Die jüngere Einwanderungsgeschichte des Vereinigten Königreichs ist von zwei bedeutenden Ereignissen geprägt, die sich auf das Leben von Millionen von Einwohnerinnen und Einwohnern mit Migrationshintergrund ausgewirkt haben: die Beschränkung und spätere Beendigung der Personenfreizügigkeit für
Der Entschluss, die Personenfreizügigkeit der EU-Bürgerinnen und -Bürger einzuschränken, zwang die britische Regierung dazu, zwischen bereits im Vereinigten Königreich ansässigen Staatsangehörigen von EU-Ländern und solchen, die zu einem späteren Zeitpunkt kommen würden, zu unterscheiden. Die hieraus entstandene Herausforderung spiegelt das politische Dilemma wider, das auch schon vor mehreren Jahrzehnten beim Zurückschrauben der Einwanderung aus dem Commonwealth auftrat.
In den 1960er und 1970er Jahren beschloss die britische Regierung, den rechtmäßigen Aufenthalt von bereits im Vereinigten Königreich ansässigen Bürgerinnen und Bürger aus den Commonwealth-Staaten auf der Basis des Primärrechts fortzusetzen. Das heißt sie mussten keinen neuen Einwanderungsstatus beantragen. Nach dem Brexit hingegen ging die britische Regierung einen anderen Weg und beschloss, dass langjährig ansässige EU-Bürgerinnen und -Bürger einen Antrag im Rahmen eines maßgeschneiderten Registrierungssystems, dem sogenannten EU Settlement Scheme, stellen mussten, um rechtmäßig im Vereinigten Königreich bleiben zu dürfen. Obwohl es einige Ähnlichkeiten zwischen beiden Fällen gibt, führen diese unterschiedlichen Vorgehensweisen zu spezifischen Verwundbarkeiten für die Betroffenen.
Aus Commonwealth-Angehörigen werden irreguläre Migranten
Der im Frühjahr 2018 publik gewordene, sogenannte Windrush-Skandal deckte auf, dass Hunderte im Vereinigten Königreich lebende Bürgerinnen und Bürger aus dem Commonwealth seit Jahrzehnten zu Unrecht inhaftiert, abgeschoben und ihrer Rechte beraubt worden waren – darunter viele, die in den 1950er- und 1960er-Jahren mit ihren Eltern aus der Karibik ins Vereinigte Königreich migriert waren.
Der öffentliche und internationale Aufschrei zwang die britische Regierung, sich öffentlich für das Leid zu entschuldigen, das durch den Umgang mit der „Windrush-Generation“ verursacht worden war. Die Bezeichnung als „Windrush-Generation“ leitet sich von jenen 492 Menschen aus Commonwealth-Ländern ab, die im Juni 1948 mit dem Schiff Empire Windrush im Hafen von Tilbury im Vereinigten Königreich ankamen. Hunderttausende Menschen aus der Karibik und von den Westindischen Inseln folgten in den nächsten 20 Jahren, oft als Reaktion auf Anwerbungskampagnen britischer Arbeitgeber.
Sie kamen nicht als Migrantinnen und Migranten ins Vereinigte Königreich, sondern als britische Bürgerinnen und Bürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der britischen Territorien Gebrauch machten.
Viele von ihnen haben nie einen britischen Pass beantragt – zum einen, weil ihr Status ihnen bereits den rechtmäßigen Aufenthalt in Großbritannien ermöglichte, und zum anderen, weil es vonseiten der britischen Behörden kein wirkliches Interesse daran gab, ihnen solche Dokumente auszustellen: Rassismus und einwanderungsfeindliche Einstellungen – insbesondere gegenüber
Aber warum kam der Windrush-Skandal erst so spät ans Licht? Seit 2012 hat die britische Regierung systematische Anstrengungen unternommen, ein sogenanntes feindliches Umfeld (‘hostile environment’) für irreguläre Einwanderer/-innen zu schaffen. Dafür etablierte sie strengere, umfassendere und häufigere Überprüfungen von Ausweispapieren und dem Einwanderungsstatus. Banken, Vermieter sowie Arbeitgeber wurden dazu verpflichtet, den Einwanderungsstatus ihrer Kundschaft, Mieter/-innen und Mitarbeitenden zu überprüfen. Auch der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen ist zunehmend zu einem Kontrollpunkt für die Durchsetzung von Einwanderungsbestimmungen geworden.
