In seiner Geschichte hat Lettland sowohl von Einwanderung als auch von Auswanderung geprägte Phasen erlebt. In den letzten Jahren dominiert die Emigration. Zugleich sind in der Bevölkerung negative Einstellungen gegenüber Einwanderung weit verbreitet.
Historische Phasen der Einwanderung nach und der Auswanderung aus Lettland
Während des letzten Jahrhunderts hat Lettland zahlreiche Wellen der Ein- und Auswanderung erlebt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als Lettland Interner Link: zum Russischen Reich gehörte, war das Wachstum der lettischen Städte die Haupttriebkraft der Einwanderung. Neben Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen einwanderten, kamen in bedeutsamem Umfang auch jüdische Flüchtlinge aus Russland, der Ukraine, Weißrussland und Polen nach Lettland, weil sie in ihren Herkunftsregionen zunehmendem Antisemitismus und Pogromen ausgesetzt waren. Gleichzeitig verließen Lett/-innen (vor allem Bäuerinnen und Bauern) in beträchtlicher Zahl das lettische Territorium. Zwischen 1897 und 1913 wuchs die lettische Diaspora auf 220.000 Personen, von denen 45.000 in der westlichen Welt (hauptsächlich in den USA) lebten – darunter nach der lettischen Revolution von 1905 fast 8.000 politische Flüchtlinge und Deportierte. Trotzdem war der Wanderungssaldo (d.h. die Differenz zwischen Zu- und Abwanderung) in diesem Zeitraum deutlich positiv.
Seine größten Bevölkerungsverluste erlebte Lettland während des Russischen Bürgerkriegs und des Interner Link: Ersten Weltkriegs. Rund eine Million Einwohner/-innen Lettlands gelangten damals als Flüchtlinge, Displaced Persons, Umsiedler/-innen oder nachdem sie zum Militär eingezogen wurden auf fremdes Staatsgebiet (in erster Linie nach Russland). Innerhalb von fünf Jahren büßte Lettland 37 Prozent seiner Bevölkerung ein (Abb. 1). Etwa die Hälfte davon starb außerhalb Lettlands, andere siedelten sich in Sowjetrussland, Estland, Litauen und Deutschland an. Weniger als ein Drittel der Emigrant/-innen kehrte nach dem Krieg zurück.
Im ersten Jahrzehnt nach der Gründung des lettischen Staates 1918 kehrten ca. 300.000 Menschen (davon der Großteil im Zeitraum von 1919-1921) nach Lettland zurück. Zugleich migrierten über 10.000 Lett/-innen nach Sowjetrussland oder wurden wegen "staatsfeindlicher Aktivitäten" aus Lettland ausgewiesen. Gleichzeitig wanderten rund 15.000 Personen auf der Flucht vor dem Sowjetregime nach Lettland ein. In den späteren Jahren des seit 1918 unabhängigen lettischen Staates war die Auswanderung niedrig, weil es aufgrund von Landreform und guter wirtschaftlicher Bedingungen nur noch wenig Motivation zur Auswanderung gab. Dennoch migrierten aus unterschiedlichen Gründen ca. 5.000 Menschen in die USA, 2.700 nach Brasilien und 4.500 nach Palästina.
Das Jahrzehnt zwischen 1939 und 1949 wird in Lettland als die "Zeit der Displaced Persons und Flüchtlinge" beschrieben. 51.000 Deutschstämmige machten sich 1939/40 im Rahmen einer von der Hitler-Regierung propagierten "Rückführung" ["Heim-ins-Reich-Politik"] auf den Weg nach Deutschland. Ihnen folgten in einer zweiten Welle im Winter 1941 bei der sogenannten "Nachumsiedlung", nachdem Lettland in die UdSSR eingegliedert worden war, weitere 10.500 Lettlanddeutsche. 15.424 Einwohner/-innen Lettlands (0,8 Prozent der Bevölkerung) wurden am 14. Juni 1941 vom Sowjetregime deportiert; rund 40 Prozent von ihnen starben später in Lagern oder im Exil. Im Sommer 1941 flohen aus Angst vor der drohenden Besetzung durch die Nationalsozialisten ca. 53.000 Menschen aus Lettland in andere Regionen der UdSSR. Insgesamt verlor Lettland so zwischen 1939 und 1941 rund 6,6 Prozent seiner Bevölkerung durch Repatriierung, Deportation und Flucht. Weitere 242.000 Personen (13,4 Prozent der Bevölkerung) gingen dem lettischen Territorium zwischen 1942 und 1945 durch verschiedene Arten erzwungener Migration verloren. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem eingezogene Soldaten der Wehrmacht oder der Roten Armee/Sowjetarmee und diejenigen, die vor dem Sowjetregime flohen. Die meisten dieser Flüchtlinge sowie ein Teil der ehemaligen Wehrmachtsangehörigen kam in die sogenannten DP-Lager (Displaced Person Camps), wanderte jedoch 1947 nach Auflösung dieser Lager weiter in aufnahmebereite Länder – vor allem in die USA (45.000), nach Australien und Kanada (jeweils 20.000), in das Vereinigte Königreich (17.000), nach Deutschland (15.000) und in andere Länder. Dies markierte den Beginn der lettischen Nachkriegsdiaspora.
