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Migration im Vereinigten Königreich nach dem Brexit | Vereinigtes Königreich | bpb.de

Migration im Vereinigten Königreich nach dem Brexit

Peter William Walsh

/ 9 Minuten zu lesen

Politiker, die den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU befürworteten, versprachen die Rückerlangung der „Kontrolle über die Grenzen“ und eine geringere Einwanderung. Wurde dieses Ziel erreicht?

Passagiere passieren die britische Grenze am Terminal 2 des Flughafens London Heathrow (21.07.2017). (© picture-alliance, Steve Parsons)

Am 23. Juni 2016 Interner Link: stimmte die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs für den Austritt aus der Europäischen Union. Umfragedaten zeigen, dass das Thema Einwanderung einer der Hauptgründe für die Entscheidung für den Brexit war.

Die Befürworter des Brexit argumentierten, dass die Regierung nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU „die Kontrolle über die Grenzen des Landes zurückgewinnen“ und die Einwanderung verringern könne.

Die Freizügigkeit für EU-Bürgerinnen und -Bürger im Vereinigten Königreich endete am 31. Dezember 2020 um 23 Uhr Greenwich Mean Time (GMT). Wie hat sich die Einwanderung in das Vereinigte Königreich seither verändert? Hat die Regierung ihr Versprechen, die Einwanderung zu verringern, eingehalten? Und was waren die wichtigsten politischen Themen mit Blick auf Einwanderung und Asyl, seit das Vereinigte Königreich die EU verlassen hat?

Das Migrationssystem nach dem Brexit

Der Brexit beendete die Freizügigkeit, die es Staatsangehörigen der europäischen Binnenmarktländer erlaubte, ungehindert in das Vereinigte Königreich zu ziehen, etwa um mit ihrer Familie zusammen zu sein, zu studieren oder in einem beliebigen Beruf zu arbeiten. Im Jahr 2020 lebten nach offiziellen Schätzungen etwa 3,5 Millionen in der EU geborene Menschen im Vereinigten Königreich. Schätzungsweise zwei Millionen arbeiteten im Land, viele von ihnen in gering qualifizierten Berufen.

Nach dem Brexit wurde ein neues System für die Arbeitsmigration eingeführt. Es priorisiert qualifizierte Arbeitskräfte, mit wenigen Ausnahmen im Bereich der Sozial- und Saisonarbeit. Dieses nach dem Brexit etablierte „punktebasierte“ Einwanderungssystem sieht vor, dass EU-Bürgerinnen und -bürger nun genauso wie Menschen aus anderen Teilen der Welt ein Visum beantragen müssen. Damit ist dieses System der Arbeitsmigration für EU-Bürgerinnen und -bürger deutlich restriktiver als jenes, welches es ersetzt hat. Für Bürgerinnen und Bürger aus dem Rest der Welt ist es jedoch liberaler, was vor allem auf niedrigere Qualifikations- und Gehaltsschwellen zurückzuführen ist.

Auch die Einwanderungspolitik für Studierende wurde nach dem Brexit liberalisiert. Mit der Wiedereinführung eines Arbeitsvisums für die Zeit nach dem Studium – dem „Graduate Visa“ – können Universitätsstudentinnen und -studenten nach ihrem Abschluss zwei Jahre lang im Vereinigten Königreich bleiben, um nach Arbeit zu suchen (bzw. drei Jahre, wenn sie eine abgeschlossene Promotion vorweisen können).

Doch wie haben sich diese migrationspolitischen Änderungen auf die Einwanderung in das Vereinigte Königreich ausgewirkt?

Einwanderung seit dem Brexit: höher, nicht niedriger

Seit dem Brexit und dem Ende der Freizügigkeit für EU-Bürgerinnen und -bürger ist die Gesamtzuwanderung ins Vereinigte Königreich gestiegen, nicht gesunken.

Die wichtigste Statistik im Vereinigten Königreich zur Erfassung von Migration ist der „Wanderungssaldo“ (auch Nettomigration genannt), definiert als Zuwanderung minus Abwanderung in einem bestimmten Zeitraum (in der Regel innerhalb eines Jahres). Diese Statistik gibt also das durch Migration bedingte Nettowachstum einer Bevölkerung an. Die Zahl umfasst in der Regel auch britische Staatsangehörige, deren Wanderungssaldo häufig negativ ist (d.h., es verlassen mehr von ihnen das Vereinigte Königreich als zuwandern).

Von 2010 bis 2019 war die Migrationspolitik des Vereinigten Königreichs von dem Ziel geleitet, den Wanderungssaldo auf unter 100.000 zu senken. Wie Abbildung 1 zeigt, wurde dieses Ziel nie auch nur annähernd erreicht, bevor es 2019 unter der Regierung von Boris Johnson aufgegeben wurde.

In den fünf Jahren (2015-2019) vor dem Brexit und der Corona-Pandemie lag der Wanderungssaldo in jedem Jahr zwischen 219.000 und 332.000 Personen. Im Jahr 2022 belief er sich auf schätzungsweise 606.000 Personen und damit auf den höchsten Wert seit Beginn der Aufzeichnungen (Abbildung 1) (im November 2023 ist diese Zahl nach oben korrigiert worden auf 745.000).

