Einwanderung
Für die Zwangsarbeit, hauptsächlich auf den Zuckerrohrplantagen, waren zunächst zahlreiche Indianerstämme versklavt worden. Versklavung, Vertreibung und Vernichtung führten zur Ausrottung vieler indianischer Völker: Von angenommenen fünf bis sechs Millionen Eingeborenen zur Zeit der Ankunft der ersten Europäer schrumpfte ihre Zahl bis zum Ende der Kolonialzeit auf etwa 600.000.
Mit der Flucht des portugiesischen Königs Dom João VI vor Napoleon im Jahr 1808 nach Brasilien gab Portugal seine Exklusivrechte ("Pacto Colonial") an Brasilien auf. Die Häfen des Landes wurden für alle befreundeten Nationen geöffnet. Durch eine Erklärung von João VI erfolgte 1818 die erste offizielle Anwerbung europäischer Migranten mit dem Ziel der Besiedlung Brasiliens. Die Sklavenwirtschaft wurde von Brasilien de facto erst 1888 beendet. Bis zum Importverbot von Sklaven 1850 waren ca. fünf Millionen Afrikaner nach Brasilien verschleppt worden. Europäische Einwanderer sollten von nun an die Arbeit der Sklaven ersetzen.
Die Zeit der so genannten "großen Zuwanderung" nach Brasilien begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die erste von insgesamt drei Phasen massenhafter Einwanderung (1880 bis 1909) hielt bis in die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts an. Die Einwanderer in dieser Phase stammten überwiegend aus Europa. Die stärkste Zunahme war zunächst mit 1.188.883 bei den italienischen Einwanderern zu verzeichnen (vgl. Tabelle). Aber auch aus Portugal (519.629), Spanien (307.591), Deutschland (49.833), dem Nahen Osten (31.061) und in kleinerer Anzahl aus diversen anderen Ländern wie der Ukraine, Polen, Russland und Korea kamen Einwanderer. Nach Abschaffung der Sklaverei lag die Gesamtzahl der Einwanderer in diesem Zeitraum zwischen 50.000 und über 200.000 pro Jahr.
In dieser ersten Phase der massenhaften Einwanderung wurden europäische Migranten vor allem als Arbeitskräfte im Agrarsektor, im Kaffeeanbau im Südosten Brasiliens und später für die Verbreitung der Industrialisierung benötigt. Die brasilianische Oberschicht war darüber hinaus bestrebt, sich durch europäische Zuwanderung kulturell, sozial und ethnisch Europa anzugleichen.
In einer zweiten Einwanderungswelle zwischen 1910 und 1929 kamen über eineinhalb Millionen Migranten, wiederum besonders als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Sie stammten wiederum überwiegend aus Portugal, Italien, Spanien, Russland und Deutschland, viele von ihnen suchten nach dem Ersten Weltkrieg einen Neubeginn. Aber auch aus Syrien und dem Libanon ist es seit Beginn des 20. Jahrhunderts zur verstärkten Emigration nach Brasilien gekommen.
Nachdem Kanada, die USA, Mexiko und Argentinien ihre Einwanderungsbedingungen Mitte der 1920er Jahre verschärft hatten, wurde Brasilien zum Hauptmigrationsziel für Japaner. Bis 1929 kamen 86.577 Japaner, die bei ihrer Emigration von der Regierung in Tokio organisatorisch und finanziell unterstützt wurden.
Einwanderer nach Herkunftsland von 1880 bis 1969
Portugal | Italien | Spanien | Deutschland | Japan | Naher Osten | Andere | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
1880 -1909 | 519.629 | 1.188.883 | 307.591 | 49.833 | 861 | 31.061 | 171.498 |
1910 -1929 | 620.396 | 245.003 | 263.582 | 101.703 | 85.716 | 79.102 | 266.598 |
1930 -1969 | 464.055 | 142.334 | 140.538 | 56.606 | 160.735 | 30.301 | 232.939 |
Total | 1.604.080 | 1.576.220 | 711.711 | 208.142 | 247.312 | 140.464 | 671.035 |
in % | 31% | 30% | 14% | 4% | 5% | 3% | 13% |
Quelle: Lesser, Jeffrey (1999): Negotiating National Identity. Immigrants, Minorities and the Struggle for Ethnicity in Brazil. Duke University Press, Durham & London; eigene Berechnung
Ab 1930 betrieb Präsident Getúlio Vargas eine Einwanderungspolitik, die vor allem auf die Assimilierung der Minderheiten Brasiliens zielte und die Zuwanderung erschwerte. Zum "Schutze der brasilianischen Identität" wurde der Gebrauch von Fremdsprachen im öffentlichen Leben verboten.
Die dritte Einwanderungswelle (1930 bis 1969) fiel geringer aus als in den vorangegangenen Jahrzehnten. Die größte neu zuwandernde Gruppe stammte mit 160.735 Personen aus Japan. Für den neu entstandenen industriellen Sektor wurden Migranten besonders aus Syrien und dem Libanon angeworben. Mit dem Militärputsch 1964 endete die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften. Für die ökonomische Entwicklung des Landes gewann nun die interne Migration an Bedeutung.
Binnenmigration
Seit der europäischen Besiedlung Brasiliens ist es aus wirtschaftlichen Gründen immer wieder zu immensen Wanderungen innerhalb des Landes gekommen. Als im 17. Jahrhundert die Zuckerrohrproduktion im Nordosten langsam verebbte, bewegte sich ein großer Teil der Bevölkerung in Richtung des neuen Wirtschaftszentrums Minas Gerais, um dort in den Gold- und Diamantenminen zu arbeiten. Als danach im 19. Jahrhundert der Kaffeehandel in Schwung kam, folgten Tausende Arbeitssuchende dem wachsenden Wirtschaftszweig in den Südosten Brasiliens.
Die Industrialisierung in den 1960er und 1970er Jahren brachte neue Arbeitsplätze und führte zu einem Massenexodus vom Land in die großen Städte. In nur wenigen Jahrzehnten kam es zu einer regelrechten Explosion aller großen brasilianischen Städte. Verstärkt wurde die – was ihren Umfang betrifft in Lateinamerika einmalige – Landflucht durch die große Armut der bäuerlichen Bevölkerung. Ein starkes Bevölkerungswachstum, die Modernisierung der Landwirtschaft und die damit reduzierten Beschäftigungsmöglichkeiten für Landarbeiter verstärkten diesen Prozess.
Hinzu kamen in den 1980er Jahren der Mangel an Infrastruktur und die Aussichtslosigkeit, ein eigenes Stück Land zu besitzen. Die Etablierung von kapitalstarken Agrarunternehmen öffnete die Schere zwischen Großgrundbesitzern und subsistenzorientierten Kleinbauern weiter.
Seit die Industrialisierung an ihre Grenzen gestoßen war, konnten die Metropolen im Norden, Nordosten, Süden und Südosten die vielen Arbeitssuchenden nicht mehr absorbieren. Die hohe Arbeitslosigkeit führte in den Städten und an deren Rändern zur Bildung von Slums, die in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen sind. 2006 lebten 84 % der Bevölkerung in Städten. Seit Anfang 2000 wird eine neue Bewegung aus den südöstlichen Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro in die mittelgroßen Städte im Landesinneren beobachtet. Als Pull-Faktoren wirken bessere Beschäftigungsmöglichkeiten, niedrigere Kriminalitätsraten und eine bessere Versorgung durch öffentliche Dienste. Derweil hält jedoch der Massenexodus vom Land in die großen Städte an.