Die größte Einwanderungswelle erlebte Lettland im Jahrzehnt nach der neuerlichen Besetzung durch die Sowjetunion, insbesondere in den Jahren 1946-1948. Zunächst kam es zu einer massenhaften Rückkehr von Flüchtlingen und Militärangehörigen sowie zu einem (teilweise zentral gesteuerten) Zustrom von Migrant/-innen aus anderen Teilen der Sowjetunion. Hierdurch wuchs die Bevölkerung Lettlands innerhalb von drei Jahren um mehr als 323.000 Menschen bzw. 21 Prozent. In den Jahren 1949/50 setzte sich die Rück- und Einwanderung fort, ihr Effekt wurde jedoch zum Teil wieder aufgehoben durch die bedeutendste gewaltsame Deportation der lettischen Geschichte: Vom 25. bis 28. März 1949 wurden durch sowjetische Streitkräfte 42.125 Personen (2,2 Prozent der Bevölkerung) nach Sibirien oder in den Fernen Osten der UdSSR deportiert. Rund 80 Prozent der Verschleppten kehrten, wenngleich erst Jahre später (vor allem 1956/57), nach Lettland zurück.
Unter der sowjetischen Herrschaft fand von 1951 bis 1990 weitere umfangreiche Zuwanderung aus anderen Teilen der Sowjetunion statt, hauptsächlich bedingt durch Entscheidungen der Zentralverwaltung über die Zuteilung von Ressourcen – wie z. B. Arbeitskräften – und durch den in Lettland gegenüber anderen Sowjetrepubliken höheren Lebensstandard. Infolgedessen sank der Anteil ethnischer Lett/-innen an der lettischen Bevölkerung bis 1989 auf 52 Prozent. Die Auswanderung aus Lettland war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unter dem Sowjetregime so gut wie unmöglich.
Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war von einer erheblichen Abwanderung der russischsprachigen Bevölkerung aus dem seit 1991 wieder unabhängigen Lettland nach Russland und in andere GUS-Staaten (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) geprägt. Auslöser der Wanderungsbewegungen waren drastische Veränderungen des politischen Systems, des dominierenden historischen Narrativs (das Russen in Lettland als Überbleibsel oder sogar aktive Teilnehmer der sowjetischen Besatzung darstellte), des sprachpolitischen Umfeldes, der Struktur der Arbeitskräftenachfrage sowie für viele Menschen auch der Verlust der Staatsbürgerschaft. In die 1990er Jahre fällt auch der Beginn der Auswanderung in den Westen, bei der die Migrant/-innen auf die Unterstützung durch lettische Nachkriegsflüchtlinge oder auf weniger formale soziale Netzwerke russischsprachiger Emigrant/-innen aus der Sowjetunion zurückgriffen. Dennoch umfassten die postsowjetischen lettischen Diasporen in den Interner Link: OECD-Ländern (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr als 20.000 Personen. Bemerkenswert ist auch, dass manche lettischen Nachkriegsflüchtlinge die Chance nutzten, in das unabhängige Lettland zurückzukehren.