Diese Maßnahmen lösten bei der Windrush-Generation und ihren Nachkommen große Ängste und Sorgen aus. Vielen von ihnen fehlen die notwendigen Dokumente, um ihren Anspruch auf die britische Staatsbürgerschaft zu belegen – eine Situation, die noch verschärft wurde durch die im Jahr 2010 getroffene Entscheidung des Innenministeriums,
Aus EU-Bürgern werden Einwanderer
Nach Schätzungen der britischen Statistikbehörde Office for National Statistics (ONS) waren zum Zeitpunkt des Brexit-Referendums im Sommer 2016 fünf Prozent der Wohnbevölkerung des Vereinigten Königreichs in der EU geborene Personen. Dabei schwankte ihr Bevölkerungsanteil in den verschiedenen Gebieten zwischen 0,7 Prozent und 25,8 Prozent und konzentrierte sich geografisch vor allem auf London, den Südosten und den Osten Englands. In über vierzig Jahren EU-Mitgliedschaft hat sich die Zusammensetzung der in der EU geborenen Bevölkerung verändert. Bei der ersten Volkszählung nach dem EU-Beitritt im Jahr 1981 machten die in der EU geborenen Einwohnerinnen und Einwohner 1,8 Prozent der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs aus. Ein Blick auf die Entwicklung der EU-Bevölkerung verweist auf seit langem etablierte Gemeinschaften, die möglicherweise schon in der zweiten oder dritten Generation im Vereinigten Königreich leben. Nach den EU-Erweiterungen in den 2000er Jahren
Seit dem Brexit-Referendum haben sich zwei parallele
Der Windrush-Skandal, der mitten in den Brexit-Verhandlungen ans Licht kam, löste bei den im Vereinigten Königreich lebenden EU-Bürgerinnen und -Bürgern Besorgnis aus. Wie die Angehörigen der Commonwealth-Länder einige Jahrzehnte zuvor, hatten auch die Unionsbürgerinnen und -bürger ihre Freizügigkeitsrechte genutzt, um ins Vereinigte Königreich einzuwandern. Allerdings nicht als Bürgerinnen und Bürger des britischen Weltreichs, sondern als Mitbürger/-innen der EU. Wie auch von den Angehörigen des Commonwealth wurde von ihnen verlangt, rückwirkend den Nachweis zu erbringen, das Recht zu haben, im Vereinigten Königreich zu bleiben. Forschungsergebnissen zufolge sind Kinder, die nach dem Brexit geboren wurden und deren Eltern als Staatsangehörige eines EU-Landes langfristig im Vereinigten Königreich leben, als besonders vulnerabel einzustufen.
