Der äthiopische Weg zur "Entwicklung" – Landnahme, Vertreibung und Binnenmigration
Asebe Regassa
/ 9 Minuten zu lesen
Link kopieren
Entwicklung war eines der Hauptziele aufeinanderfolgender Regierungen Äthiopiens – großflächiger Landraub war eine der Folgen. Bauern und Viehzüchter wurden enteignet und verdrängt und mussten sich neue Arbeitsplätze in Agrarunternehmen und städtischen Gebieten suchen.
Die äthiopische Entwicklungspolitik verfolgt seit Jahrzehnten einen modernistischen Ansatz, der seine Ursprünge im Projekt der Interner Link: Errichtung eines expansiven Imperiums im späten 19. Jahrhundert hat. Er geht einher mit Erzählungen von der Überführung der Naturweidewirtschaft (Pastoralismus) in ein Agrarsystem, der Umwandlung kleinbäuerlicher Landwirtschaft in kommerzielle Plantagenwirtschaft, aber auch der Umsiedlung von Menschen in ausgewiesenen Dörfer (Villagisierung genannt), der Urbanisierung und – seit 1991 – der Umwandlung von landwirtschaftlichen Flächen im städtischen Umland in Baugrundstücke, Industriezonen und Blumenplantagen, die von großen Unternehmen betrieben werden.
Interner Link: In den letzten drei Jahrzehnten versuchten die aufeinanderfolgenden Regierungen, die Entwicklung Äthiopiens durch kommerzielle Landwirtschaft, den Ausbau von Industrien und Mega-Entwicklungsprojekte wie Wasserkraftdämme voranzutreiben. Dies führte zur Vertreibung Tausender Menschen, zu Landenteignung und Umweltverschmutzung (z. B. im Falle des Bergbaus, der Blumenzucht und der Gerbereiindustrie). In der Folge wurde Landraub (die teilweise unrechtmäßige Aneignung von Land durch Investoren, auch als Interner Link: Land Grabbing bezeichnet) zu einem maßgeblichen Konfliktfeld in Äthiopien. Landraub – sowohl im durch halbnomadische Viehwirtschaft geprägten Tiefland als auch im landwirtschaftlich geprägten Hochland – Interner Link: führt zur Zerstörung der Lebensgrundlagen lokaler Gemeinschaften und kann sowohl Umweltzerstörung als auch Zwangsmigration auslösen. Dieser Beitrag bietet eine kurze Analyse des äthiopischen Entwicklungs- und Modernisierungspfads und blickt dabei vor allem auf Landnahme und Ressourcenaneignung, die zu Vertreibung und Binnenmigration geführt hat. Er gibt auch Einblicke in die Situation der (Binnen-)Migrant/-innen und die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind.
Entwicklung durch Enteignung: Äthiopiens Top-down-Entwicklungsmodell
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben aufeinanderfolgende äthiopische Herrscher und Regierungen versucht, Entwicklungsmodelle aus stärker entwickelten Staaten nachzuahmen – ein Ansatz, den Äthiopienexperte Christopher Clapham als "Politik der Entwicklungsnachahmung" (politics of development emulation) bezeichnete. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Ideologien zeigten die aufeinanderfolgenden Regime Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Bodenpolitik, der Enteignung von Bauern und Hirten und Narrativen der Modernisierung.