Jüngere Phasen der Auswanderung aus Lettland
Die Geschichte der Auswanderung aus Lettland in den Jahren 2000-2016 lässt sich in vier Phasen unterteilen: (1) der Zeitraum vor dem Beitritt Lettlands zur Europäischen Union (2000-2003), (2) die durch Wirtschaftswachstum geprägte Phase nach dem Beitritt (2004-2008), (3) die Jahre der Wirtschaftskrise (2009/10) und (4) der auf die Krise folgende Zeitraum (2011-2016). Die Auswanderung im Vor-Beitritts-Zeitraum (2000-2003) war gekennzeichnet durch eine erhebliche positive Selektivität bezüglich des Humankapitals der Auswandernden – viele Auswandernde verfügten über höhere Qualifikationen als die in Lettland verbleibende Bevölkerung –, Überrepräsentation von Russischsprechenden und geografische Diversifizierung. Da die Auswanderung mit Schwierigkeiten verbunden war (Visumregelungen, Kosten usw.), lag die Netto-Abwanderungsrate lettischer Staatsangehöriger trotz hoher Anreize auf niedrigem Niveau (vgl. Tabelle).
Aufgrund der Freizügigkeit von Arbeitnehmer/-innen innerhalb der EU sowie durch die hohe und wachsende Nachfrage nach der Arbeitskraft von Migrant/-innen in der EU-15 sanken die monetären und nichtmonetären Kosten der Migration beträchtlich. Somit kam es im Zeitraum nach dem Beitritt Lettlands zur EU (2004-2008) zu einem Anstieg der Auswanderungsrate, der sich vor allem auf Pull-Faktoren zurückführen lässt. Trotzdem war nach den Daten des lettischen Amtes für Statistik (in der zitierten englischsprachigen Literatur: Central Statistical Bureau, CSB) unmittelbar nach dem EU-Beitritt 2004 noch kein massiver Anstieg der Auswanderungsrate zu verzeichnen. Die Migrationsbewegungen verliefen im Zeitraum nach dem Beitritt meist kurzfristig und/oder zyklisch.
Lettland gehörte zu den von der Großen Rezession am stärksten betroffenen europäischen Ländern. In Folge dieses wirtschaftlichen Abschwungs stieg auch die Auswanderungsrate steil an. In den Jahren der Großen Rezession (2009/10) gewannen sowohl ökonomische als auch nichtökonomische Push-Faktoren an Gewicht. Zahlreiche lettische Familien gerieten damals in Armut. Da sie die Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation im eigenen Land verloren, entschlossen sich viele, das Land zu verlassen. Während der Krisenjahre stieg die jährliche Netto-Abwanderungsrate aus Lettland auf mehr als das Doppelte. So nahm zwischen 2008 und 2011 die Zahl jener lettischen Bürger/-innen in der Altersgruppe der 15- bis 64-Jährigen, die in den vergangenen drei Jahren in einen anderen EU-Mitgliedsstaat zugezogen waren, um 47 Prozent zu. Zu den Haupttriebfedern der Auswanderung zählten ökonomische Faktoren – der Wunsch nach einem auskömmlichen Gehalt, nach Verbesserung der eigenen Lebensqualität und nach einem vermeintlich mittelschichttypischen Lebensstil. Beunruhigend an dieser krisenbedingten Auswanderungswelle war der wachsende Anteil junger Menschen sowie die Schwerpunktverlagerung hin zur Auswanderung ganzer Familien, die perspektivisch eine dauerhafte Beschäftigung und einen dauerhaften Aufenthalt im Ausland anstrebten. Aufgrund des negativen Wanderungssaldos in den Jahren 2009-2013 verlor Lettland 9,1 Prozent seiner Bevölkerung.
In den auf die Wirtschaftskrise folgenden Jahren hat zwar die Intensität der Auswanderung nachgelassen, jedoch liegt die Emigrationsrate weiterhin deutlich höher als vor der Krise und der Wanderungssaldo bleibt negativ. Das Arbeiten im Ausland ist zu einem integralen Bestandteil der lettischen nationalen Identität geworden und Auswanderung gilt mittlerweile als "die neue Normalität". Unter den Auswandernden sind Minderheiten und Universitätsabsolvent/-innen nach wie vor überrepräsentiert. Das Auswanderungspotenzial zeigt sich dauerhaft hoch und nur ein kleiner Teil der Ausgewanderten kehrt nach Lettland zurück oder plant die Rückkehr.
