellen mit der Begründung ignoriert, dass sich die Lage schon von selbst beruhigen werde. Zwischenzeitlich formierten sich bereits erste Demonstrationen, die zunächst von der NPD am Einkaufszentrum "Eastgate" in Marzahn organisiert wurden. Während diesen Demonstrationen prangerten die Angehörigen des Mädchens weiter die angebliche Untätigkeit von Polizei und Politik an.
Eine weitere unangemeldete und zahlreich besuchte Demonstration fand in Marzahn am russischen Lebensmittelgeschäft "Mix Markt" statt. Auch hier mischten sich Vertreter der NPD unter. Die Polizei tolerierte diese Demonstration, bekam jedoch die Wut der Demonstranten stark zu spüren: die Beamtinnen und Beamten wurden angeschrien, angespuckt und geschubst. Einige unbekannte Männer forderten die Demonstranten auf, direkt zu den Flüchtlingsheimen zu ziehen, um dort "für Ordnung" zu sorgen.