Es gibt aber auch wichtige Unterschiede. Der Windrush-Skandal wurde just zu der Zeit enthüllt, als die Windrush-Generation mit restriktiven einwanderungspolitischen Regelungen, der Politik des „feindlichen Umfelds“, konfrontiert wurde und dabei zwar in der Position war, sich rechtmäßig im Land aufzuhalten, allerdings ohne die dafür notwendigen Nachweise zu besitzen. Das Problem, mit dem sich ansässige EU-Bürgerinnen und -Bürger konfrontiert sehen, ist wohl noch gravierender: Haben sie bis zur Frist des 30. Juni 2021 keinen Antrag auf einen Settled Status gestellt, wird ihr Aufenthalt im Vereinigten Königreich unrechtmäßig und sie begehen eine Straftat, wenn sie ohne rechtmäßigen Einwanderungsstatus arbeiten, eine Wohnung mieten oder Auto fahren. Das System, das EU-Staatsangehörige dazu zwingt, bis zu einer bestimmten Frist einen Antrag auf einen Niederlassungsstatus zu stellen, hat das potenzielle Problem abgemildert, dass viele rechtmäßig Ansässige ihren rechtmäßigen Aufenthalt nicht nachweisen können – mit einem bewilligten Antrag läge ein solcher Nachweis nun vor. Gleichzeitig hat es möglicherweise ein noch größeres Problem geschaffen: Der Aufenthalt einer beträchtlichen Anzahl von Einwohnerinnen und Einwohnern könnte buchstäblich illegal und undokumentiert werden. Dies wird durch die Schaffung eines vorübergehenden Rechtsstatus – dem sogenannten „Voransiedlungsstatus“ (pre-settled-status) – noch verschärft. Personen mit diesem Status sind dazu verpflichtet, erneut einen Antrag auf einen Niederlassungsstatus zu stellen, sobald sie die Kriterien für seine Gewährung erfüllen. Tun sie das nicht, könnte ihr Aufenthalt irregulär werden.
Nach offiziellen Angaben haben mit Stand Ende Juni 2023 schätzungsweise 6,2 Millionen Menschen einen Antrag im Rahmen des EU Settlement Scheme gestellt. Von diesen haben 5,6 Millionen Menschen einen Aufenthaltsstatus erhalten, darunter 2,1 Millionen einen Voransiedlungsstatus (pre-settled-status).
Rassismus als Komponente des Einwanderungsregimes
Insbesondere der Windrush-Skandal wurde weithin als Ausdruck des institutionellen Rassismus gegenüber Schwarzen Britinnen und Briten kritisiert. Die Mehrheit der Windrush-Generation stammte aus karibischen Staaten und waren People of Color. Rassistische Untertöne hatten auch Einfluss auf das mit dem Brexit einhergehende Ende der Freizügigkeitsregelungen für EU-Bürgerinnen und -Bürger Die Brexit-Kampagne war von einer einwanderungsfeindlichen Rhetorik geprägt, die sich häufig gegen Menschen aus osteuropäischen Staaten und rassifizierte ethnische Minderheiten richtete.
Bestimmte Gruppen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern sind vom Ende der Freizügigkeitsregelungen besonders betroffen. Dazu gehören ältere EU-Staatsangehörige, Personen mit Behinderungen oder schweren Krankheiten, Familienangehörige aus Drittstaaten, Kinder von EU-Staatsangehörigen, Betroffene von häuslicher Gewalt oder Menschenhandel sowie EU-Bürgerinnen und -Bürger in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder Wohnungslose. Die Gemeinschaft der
Aus der Vergangenheit lernen
Zusammenfassend dienen die Erfahrungen der Windrush-Generation und der EU-Staatsangehörigen im Vereinigten Königreich nicht nur als eindringliche Erinnerung daran, welche Auswirkungen die Einwanderungspolitik auf das Leben von Menschen hat, sondern auch an die Unsicherheit des rechtlichen Status und der Bürgerrechte. Vor diesem Hintergrund müssen politische Entscheidungsträgerinnen und -träger dafür Sorge tragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt und dass die Rechte und die Würde aller Einwohnerinnen und Einwohner geachtet werden. Mit Blick auf den Brexit ist es für Personen in politischer Verantwortung unerlässlich, über diese Parallelen und Unterschiede nachzudenken. Die Lehren gelten auch für EU-Politikerinnen und -Politiker, angesichts über einer Million britischer Bürgerinnen und Bürger im EU-Raum, die vor dem Brexit das Recht auf Freizügigkeit besaßen.
Übersetzung aus dem Englischen: Beeke Wattenberg