Hinweis: Als Netto-Abwanderung wird hier die Differenz zwischen Auswanderung und Einwanderung bezeichnet. Lesehilfe: Im Zeitraum 2000-2003 verlor Lettland netto 33,5 Personen pro 1.000 Einwohner/-innen durch eine die Einwanderung übersteigende Abwanderung. Das entsprach 1,4 Prozent der Bevölkerung zu Beginn der 2000er Jahre. Jährlich verlor Lettland im genannten Zeitraum damit durchschnittlich netto 0,35 Prozent seiner Bevölkerung durch Abwanderung. Quelle: Hazans, M. (2019). Emigration from Latvia. Brief History and Driving Forces in the Twenty-First Century. In: R. Kaša and I. Mieriņa, The Emigrant Communities of Latvia: National Identity, Transnational Belonging and Diaspora Politics. Springer, S. 35-68.
in 1000
Prozent der Bevölkerung zu Beginn der 2000er Jahre
Jährliche effektive Netto-Abwanderungsrate
2000-2003
33,5
1,4 %
0,35 %
2004-2008
75,9
3,2 %
0,65 %
2009-2012
125,0
5,3 %
1,41 %
2013-2016
56, 9
2,4 %
0,67 %
2000-2016
291,4
12,2 %
0,76 %
Merkmale der aktuellen Einwanderungsbevölkerung der ethnischen Minderheiten in Lettland
Raten der Einwanderung und Auswanderung in die baltischen Staaten
Die Einwanderungsrate liegt in Lettland weitaus niedriger als im Durchschnitt der OECD-Staaten und mit jährlich 0,5 Prozent der Bevölkerung auch niedriger als in den Nachbarländern Estland und Litauen (siehe Abb. 2). Im Jahr 2018 wanderten 10.909 Personen nach Lettland ein.
Die statistischen Angaben zum Herkunftsland der Eingewanderten sind nicht sehr aussagekräftig. Im Jahr 2018 hatten 41 Prozent der nach Lettland einreisenden Immigrant/-innen zuvor ihren Wohnsitz in einem anderen EU-Mitgliedsstaat (37 Prozent davon in den EU-15-Staaten), zwei Prozent in Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation (Interner Link: EFTA), 37 Prozent in einem GUS-Land und 20 Prozent in einem sonstigen Land. Allerdings waren ca. die Hälfte (48,2 Prozent) aller Einwandernden tatsächlich lettische Staatsbürger/-innen. Bei 7,5 Prozent handelte es sich um Bürger/-innen anderer EU-Staaten und bei 44,1 Prozent um Angehörige von Nicht-EU-Staaten. Somit stellen Lett/-innen, die in ihr Herkunftsland zurückkehren, einen bedeutsamen Anteil an allen Einwandernden. Ihre Rückwanderung ist nicht nur von einem pragmatischen Nutzen, sondern auch emotional motiviert.
Insgesamt sind 12,7 der lettischen Bevölkerung ausländische Staatsangehörige und von diesen sind wiederum der weit überwiegende Teil (218.000 von 246.000) Bürger/-innen aus Staaten, die nicht zur EU gehören. Die Mehrzahl der Eingewanderten ohne lettische Staatsangehörigkeit stammt aus GUS-Staaten, vor allem aus Russland (50 Prozent der im Ausland geborenen Bevölkerung), aber auch aus der Ukraine und Weißrussland. Die Motive ihrer Einwanderung nach Lettland sind zum einen der verbreitete Gebrauch der russischen Sprache in verschiedenen Sektoren der lettischen Wirtschaft und zum anderen die im Vergleich zu ihren Heimatländern höheren Löhne.
Motive der Einwanderung in die baltischen Staaten von Migrant/-innen der ersten Generation
Nach einer 2014 vom Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) durchgeführten Befragung wandert die überwiegende Mehrheit der Immigrant/-innen aus familiären Gründen nach Lettland ein (siehe Abb. 3). Unter ihnen befinden sich auch die Ehepartner/-innen von Rückkehrer/-innen. Arbeitsmigrant/-innen bilden gegenwärtig nur einen geringen Anteil aller Einwandernden.
