Flucht und Vertreibung in Kolumbien sind die Konsequenz eines
Dieser innerstaatliche Konflikt hat seine Anfänge in den 1940er Jahren. Er kann am besten als eine Abfolge verschiedener bewaffneter Auseinandersetzungen beschrieben werden, deren Rahmenbedingungen, Akteure und Zielsetzungen sich im Laufe der Zeit veränderten. Gemeinsam sind ihnen im Kern soziale Spannungen, ausgelöst von der wirtschaftlichen Ungleichheit, der ungleichen Verteilung des Landbesitzes und der fehlenden politischen Teilhabe großer Teile der Bevölkerung.
Vier Phasen des Konflikts
Die erste Konfliktphase von Mitte der 1940er bis ungefähr Ende der 1950er Jahre hat sich als la Violencia (die Gewalt) in das kollektive Gedächtnis der kolumbianischen Gesellschaft eingebrannt. Diese Auseinandersetzung war zunächst von parteipolitischen Interessen geprägt, wobei die Anhänger der beiden großen politischen Parteien, der Liberalen und der Konservativen, um Ämter und Einfluss konkurrierten. Vor allem die ländliche Bevölkerung litt unter den Kämpfen, die von besonderer Grausamkeit geprägt waren. Sie äußerte sich in Folter, Verfolgung, Ermordung und Vertreibung des politischen Gegners. Ab Mitte der 1950er Jahre wurden die politischen Ziele, die sich ohnehin oft nicht klar unterscheiden ließen, immer stärker von wirtschaftlichen Interessen überlagert. Vor allem die Konkurrenz um den Zugang und Besitz von Land spielte eine große Rolle. Von der Aneignung der durch Flucht und Vertreibung aufgegebenen Ländereien und Höfe profitierten die Anhänger beider Parteien gleichermaßen. Zwar wurde der Versuch unternommen die Violencia 1958 durch ein politisches Abkommen zu beenden, dies gelang aber nur nach und nach, sodass bis Mitte der 1960er Jahre (zweite Phase) mindestens 200.000 Menschen ihr Leben verloren hatten.
Die ungelösten sozialen und wirtschaftlichen Probleme führten ab Mitte der 1960er Jahre zur Entstehung verschiedener Guerilla-Gruppen, die den bewaffneten Kampf gegen den kolumbianischen Staat aufnahmen. Diese bäuerlichen Guerillagruppen (mit marxistischen und befreiungstheologischen Idealen) begannen sich gegen die extrem ungleiche Verteilung von Landbesitz, Landraub sowie die Übergriffe der kolumbianischen Armee zur Wehr zu setzen – aus diesen Gruppen ging 1966 auch die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, dt: Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) hervor. Damit verstärkte sich in der dritten Phase der politisch-ideologische Charakter der Auseinandersetzungen. In den 1980er Jahren schließlich traten mit paramilitärischen Gruppen und den Drogenkartellen weitere Akteure auf den Plan. Dabei erwies sich der Drogenhandel sowohl für die rechtsgerichteten paramilitärischen Gruppen als auch für die Guerilla als lukratives Geschäft, sodass die anhaltende und nun sich deutlich verstärkende Gewalt der vierten Phase weniger ideologischen Differenzen als vielmehr einer organisierten Kriminalität zuzuordnen ist.
Das Friedensabkommen 2016
Seit 2005 befindet sich Kolumbien in einer
Vertreibungen als Kriegsstrategie
In jeder Phase des Konflikts kam es zu Vertreibungen, wofür alle beteiligten Akteure – die Guerilla, paramilitärische Gruppen wie auch die Armee – verantwortlich waren. Diese erzwungenen Bevölkerungsbewegungen haben verschiedene Ursachen. Die Flucht vor kriegerischen Auseinandersetzungen und der damit verbunden Gefahr für Leib und Leben sind zentrale Gründe. Auch die Flucht vor Zwangsrekrutierungen spielte vor allem in den 1980er und 1990er Jahren auf dem Höhepunkt des Konfliktes zwischen der Guerilla und paramilitärischen Gruppen eine Rolle. Einen großen Anteil haben allerdings auch gezielte Vertreibungen als Teil einer systematischen Kriegsstrategie, bei denen ganze Dörfer gezwungen wurden (und immer noch werden), ihren Wohnort zu verlassen. Dabei geht es vorrangig um die Kontrolle von Territorium und Bevölkerung, etwa um die Bestrafung für eine vermeintliche oder tatsächlich stattfindende Unterstützung des Gegners oder darum, landwirtschaftliche Flächen für den Anbau von Koka
Erfassung der "Desplazados"
Angesichts der Tatsache, dass Flucht und Vertreibung eine Folge des Konflikts seit seinen Anfängen sind, scheint es überraschend, dass die Betroffenen erst seit 1985, zunächst von der Nichtregierungsorganisation Codhes (Consultorio para los Derechos Humanos), überhaupt gezählt werden. Von staatlicher Seite werden Desplazados sogar erst seit 1997 erfasst. Diese späte Reaktion hat auch damit zu tun, dass Bevölkerungsbewegungen aufgrund von Krieg und Gewalt lange nicht getrennt von einer wirtschaftlich bedingter Landflucht wahrgenommen wurden. Die Bevölkerung Kolumbiens ist sehr mobil; den Heimatort auf der Suche nach besseren Chancen zu verlassen ist nichts Ungewöhnliches. So gingen die rund zwei Millionen Menschen, die während der Zeit der Violencia ihren Wohnort verlassen mussten, in den allgemeinen Bevölkerungsbewegungen auf und wurden langfristig nicht als gesonderte Gruppe betrachtet.