Kaiser Interner Link: Haile Selassie initiierte beispielsweise bereits in den 1960er Jahren die massive kommerzielle Landwirtschaft am Fluss Awash, indem er ausländischen Investoren Landnutzungsrechte gewährte. Das nachfolgende sozialistische Militärregime unter Staatsoberhaupt Mengistu Haile Mariam verfolgte einen ähnlichen Kurs und in den 1970er und 1980er Jahren ein landesweites Programm zur Umsiedlung von Menschen in ausgewiesene Dörfer (Villagierungsprogramm ). Auch das Regime der Ethiopian People's Revolutionary Democratic Front (EPRDF , übersetzt: Revolutionäre Demokratische Volksfront Äthiopiens) verfolgte entgegen ihrer ursprünglich marxistisch geprägten Ideologie eine Entwicklungspolitik, die eine Verschiebung des in den 1960er/70er Jahren geprägten Mottos "Land für Ackerbauern" hin zu "Land für Investoren" bedeutete: Kleinbauern und Viehzüchter/-innen wurden enteignet und große Landstücke an ausländische und einheimische Investoren verpachtet. Seit 1991 wurden Millionen Hektar Ackerland sowohl im Tiefland als auch im Hochland für den Anbau sogenannter "Cash Crops" und Getreide, für die Entwicklung von Immobilien, Schnittblumenfarmen und für die Viehzucht an Investoren verpachtet, was zur Verdrängung lokaler Gemeinschaften führte. Das vom EPRDF-Regime verfolgte Interner Link: Modell des "Entwicklungsstaats", das dem Staat unangefochtene Macht über Entwicklungsinterventionen und die Aneignung von Land ohne Beteiligung der lokalen Gemeinschaften gewährte, machte ihn schließlich zu einem der größten Landräuber: In großem Stil enteignet die äthiopische Regierung Bäuerinnen und Bauern und Viehzüchter/-innen und verpachtet das Land an ausländische und einheimische Investoren. Da 84 Prozent der äthiopischen Bevölkerung in ländlichen Gebieten leben und in hohem Maße von landwirtschaftlichen Aktivitäten zur Einkommens- und Subsistenzsicherung abhängig sind, hat die Landnahme schwerwiegende Folgen für die Lebensgrundlagen großer Teile der Bevölkerung des Landes.
Die Enteignung von Bäuerinnen und Bauern wurde von den verschiedenen Regimen durch rechtliche Rahmenbedingungen und durch die Entwicklungserzählung legitimiert. In den letzten zwei Jahrzehnten verloren beispielsweise Millionen Bäuerinnen und Bauern in den der größten Region Oromia, der "Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker" (Southern Nations, Nationalities, and Peoples' Region, SNNPR) sowie den Regionen Gambela, Benishangul-Gumuz und Afar ihr Land aufgrund der Ausweitung von Blumenzucht und Industriezonen, Stadterweiterungen (insbesondere die ungeregelte Expansion der Hauptstadt Interner Link: Addis Abeba) und agrarindustriellen Projekten.
Diese Entwicklung intensivierte sich, als die Regierungspartei 2005 offiziell die sogenannte entwicklungspolitische Staatswirtschaft einführte, die die staatliche Intervention in Entwicklungsprogramme verstärkte. Dies spiegelte sich in der Proklamation zur Landenteignung von 2005 (Proklamation Nr. 455/2005) wider, die der Regierung die Macht gab, Land zu enteignen, wenn dies als für "öffentliche Zwecke" notwendig erachtet wurde. In der Proklamation wurde jedoch der Umfang des öffentlichen Interesses und das Konsultationsverfahren vor der Entscheidung über die Enteignung nicht definiert. In ähnlicher Weise gab eine andere Proklamation (Proklamation Nr. 456/2005) der Regierung die uneingeschränkte Befugnis, kommunales Land in Privateigentum zu überführen (vgl. Artikel 5.3 und 5.4a). Dieser rechtliche Rahmen ermöglichte ein Jahrzehnt der Enteignungen und gipfelte 2014 im sogenannten Masterplan, der von der äthiopischen Bundesregierung und der Stadtverwaltung von Addis Abeba veröffentlicht wurde. Er sah die Annexion von Städten und Dörfern in der Region Oromia im Umkreis von 100 Kilometern um die Hauptstadt vor. Der Plan führte zu massiven Protesten in ganz Oromia, weil er als staatlich angeordnete Landnahme betrachtet wurde. Die Proteste weiteten sich auf andere Regionen aus und veranlassten schließlich Premierminister Hailemariam Dessalegn zum Rücktritt, woraufhin 2018 der reformorientierte Abiy Ahmed zum Premierminister ernannt wurde. Dennoch gab es seither kaum nennenswerte Veränderungen hinsichtlich der Beteiligung der lokalen Gemeinschaften an Entscheidungen, die Eigentumsrechte betreffen und die Privatisierung von Land oder die Verpachtung von Land an Investoren einschließen.
Verknüpfung von Entwicklung und Migration in Äthiopien
Schlecht geplante Entwicklungsprogramme führen oft zu sozialen Krisen und verursachen Vertreibung, Umweltzerstörung und Konflikte. In dieser Hinsicht bedeuten Top-down-Entwicklungsstrategien, die ohne Beteiligung der lokalen Bevölkerung geplant, umgesetzt und verwaltet werden, eher eine Belastung als einen Gewinn für die lokale Bevölkerung. Sie führen zu Landlosigkeit und zerstören so die Lebensgrundlagen von Agrar- und Hirtengemeinschaften in ländlichen Gebieten. Die Betroffenen sehen sich oft gezwungen, diese Gebiete auf der Suche nach Existenzmöglichkeiten zu verlassen.