Statistische Daten zu Erstaufenthaltstiteln zeigen, dass sowohl die Zahl der Aufenthaltsgenehmigungen, die für Arbeitsmigrant/-innen ausgestellt werden, als auch die Zahl der an internationale Studierende vergebenen Aufenthaltstitel niedrig ist (jeweils ca. 2.000 pro Jahr), aber langsam zunimmt. Bis 2014 wurden die meisten Aufenthaltstitel für Personen ausgestellt, die in Lettland in Immobilien oder Geschäfte investieren wollten (2014 ca. 5.000 Genehmigungen); diese Situation ändert sich jedoch aktuell aufgrund von Gesetzesänderungen. Die Gesamtzahl der 2016 ausgestellten Erstaufenthaltstitel belief sich auf ca. 6.500.
Lettland hat nur eine geringe Anzahl von Flüchtlingen aufgenommen. Von 1998 bis 2018 wurde insgesamt 180 Personen der Flüchtlingsstatus und 538 Personen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Im Jahr 2018 beantragten 176 Menschen in Lettland internationalen Schutz. In 23 Fällen wurde der Flüchtlingsstatus und in 24 Fällen ein anderer Schutzstatus gewährt. Sieben Personen wurden im Rahmen des Interner Link: EU-Resettlement-Programms aufgenommen. Die Hauptherkunftsländer der Asylsuchenden waren Russland, der Irak, Aserbaidschan, Ägypten und Vietnam.
Aus historischen Gründen ist die ethnische Zusammensetzung der lettischen Bevölkerung sehr vielfältig: 62 Prozent der Bevölkerung betrachten sich als Lett/-innen, 25 Prozent sind ethnische Russ/-innen, zwei bis drei Prozent Weißruss/-innen, Ukrainer/-innen oder Pol/-innen. Hinzu kommen Angehörige kleinerer ethnischer Minderheiten.
Die Einwanderungs-, Integrations- und Einbürgerungspolitik Lettlands
Negative Einstellungen gegenüber Zugewanderten beeinflussten die Entwicklung der Einwanderungs-, Integrations- und Einbürgerungspolitik Lettlands. Die weit überwiegende Mehrheit der Lett/-innen würdigt den Beitrag, den Eingewanderte zum Wirtschaftswachstum des Landes leisten, nicht und möchte ihnen nicht das Gefühl geben, willkommen zu sein. Nach Daten des Eurobarometers würden sich 49 Prozent der Befragten mit einem/einer Immigrant/-in als Nachbar/-in unwohl fühlen, nur 54 Prozent stimmen der Aussage zu, dass die Förderung der Einwanderung langfristig eine für das Land notwendige Investition darstellt. Insgesamt nimmt eine große Mehrheit der Bevölkerung die Einwanderung von Staatsangehörigen aus Nicht-EU-Staaten als negativ oder sehr negativ wahr. Ein sprunghafter Anstieg negativer Einstellungen war während der Interner Link: Migrationskrise von 2015 zu beobachten. Die Haltung gegenüber Eingewanderten hat sich seither nicht wesentlich verbessert.
Während das Nachbarland Interner Link: Estland gezielte Anstrengungen unternimmt, um für ausländische Arbeitskräfte attraktiv zu sein, indem es gesetzliche Regelungen anpasst und Maßnahmen zur Erhöhung der Attraktivität Estlands als Zielland ergreift, gewinnt in Lettland vor dem Hintergrund der negativen Einstellungen in der Bevölkerung die Erkenntnis, dass Zuwanderung für das Wirtschaftswachstum bedeutsam ist, nur langsam an Boden. Lettland hat bislang einen Ansatz verfolgt, der darauf zielt, die Zuwanderung einzuschränken und zu steuern. Die Einwanderungspolitik ist selektiv und auf den Schutz des einheimischen Arbeitsmarktes ausgerichtet. Dabei gibt es eine klare Präferenz dafür, den im Ausland lebenden Lett/-innen die Rückkehr zu erleichtern. Nichtsdestotrotz enthält die lettische Strategie für nachhaltige Entwicklung bis 2030 den Hinweis, dass demografische Veränderungen und Veränderungen des Arbeitsmarktes nicht nur nach einer gezielteren Unterstützung der Rückwanderung von ausgewanderten Lett/-innen verlangen, sondern auch Strategien für eine gezielte Arbeitsmigration notwendig werden lassen. Derzeit jedoch wird die potenzielle Attraktivität Lettlands für ausländische Arbeitskräfte durch Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit in Verbindung mit einer restriktiven Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftspolitik sowie einem ungenügenden Verständnis für eine nicht-diskriminierende Praxis und interkulturelle Kommunikation am Arbeitsplatz gemindert. Staatliche Stellen haben eine Liste mit Berufen erarbeitet, die an Arbeitskräftemangel leiden und für die Arbeitskräfte aus Drittstaaten angeworben werden können. Die Liste wird sowohl von Arbeitgeber/-innen als auch von Gewerkschaften ständig aktualisiert und kritisch hinterfragt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Gewinnung qualifizierter Arbeitskräfte. Die angeworbenen Arbeitskräfte müssen mindestens ein Gehalt erwirtschaften, das dem durchschnittlichen lettischen Bruttolohn im Jahr vor ihrer Einwanderung entspricht. Dennoch leidet die Attraktivität Lettlands als Zielland für Migrant/-innen nicht nur unter vergleichsweise niedrigen Löhnen, sondern auch unter einer ineffizienten Integrationspolitik.