Seit den 1980er Jahren stieg die Zahl der
Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden Institutionen ins Leben gerufen, die Strategien und Programme entwickeln sollten, um die Desplazados besser unterstützen zu können und im besten Falle Vertreibungen zu verhindern.
Betroffene Regionen und Bevölkerungsgruppen
Nach der weitgehenden Entwaffnung paramilitärischer Gruppen 2005, ging die Gewalt zwar etwas zurück; Vertreibungen geschehen aber weiterhin und treten seit Beginn des Jahres 2020 wieder vermehrt auf. Dies liegt u.a. daran, dass das durch die Demobilisierung der FARC-Kämpfer entstandene Machtvakuum nicht immer vom Staat ausgefüllt wurde. Die betroffenen Regionen werden seitdem von kriminellen Banden terrorisiert, was sich u.a. in der systematischen Ermordung sozialer Aktivistinnen und Aktivisten äußert. Seit 2016, also dem Jahr, in dem das Friedensabkommen mit der FARC geschlossen wurde, ist die Zahl der Desplazados noch einmal um rund eine Million auf über acht Millionen angestiegen. Vertreibungen kommen grundsätzlich im ganzen Land vor, häufen sich aber in den Regionen, die vom Konflikt besonders betroffen sind. Das sind die im östlichen Kolumbien gelegenen Departamentos Cauca, Nariño, Valle del Cauca, Antioquia und Chocó sowie im Südwesten Putumayo, Caquetá, Guaviare und Vichada und im Norden Norte de Santander. Hauptleidtragende der Vertreibungen ist die ländliche Bevölkerung: 87 Prozent der Betroffenen leben auf dem Land. Rund zwölf Prozent der Opfer sind Afrokolumbianerinnen und -kolumbianer und etwa vier Prozent gehören zur indigenen Bevölkerung. Ein Viertel der vertriebenen Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche unter 18, weitere rund 22 Prozent sind zwischen 18 und 29 Jahre alt. Es sind etwas mehr Frauen als Männer betroffen (52 Prozent vs. 48 Prozent).
Die meisten Desplazados suchen Schutz in Großstädten. Die weitaus größte Zahl nimmt nach wie vor die Hauptstadt Bogotá auf, gefolgt von regionalen Zentren wie Medellín, Santa Marta, Cali, Sincelejo und Valledupar. Allerdings entstehen mit der Ankunft der Desplazados häufig neue Schwerpunkte der Gewalt in den Elendsvierteln der Städte. So hat die innerstädtische Vertreibung sowie die Vertreibung aus den Städten in das Umland in den letzten Jahren zugenommen. Bis 2006 waren rund 5.000 Personen jährlich davon betroffen. Diese Zahl hat sich bis 2012 vervierfacht.
Neue (Selbst-)Wahrnehmung der Desplazados
Dass es nach wie vor zu Vertreibungen kommt, hat auch damit zu tun, dass die inzwischen zahlreichen staatlichen Maßnahmen, Strategien und Programme an der strukturellen Ungleichheit der kolumbianischen Gesellschaft nichts ändern. Nach wie vor besteht das Recht auf politische und soziale Teilhabe vor allem auf dem Papier. In der Realität ist etwa der Zugang zu einer über die (Grund-)Schule hinausgehenden Bildung wenigen vorbehalten, was wiederum für viele zu prekären Arbeitsverhältnissen und fehlenden sozialen Aufstiegsmöglichkeiten führt und so die soziale Ungleichheit im Land fortführt. Zumindest hat der juristische Rahmen aber dazu beigetragen, dass die Desplazados nicht nur von anderen als Gruppe gesehen werden, sondern sich auch selbst als Gruppe wahrnehmen. Wichtig auf diesem Weg waren das bereits erwähnte Gesetz Nr. 387 von 1997, das die Figur des Desplazado erstmals definiert. Mit dem Externer Link: Gesetz Nr. 975 für Gerechtigkeit und Frieden von 2005 sowie dem Externer Link: Opfer-Gesetz Nr. 1448 von 2011 wurden Rechte der Opfer sowie Pflichten des Staates und der Gesellschaft den Opfern gegenüber festgelegt, wie etwa das Recht auf Wahrheit, das Recht, gehört zu werden, das Recht auf materielle und symbolische Entschädigung, das Erinnerungsgebot des Staates und die Garantie, dass sich die Verbrechen der Vergangenheit nicht wiederholen dürfen. Das Bewusstsein über die eigenen Rechte und die Stimme im gesellschaftlichen Diskurs hat zu einer neuen Selbstwahrnehmung der Betroffenen geführt. So sind Desplazados seit einigen Jahren besser organisiert und haben an politischem Gewicht gewonnen, wenn auch ein einheitlicher Dachverband bislang immer noch fehlt. Auf Druck der verschiedenen Desplazado-Organisationen verpflichtete das Verfassungsgericht schon 2004 die kolumbianische Regierung mit einem Urteilsspruch, runde Tische einzurichten, die sogenannten Mesas de participación de víctimas. Mit dem Ziel, die politische Teilhabe der Opfer zu verbessern und die Politik besser auf deren Bedürfnisse abzustimmen, treffen sich seither Vertreterinnen und Vertreter der Regierung mit jenen der Desplazado-Verbände.
Die Anerkennung der Desplazados als eigenständige Opfergruppe des Konflikts mit spezifischen Rechten und Bedürfnissen ist ein zentrales Element auf dem Weg zur Überwindung des Konflikts und zur Versöhnung der Gesellschaft. Eine grundlegende Lösung dieses humanitären Problems kann aber nur in der Überwindung der Ursachen des Konflikts – insbesondere der strukturellen sozialen Ungleichheit – liegen.