Migration aus benachbarten Staaten
Das Phänomen der Einwanderung aus benachbarten Gebieten ist viel älter als die Geschichte des argentinischen Nationalstaats selbst. Bereits in der Kolonialzeit nutzten Arbeitsmigranten und Händler die weitverzweigten Flusssysteme für ihre Aktivitäten. Seit der Entstehung der Republik im frühen 19. Jahrhundert hat Argentinien Menschen aus umliegenden Ländern angezogen, dank höherer Löhne und relativ fortschrittlicher industrieller und landwirtschaftlicher Strukturen mit hoher Arbeitskräftenachfrage. Aber erst unter der Militärdiktatur in den 1970er Jahren geriet die Präsenz lateinamerikanischer Migranten in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie wurde hauptsächlich als ein "Problem" irregulären Aufenthalts, sozialen und ethnischen Zusammenhalts und als Gefahr für das Projekt der Zivilisierung und nationalen Entwicklung gesehen; die wachsenden einwanderungsfeindlichen Einstellungen in den 1980ern und 1990ern verstärkten diese Sichtweise. Diese Stigmatisierung lateinamerikanischer Einwanderer ging mit einer größeren Sichtbarkeit dieser Gruppe einher, sowohl was ihre Zahl als auch ihre öffentliche Wahrnehmung anbelangte.
Nicht überraschend nahm die Zahl der ausländischen Staatsangehörigen nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich ab, von 2,6 Millionen 1960 auf 1,5 Millionen 2001 (vgl. Abbildung 3). Aber die Veränderung hinsichtlich der im Land lebenden Ausländer betraf nicht nur deren Zahl: Langsam aber stetig kamen weniger Europäer, dafür aber mehr Menschen aus benachbarten Ländern, insbesondere aus Bolivien, Paraguay, Peru und Chile. Insbesondere die Einwanderung aus Paraguay und Bolivien war beständig. Bis zu den 1970er Jahren war die Migration vor allem regional ausgerichtet und beschränkte sich zumeist auf Land-Land-Migration in Grenzgebieten. Anschließend entwickelte sich die Metropole Buenos Aires zu einem Zuwanderungsmagneten. Die Volkszählung von 2001 offenbarte, dass 54 Prozent der Einwanderer aus benachbarten Staaten in Buenos Aires lebten, verglichen mit nur 25 Prozent 1960. Obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in den vergangenen 30 Jahren nur unwesentlich gestiegen ist (von 2,7 Prozent 1983 auf 3,1 Prozent 2011), ist ihre Zahl vor allem von 1991 bis 2001 am deutlichsten gewachsen. Die außerordentlich hohen Löhne in diesem Jahrzehnt, garantiert durch die eins zu eins Konvertierbarkeit des argentinische Peso und des US-amerikanischen Dollar, zogen hunderttausende Arbeitskräfte und ihre Familien an. Somit wuchs beispielsweise die bolivianische Community zwischen 1991 und 2001 von 143.589 auf 233.464 Personen, die paraguayische von 150.450 auf 325.046 und die peruanische von 15.939 auf 87.546.
Viele dieser Einwanderer arbeiten in Sektoren, in denen niedrige Löhne gezahlt werden und die Arbeitsbedingungen prekär sind, wie im Baugewerbe, Haushaltsdienstleistungssektor oder in der Fertigungsindustrie, aber auch in der Landwirtschaft, der Bekleidungsindustrie, Gemüseläden in Städten oder andere Bereichen des Handels. In diesen Segmenten des Arbeitsmarkts hat vor allem die bolivianische Community erfolgreich ethnische Strukturen - sowohl formeller als auch informeller Art - aufgebaut, die tausenden Bolivianern zu einem Arbeitsplatz verhelfen und Orte der Geselligkeit und des Miteinanders schaffen. Bolivianer, die in Argentinien leben, tragen erheblich zur Wirtschaft ihres Herkunftslandes bei: Studien der Internationalen Organisation für Migration schätzen, dass sich ihre Rücküberweisungen an Familienmitglieder allein 2012 auf 301 Millionen US-Dollar beliefen.
Diese "Neue Migration", die tatsächlich aber ein sehr altes Phänomen ist, nur eben von der Dominanz der transatlantischen Migrationsbewegungen verdeckt wurde, stellte neue Herausforderungen für das Projekt der nationalen Identität und des inter-ethnischen Zusammenhalts dar. Die dominante und populäre Vorstellung, dass die argentinische Nation aus "Söhnen der Boote" ("hijos de los barcos") bestand, die sich erfolgreich in das nationale Projekt des Fortschritts integriert hatten, ließ, wenn überhaupt, nur einen marginalen Platz für Einwanderer aus der unmittelbaren Nachbarschaft Argentiniens. Zudem sind fremdenfeindliche Einstellungen, offene und versteckte Formen von Diskriminierung und Vorstellungen kultureller Überlegenheit im Land sehr weit verbreitet. Ein komplexes Zusammenspiel aus Klasse, "Rasse", Debatten um Sicherheit und Kriminalität sowie kulturelle Andersartigkeit führt dazu, dass Bolivianer und andere Einwanderer aus Lateinamerika in eine gesellschaftliche Randposition gedrängt werden und relativ ausgeschlossen bleiben.
Andere neuere Einwanderungsbewegungen
Ein weiteres Phänomen, das als neu gilt, ist die zunehmende Präsenz von (zumeist west-) afrikanischen Arbeitsmigranten und Flüchtlingen, insbesondere Senegalesen, Ghanaern und Nigerianern, in den größeren Städten des Landes, vor allem in Buenos Aires. Das rigide Grenzüberwachungssystem in Europa, das im Laufe der letzten Jahrzehnte entstanden ist, das bemerkenswerte Wirtschaftswachstum in Argentinien und die vergleichsweise offenen Einwanderungspolitiken des Landes haben dazu geführt, einen Teil der afrikanischen Migration nach Argentinien umzulenken. Wie auch andere nicht-europäische Migranten, die in jüngster Zeit nach Argentinien gekommen sind, sehen sich afrikanische Einwanderer Vorurteilen ausgesetzt und haben große Schwierigkeiten, eine legale Arbeit zu finden. Der Staat und Wohlfahrtseinrichtungen bieten Sprachkurse an, stellen temporäre und erneuerbare Aufenthaltsgenehmigungen zur Verfügung und ebenso eine grundlegende Gesundheitsversorgung. Das 2010 gegründete Zentrum für afrikanische Flüchtlinge und Migranten ("Centro para el Refugiado y Migrante Africano") bietet Informationen und Unterstützung für junge afrikanische Flüchtlinge an.
Die afrikanische Migration wird oftmals als neues Phänomen dargestellt. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass afrikanische Einwanderer in der Region schon lange präsent waren. Der Zensus von 1810 zeigt, dass allein in Buenos Aires, das zu der Zeit 32.558 Einwohner zählte, 9.615 Schwarze lebten. Die Mehrzahl dieser schwarzen "Porteños" - wie die Einwohner von Buenos Aires genannt werden - waren Opfer des transatlantischen Sklavenhandels. Der Zensus aus dem Jahr 2010 zeigte, dass sich 149.493 Einwohner des Landes als Nachkommen von afrikanischen Einwanderern beschreiben. Die Präsenz von Afrikanern und Afro-Argentiniern verdeutlicht, dass die Migrationsgeschichte Argentiniens vielschichtiger ist, als das immer noch dominante Narrativ eines Landes, das sich auf europäische Einwanderung gründet, nahe legt.
Dieser Text ist Teil des Interner Link: Länderprofils Argentinien.