Vertreibung und Migration in und aus Äthiopien sind historisch mit Konflikten, Naturkatastrophen, Hungersnöten und staatlich gelenkter Verfolgung verbunden und werden in jüngerer Zeit durch die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation in ländlichen Gebieten ausgelöst, die mit Landlosigkeit infolge von Landraub einhergeht. All diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass Äthiopien eines der Länder am Interner Link: Horn von Afrika mit der höchsten Zahl an internen und internationalen Migrant/-innen ist.
In den letzten fünfzehn Jahren haben sich die Migrationsmuster innerhalb Äthiopiens von der Land-Land-Migration hin zur Land-Stadt- und Stadt-Umland-Migration verschoben. Einer von der Weltbank veröffentlichten Studie zufolge fand zwischen 2000 und 2005 der größte Teil (etwa 40 Prozent) der Binnenmigration in einem ländlichen Kontext statt, während Land-Stadt-Wanderungen mit etwa 25 Prozent in diesem Zeitraum weniger relevant waren. Dieses Bild änderte sich in den folgenden Jahren: Während der Anteil von Land-Land-Wanderungen an allen Binnenwanderungen im Zeitraum 2008-2014 auf 23 Prozent zurückging, stieg der Anteil der Land-Stadt-Wanderungen etwa im selben Zeitraum (2008-2013) auf rund 34 Prozent an. Die Hauptstadt Addis Abeba nahm den größten Teil der Binnenmigrant/-innen auf (46 Prozent), gefolgt von der Stadt Dire Dawa sowie den Regionen Benishangul-Gumuz, Gambela und Harar.
Die Verschiebung der Migrationsmuster in Äthiopien fällt mit der zunehmenden Landnahme im Anschluss an die globale Energie- und Interner Link: Nahrungsmittelkrise 2007/2008 und der Einführung des "Entwicklungsstaatsmodells" durch die Regierung im Jahr 2005 zusammen. Durch die Landnahme und den Mangel an notwendiger sozialer Infrastruktur, aber auch durch die zunehmende Verfolgung der Jugend wegen ihrer politischen Einstellungen, ist das Leben auf dem Land schwieriger geworden. Daher erhoffen sich Menschen, die vom Land in städtische Zentren abwandern, nicht nur bessere wirtschaftliche Chancen. Darüber hinaus bieten diese Orte Möglichkeiten, sich vor dem staatlichen Sicherheitsapparat zu verstecken. Während Dire Dawa und Harar als Wirtschaftszentren attraktiv für Binnenmigrant/-innen sind, scheint die Migration in die Regionen Benishangul-Gumuz und Gambela erklärungsbedürftiger. Obwohl sich beide letztgenannten Regionen in den letzten fünfzehn Jahren zu Zentren des Landraubs entwickelt haben, ziehen sie immer mehr Binnenmigrant/-innen an, die auf der Suche nach Lohnarbeit in Agrarindustrieunternehmen sind. Diese Unternehmen werden häufig auf Land errichtet, von dem kleinbäuerliche und Hirtengemeinschaften vertrieben wurden, um es an Investoren zu verpachten.
Ferner gibt es rechtliche Probleme, mit denen Binnenmigrant/-innen konfrontiert sind. Wenn Menschen in Äthiopien ihren Wohnort wechseln, müssen sie sich einen neuen Ausweis besorgen, aus dem ihr neuer Wohnort hervorgeht. Dieser Ausweis ist eine Voraussetzung für den Zugang zu Beschäftigung und staatlichen Dienstleistungen, die Eröffnung von Bankkonten, den Beitritt zu Vereinen und die Anmietung von Wohnraum. Viele Binnenmigrant/-innen haben jedoch Probleme, einen neuen Ausweis zu bekommen, entweder weil sie aufgrund bürokratischer Hürden keinen Freistellungsbrief von der Verwaltung in ihrem Heimatort erhalten können oder weil die Beamtinnen und Beamten der städtischen Verwaltung zögern, ihnen den Ausweis auszustellen, um Menschen von der Abwanderung aus ländlichen Gegenden in die Städte abzuhalten. Darüber hinaus verlangen einige inländische Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber von Binnenmigrant/-innen, "jemanden zu finden, der im Falle von Fehlverhalten, Sachbeschädigung oder Diebstahl als Bürge für den Arbeitnehmer fungiert". Viele Migrant/-innen haben Schwierigkeiten, diese Anforderung zu erfüllen. Selbst Migrant/-innen, die innerhalb einer Region den Wohnort wechseln, gelten häufig zunächst als "illegal" und können Schwierigkeiten haben, Arbeit zu finden – auch wenn sie dieselbe Sprache sprechen und derselben ethnischen Gruppe angehören wie die Einheimischen.