Nach den Daten des Migrant Integration Policy Index (MIPEX) von 2015, der den Erfolg der Integrationspolitik verschiedener Länder misst, schneidet Lettland zusammen mit anderen mittel- und osteuropäischen Staaten schlecht ab. Lettland liegt hier in einer Liste von 38 europäischen und außereuropäischen Ländern auf Platz 37. Die größten Herausforderungen stellen sich im Zusammenhang mit dem dauerhaften Aufenthalt, der Familienzusammenführung und der Arbeitsmarktmobilität. Als Probleme, die einer Integration von Drittstaatsangehörigen in Lettland im Wege stehen, werden in der bestehenden Forschungsliteratur unter anderem genannt: unzureichende finanzielle Unterstützung für Asylsuchende und Flüchtlinge über einen zu kurzen Zeitraum (weniger als ein Jahr), ungenügender Zugang zu Sprachkursen, Diskriminierung (insbesondere bei der Arbeitssuche und Beschäftigung) sowie ein unzureichendes Verständnis für die spezifischen Bedürfnisse bestimmter Einwanderergruppen. Speziell betont wird die Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund, dass 60 Prozent der Drittstaatsangehörigen in Lettland nicht erwerbstätig sind und von den erwerbstätigen Drittstaatsangehörigen 67 Prozent weniger als den Durchschnittslohn erhalten. Insgesamt muss mit Blick auf die Förderung der Arbeitsmarktintegration und allgemeinen gesellschaftlichen Integration von Migrant/-innen berücksichtigt werden, dass Integration ein in zwei Richtungen verlaufender Prozess der wechselseitigen Anpassung ist, der sowohl den Eingewanderten als auch der aufnehmenden Gesellschaft Anstrengungen abverlangt.
Interessanterweise nennen auch lettische Rückwander/-innen eine Reihe von Schwierigkeiten bei ihrer Rückkehr nach Lettland, wie z. B. Probleme, eine Arbeit zu finden (40 Prozent), sich an eine andere Arbeitskultur zu gewöhnen (31 Prozent), fehlende Klarheit über steuerliche Regelungen (30 Prozent), die Gesundheitsversorgung (24 Prozent) sowie Schwierigkeiten, sich in eine Gesellschaft mit einer anderen Mentalität zu integrieren (26 Prozent). Lediglich 15 Prozent geben an, dass ihre Re-Integration problemlos verlaufen sei.
Die lettische Diaspora
Lettland gehört zu den Ländern Europas mit den höchsten Netto-Abwanderungsraten. Zwar fehlen genaue Daten, doch gehen Schätzungen davon aus, dass Lettland seit dem Jahr 2000 mehr als 260.000 Menschen (d. h. mindestens 13 Prozent seiner Bevölkerung) durch Auswanderung verloren hat. Die lettische Diaspora umfasst insgesamt schätzungsweise 370.000 Personen. Menschen, die aus Lettland auswandern, sind im Durchschnitt deutlich jünger und besser ausgebildet als die Menschen, die in Lettland bleiben. Russischsprechende sind unter den Emigrant/-innen überrepräsentiert und auch bei Familien mit Kindern oder Kinderwunsch ist die Wahrscheinlichkeit der Auswanderung höher.