Schätzungen der langfristigen internationalen Migration im Vereinigten Königreich (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Dieser beispiellos hohe Wanderungssaldo ist im Wesentlichen das Ergebnis von drei Faktoren:

Der erste hat nichts mit dem Brexit zu tun: Chinas politische Unterdrückung in der Interner Link: ehemaligen britischen Kolonie Hongkong und der Interner Link: Krieg in der Ukraine. Als Reaktion auf diese geopolitischen Entwicklungen führte die britische Regierung spezielle Visaregelungen für Menschen aus Hongkong und der Ukraine ein. Zusammen machten diese humanitären Visaregelungen im Jahr 2022 etwa ein Fünftel der langfristigen Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern aus.

Die zweite Ursache ist die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften, insbesondere im Gesundheits- und Pflegesektor. 2022 machte die Arbeitsmigration 25 Prozent der langfristigen Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern aus.

Die dritte Hauptursache schließlich ist die steigende Zahl internationaler Studierender. Sie ist zurückzuführen auf eine von der Regierung geförderte Strategie zur Anwerbung ausländischer Studierender und zur Diversifizierung weg von China (dem mit Abstand wichtigsten Herkunftsland internationaler Studierender, die von 2009/10 bis 2019/20 an britischen Universitäten eingeschrieben waren) sowie auf die Wiedereinführung des Graduiertenvisums (Graduate Visa). Der Anteil der Studierenden an der langfristigen Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern lag im Jahr 2022 bei 39 Prozent.

Unter gleichbleibenden Bedingungen steht zu erwarten, dass der Wanderungssaldo in den kommenden Jahren sinken wird, da viele Studierende in ihre Heimatländer zurückkehren und der Zuzug von Menschen aus Hongkong und der Ukraine weiter abnimmt.

Höhere Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern gleicht geringere Zuwanderung aus der EU mehr als aus

Seit dem Brexit hat sich nicht nur der Umfang der Migration verändert, sondern auch ihre Zusammensetzung. In den drei Jahren vor dem Brexit-Votum im Sommer 2016 war die EU-Migration in das Vereinigte Königreich größer als die Migration aus Nicht-EU-Ländern. Seit der Entscheidung für den EU-Austritt hat sich dieses Muster umgekehrt: Die Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern hat deutlich zugenommen, während die Nettomigration aus der EU zunächst gesunken ist, 2020 negativ wurde und 2021/2022 negativ blieb (was bedeutet, dass mehr EU-Bürgerinnen und -bürger das Vereinigte Königreich verlassen haben als eingereist sind).

Geschätzte jährliche Nettomigration ins Vereinigte Königreich nach Staatsangehörigkeit (EU und Nicht-EU) 2010-2022 (ohne britische Staatsangehörige) (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Die erste Auswirkung des Endes der Freizügigkeit war eine Verringerung der Arbeitsmigration in Sektoren, die zuvor auf relativ gering qualifizierte und schlechter bezahlte Arbeitskräfte aus der EU angewiesen waren (insbesondere das Gastgewerbe und das Verkehrswesen), wodurch sich der Arbeitskräftemangel verschärfte. Den bei weitem größten Anstieg der Arbeitsmigration verzeichneten der Gesundheits- und Pflegesektor, für den liberalere Regelungen (Zugewanderte müssen keinen Gesundheitszuschlag, den Immigration Health Surcharge, zahlen) und Ausnahmen gelten, die es Migrantinnen und Migranten erlauben, in niedrig bezahlten Jobs in der Sozialfürsorge zu arbeiten.

Die Universitäten des Vereinigten Königreichs haben für Studierende aus der EU an Attraktivität verloren. Vor dem Ende der Freizügigkeit profitierten sie von denselben niedrigeren Studiengebühren wie einheimische Studierende. Zudem hatten sie Anspruch auf dieselben vom Steuerzahler subventionierten Studiengebührendarlehen, was bedeutete, dass sie die Studiengebühren nicht im Voraus bezahlen mussten. Der Rückgang der Zahl der Studierenden aus EU-Staaten wurde jedoch durch einen Anstieg der Zahl internationaler Studierender aus Nicht-EU-Ländern mehr als ausgeglichen, wobei sich das neue Graduiertenvisum (Graduate Visa) als besonders attraktiv für indische und nigerianische Staatsangehörige erwies.

Ankünfte kleiner Boote und Asylmigration

Seit dem Brexit-Referendum haben sich die öffentlichen Bedenken hinsichtlich Migration allgemein abgeschwächt. Die öffentliche und politische Besorgnis konzentrierte sich stattdessen auf die schnell wachsende Zahl von Menschen, Interner Link: die den Ärmelkanal von Frankreich aus in kleinen Booten überqueren. Im Jahr 2018 wurden etwa 300 Personen bei der unerlaubten Überfahrt entdeckt. Im Jahr 2022 lag die Zahl bei über 45.000. Dies veranlasste Premierminister Rishi Sunak dazu, das „Stoppen der Boote“ zu einem seiner fünf wichtigsten politischen Versprechen zu machen.