Da Äthiopien ein multiethnisches und mehrsprachiges Land mit starken regionalen Unterschieden ist, können Binnenmigrant/-innen an ihrem neuen Wohnort Schwierigkeiten haben, mit der lokalen Bevölkerung zu kommunizieren und sich an die lokale Kultur anzupassen. Menschen aus ländlichen Gegenden haben unter Umständen auch Probleme, sich an ein städtisches Umfeld zu gewöhnen. Binnenmigrant/-innen schlägt oft Misstrauen entgegen; sie werden häufig als potenzielle Kriminelle betrachtet. Sie sind oft mit sexueller Belästigung und der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft konfrontiert. Besonders junge Migrant/-innen laufen Gefahr, von manipulativen politischen Akteuren in gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen hineingezogen zu werden.
Die äthiopische Regierung stellt die Binnenmigration – insbesondere die Land-Stadt-Migration – als Hindernis für die Entwicklung Äthiopiens dar. Die Rhetorik der Regierung, die eine von der Landwirtschaft geführte Industrialisierungspolitik betont, beschwört den Verbleib der Produktivkräfte in ländlichen Gebieten. Sie unterstreicht zudem, dass Land-Stadt-Wanderungen die sozioökonomischen Bedingungen in städtischen Gebieten beeinträchtigen würden, indem sie Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Armut verschärften und die Lebenshaltungskosten erhöhten. Der Grund für diese Rhetorik dürfte darin liegen, dass in der Praxis die Lohnarbeit der Binnenmigrant/-innen zum Rückgrat der Entwicklung der Agrarindustrie in ländlichen Gebieten geworden ist, da große Plantagen auf billige Arbeitskräfte angewiesen sind. Binnenmigrant/-innen werden oft unter prekären Bedingungen beschäftigt. So sind sie beispielsweise in Blumenzuchtbetrieben gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, weil sie ungeschützt mit giftigen Chemikalien in Berührung kommen.
Vertreibung, die durch Entwicklungsprojekte wie die Ausweitung der kommerziellen Landwirtschaft ausgelöst wird, ist mit anderen Formen der Vertreibung verknüpft. Zu nennen sind hier vor allem Konflikte und Naturkatastrophen, die Menschen in Äthiopien zwingen, ihre Heimatorte zu verlassen. In einigen Fällen sind Konflikte dabei das Ergebnis von Entwicklungspolitik und gehen auf Auseinandersetzungen um Land und den Zugang zu Ressourcen hervor. Ebenso können Naturkatastrophen eine Folge von Entwicklungsstrategien sein, die die Zerstörung der Umwelt beschleunigen, etwa durch die massive Ausweitung der kommerziellen Landwirtschaft. Ende 2019 registrierte das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in Äthiopien 1,7 Millionen Binnenvertriebene (Internally Displaced Persons, IDPs). Ein Jahr zuvor waren es sogar mehr als drei Millionen Binnenvertriebene, von denen aber viele im Zuge von Rückführungsprogrammen der Regierung an ihre Heimatorte zurückkehrten. Das Land rangierte 2019 auf Platz neun unter den Ländern mit der weltweit höchsten Zahl an Binnenvertriebenen.
Obwohl Premierminister Abiy Ahmed versprochen hatte, Wirtschaftsreformen durchzuführen, die Jugendbeschäftigung zu verbessern, die Korruption zu bekämpfen und Frieden und Stabilität zu gewährleisten, befindet sich das Land derzeit in einer kritischen politischen und wirtschaftlichen Situation. Angesichts dieser Entwicklungen werden Binnenvertreibung und Migration voraussichtlich weiterhin auf einem hohen Niveau bleiben.
Dr. Asebe Regassa ist Senior Researcher im Bereich Politische Geographie am Geographischen Institut der Universität Zürich. Zuvor war er Forschungsdirektor an der Universität Dilla in Äthiopien, wo er auch als außerordentlicher Professor für Entwicklungsstudien tätig war. Er hat an der Universität Bayreuth in Entwicklungsstudien promoviert.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).