Abwanderung lettischer Staatsangehöriger in Hauptzielländer der OECD 2000-2016
Im Laufe der Jahre haben sich die vorwiegenden Zielländer und deren relativer Anteil an der Abwanderung verändert. Dies hängt mit institutionellen und wirtschaftlichen Entwicklungen zusammen. Insgesamt lassen die Daten des lettischen Statistikamts erkennen, dass die große Mehrheit der Ausgewanderten in westeuropäische Länder gezogen ist, die deutlich höhere Lebensstandards und Löhne bieten: 84 Prozent der Langzeit-Emigranten sind in andere EU-Staaten ausgewandert (77 Prozent davon in die EU-15), sieben Prozent in GUS-Staaten, sieben Prozent in EFTA-Staaten und drei Prozent in sonstige Staaten. Die Hauptzielländer für lettische Migrant/-innen sind das Vereinigte Königreich, Irland und Deutschland. Die Auswanderung in die EFTA-Staaten hat zugenommen (siehe Abb. 4), wohingegen die Auswanderung in die GUS-Staaten rückläufig ist.
Nach aktuellen Berechnungen leben rund ein Drittel der emigrierten lettischen Staatsangehörigen im Vereinigten Königreich, zehn Prozent in Deutschland, acht Prozent in Irland und 13 Prozent in den USA (darunter überwiegend vor 1991 Ausgewanderte).
Um den befürchteten negativen Auswirkungen der Auswanderung auf die sozialen Sicherungssysteme in einer alternden Gesellschaft entgegenzutreten und um das wirtschaftliche Potenzial sowie die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft des Landes zu stärken, verfolgt Lettland seit 2013 eine bewusste Diasporapolitik. Ihr Ziel ist es, das Wissenspotenzial der Diaspora zu nutzen und die Rückwanderung zu erleichtern. In den vergangenen Jahren hat sich das Bewusstsein für das Potenzial der Diaspora verstärkt und ist die Zusammenarbeit mit ihr intensiver, umfassender und vielfältiger geworden. Im Jahr 2019 trat ein Diaspora-Gesetz in Kraft, mit dem mehrere Ziele verfolgt werden: die lettische Identität der Diaspora zu stärken; der Diaspora Möglichkeiten zu geben, ihre Bindungen an Lettland ungehindert zu knüpfen, zu pflegen und zu festigen; die Erhaltung der lettischen Sprache und Kultur in der Diaspora zu fördern; sowie eine Politik der systematischen und dauerhaften Unterstützung der Diaspora zu entwickeln und umzusetzen, die auch die Gewährleistung günstiger Bedingungen für die Rückwanderung umfasst. Nach Inkrafttreten des Gesetzes wurde 2019 ein sogenannter Diaspora-Beirat (Diaspora Advisory Council) gegründet, dem Vertreter/-innen von Diaspora-Organisationen sowie verschiedene Regierungsorgane und andere Institutionen angehören, die mit Fragen der Diaspora befasst sind (Bildungs- und Wissenschaftsministerium, Außenministerium, Kultusministerium usw.). In diesem Zusammenhang ist etwa die Unterzeichnung einer Kooperationsvereinbarung des lettischen Außenministeriums mit dem Weltbund freier Letten (PBLA) aus dem Jahr 2011 erwähnenswert. Im Rahmen der Diaspora-Politik werden verschiedene nicht-institutionelle Veranstaltungen organisiert, durch die der Ideenaustausch gefördert und die Bindungen mit der Diaspora gestärkt werden sollen. Ein Beispiel dafür sind Veranstaltungen des Weltwirtschafts- und Innovationsforums der Letten (PLEIF). Vertreter/-innen staatlicher Institutionen nehmen regelmäßig an Treffen von Diaspora-Organisationen sowie an Zusammenkünften für den professionellen Kontaktaufbau teil.
Dr. Inta Mierina ist Direktorin des Centre for Diaspora and Migration Research an der Universität Lettlands und Senior Researcher am Institut für Philosophie und Soziologie. Die Arbeit der Autorin an diesem Beitrag wurde vom Lettischen Nationalen Forschungsprogramm "Towards sustainable development and inclusive society in Latvia: response to demographic and migration challenges (DemoMig)" (Projekt Nr. VPP-IZM-2018 / 1-0015) unterstützt.
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