Die meisten Menschen, die das Vereinigte Königreich mit kleinen Booten erreichen, beantragen bei ihrer Ankunft Asyl. Die Regierung reagierte hierauf mit der Verabschiedung von Gesetzen, die es den Menschen erschweren, im Vereinigten Königreich einen Asylantrag zu stellen. Der Brexit hatte auf diese Reaktion nur indirekt Einfluss: Denn obwohl die EU-Mitgliedschaft die Asylpolitik des Vereinigten Königreichs seinerzeit einschränkte und beeinflusste, blieb dieses Politikfeld doch in erster Linie unter der Kontrolle der britischen Regierung. Wegen des Brexits aber ist es schwerer geworden Asylantragstellende nach Frankreich und in andere EU-Länder zurückzuschicken, da das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil der Interner Link: Dublin-Verordnung ist, die es den EU-Mitgliedstaaten erlaubt, Asylbewerberinnen und -bewerber in EU-Länder zurückzuschicken, die sie zuvor durchquert haben, in der Regel die Länder, in die sie zuerst eingereist sind.

Die jüngste und wichtigste Gesetzgebung, die der Abschreckung vor der Überquerung des Ärmelkanals dient, ist das 2023 erlassene Interner Link: Gesetz über illegale Einwanderung (Illegal Migration Act 2023). Es schließt einen Großteil der Personen, die ohne Genehmigung im Vereinigten Königreich ankommen, davon aus, eine Entscheidung über ihren Asylantrag zu erhalten. Im Rahmen dieser Politik plant die britische Regierung, illegal einreisende Personen zu inhaftieren und in einen „sicheren Drittstaat“ abzuschieben. Das Vereinigte Königreich hat derzeit aber nur mit einem Drittland, das bereit ist, Asylsuchende aufzunehmen, ein Abkommen: Ruanda. Die Vereinten Nationen haben das Gesetz über illegale Einwanderung als „Asylverbot“ („asylum ban“) und Verstoß gegen die Interner Link: Genfer Flüchtlingskonvention bezeichnet. Im Interner Link: November 2023 entschied der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) des Vereinigten Königreichs, dass das Abkommen mit Ruanda rechtswidrig ist, weil Ruanda kein sicheres Land sei, in das Asylsuchende abgeschoben werden können. Um die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu umgehen, vereinbarte die britische Regierung ein neues Abkommen mit Ruanda, das zusätzliche Schutzmaßnahmen vorsieht, und legte dem Parlament einen neuen Gesetzentwurf vor, in dem Ruanda als „sicheres“ Land für die Überstellung von Asylsuchenden bezeichnet wird.

Wie hat sich der Brexit auf die Einwanderung in das Vereinigte Königreich ausgewirkt?

Die Auswirkungen des Brexit auf die Einwanderung ins Vereinigte Königreich waren unterschiedlich. Das Ende der Freizügigkeit hat dazu geführt, dass nun mehr EU-Bürgerinnen und -bürger das Vereinigte Königreich verlassen als einreisen, obwohl die Nachfrage nach Arbeitskräften im Vereinigten Königreich hoch ist. Diese Entwicklung wurde jedoch durch eine höhere Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern mehr als ausgeglichen. Die veränderte Zusammensetzung der Zuwanderung wird zum Teil durch die migrationspolitischen Änderungen seit dem Brexit beeinflusst worden sein: niedrigere Gehalts- und Qualifikationsschwellen für Arbeitnehmende, die Erteilung von Langzeitarbeitsvisa für gering qualifizierte Pflegekräfte und die Wiedereinführung von Arbeitsrechten nach dem Studium für internationale Studierende (Graduate Visa). Doch selbst wenn die Liberalisierung der Arbeits- und Studienvisa nach dem Brexit nicht stattgefunden hätte, wäre die Zuwanderung in das Vereinigte Königreich aufgrund der humanitären Migration aus Hongkong und der Ukraine dennoch ungewöhnlich hoch.

Die Regierung hat ihr Versprechen, die Einwanderung in das Vereinigte Königreich zu reduzieren, noch nicht eingelöst. Im Jahr 2022 war die Nettozuwanderung etwa doppelt so hoch wie vor dem Brexit. Das größte Thema in der britischen Migrationsdebatte – die Ankunft von kleinen Booten – deutet ebenfalls darauf hin, dass die Regierung es bislang nicht geschafft hat, ‚die Kontrolle über die Grenzen zurückerlangen‘. Das Problem der kleinen Boote und die hohe Nettomigration werden wohl auch in Zukunft die Migrationsdebatte im Vereinigten Königreich bestimmen.

Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel

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Dr. Peter William Walsh ist Senior Researcher an der Beobachtungsstelle für Migration (Migration Observatory) und Lehrbeauftragter für Migrationsstudien an der Universität Oxford. Seine Forschung konzentriert sich auf Einwanderung ins Vereinigte Königreich und britische Migrationspolitik.