Seit März 2023 werden vom Statistischen Bundesamt Daten zur Bevölkerung nach Einwanderungsgeschichte veröffentlicht. Diese Unterscheidung wird parallel zum bislang genutzten Interner Link: Migrationshintergrund verwendet. Mit dem Konzept der Einwanderungsgeschichte setzt das Statistische Bundesamt die Empfehlung einer Fachkommission um.
Warum soll der „Migrationshintergrund“ abgelöst werden?
Eine von der Bundesregierung eingesetzte Fachkommission, die sich mit den Rahmenbedingungen des Einwanderungslandes Deutschland befasste, forderte im November 2020, im Rahmen amtlicher Statistiken den Begriff Migrationshintergrund nicht mehr zu verwenden und die „Migrationsbevölkerung“ klarer und zugleich enger als bisher zu definieren:
Dieser Empfehlung kam das Statistische Bundesamt nach. Allerdings nur zum Teil: So wurde die Veröffentlichung von Zahlen zum Migrationshintergrund nicht gänzlich eingestellt. Zudem wird zwar Einwanderung ab 1950 berücksichtigt und auch, dass beide Elternteile ab 1950 eingewandert sein müssen. Aber als neue Bezeichnung verwendet das Statistische Bundesamt für die zusammenfassende Kategorie nicht „Eingewanderte und ihre direkten Nachkommen“, sondern den Begriff „Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte“. Damit hat es eine Bezeichnung gewählt, die analog zum Migrationshintergrund eine Einteilung der Bevölkerung in mit und ohne Einwanderungsgeschichte ermöglicht. Die Fachkommission hatte keine Empfehlung gegeben, wie der nicht zur „Migrationsbevölkerung“ gezählte Bevölkerungsteil benannt werden soll. Das Statistische Bundesamt entschied sich für „ohne Einwanderungsgeschichte“.
Welche Personen werden künftig statistisch als „Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte" erfasst?
In der Unterscheidung nach Einwanderungsgeschichte werden Einwanderungen ab 1950 berücksichtigt. Definitionen gibt es mittlerweile (Oktober 2024) vier. So heißt es in der ersten Pressemitteilung zum neuen Konzept: „Eine Einwanderungsgeschichte haben nach dieser Definition [der Fachkommission] Personen, die entweder selbst oder deren beide Elternteile seit dem Jahr 1950 auf das heutige Staatsgebiet Deutschlands eingewandert sind.“ Daneben finden sich im zeitgleich erschienenen Hintergrundpapier, in einer weiteren Pressemitteilung vom April 2023 und im Externer Link: Glossar des Statistischen Bundesamtes weitere – leicht abweichende – Definitionen.
Als „Eingewanderte“ gelten demnach Personen, die seit 1950 nach Deutschland eingewandert sind. Als „Nachkommen“ werden statistisch Personen erfasst, die selbst in Deutschland geboren sind, aber zwei seit 1950 nach Deutschland eingewanderte Elternteile haben. Wenn nur ein Elternteil seit 1950 eingewandert ist, werden Befragte der neuen Kategorie „Personen mit einseitiger Einwanderungsgeschichte“ zugeordnet. Diese Kategorie wurde von der Fachkommission nicht vorgesehen. Die ca. fünf Millionen Personen mit einem ab 1950 eingewanderten Elternteil sollten nicht zur „Migrationsbevölkerung“ gezählt werden. Entgegen dieser Empfehlung werden sie nun separat ausgewiesen und somit zwar nicht zur „Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte“ gerechnet, aber auch nicht zur „Bevölkerung ohne Einwanderungsgeschichte“ (siehe Abbildung 1).
Wie unterscheidet sich die Definition der „Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte“ von der des „Migrationshintergrunds“?
Der ‚Migrationshintergrund‘ knüpft an die Staatsangehörigkeit durch Geburt an: Personen, die entweder selbst die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen oder mindestens ein Elternteil haben, auf das dies zutrifft, haben in der Statistik einen Migrationshintergrund. Erfasst werden so auch Personen, deren Eltern(teile) bereits in Deutschland geboren wurden und nicht eingewandert sind, die aber eben nicht durch Geburt Deutsche waren.
Anwendungsbeispiel 'Migrationshintergrund'
Mira ist in Deutschland geboren worden und aufgewachsen. Sie hat seit ihrer Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Auch ihre Eltern sind in Deutschland geboren worden. Ihr Vater hat sich erst im Erwachsenenalter einbürgern lassen. Bis dahin hatte er die türkische Staatsangehörigkeit wie seine Eltern, die Anfang der 1970er Jahre als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland eingewandert waren. Mira hat nach geltender Definition einen Migrationshintergrund.
Das Anwendungsbeispiel wurde von der Redaktion der bpb ergänzt.
Keinen Migrationshintergrund haben hingegen im Ausland geborene und aufgewachsene Kinder von „Durch-Geburt-Deutschen“, die irgendwann im Laufe ihres Lebens nach Deutschland einwander(te)n.
Anwendungsbeispiel 'kein Migrationshintergrund'
Luca ist in Argentinien geboren worden. Seine Eltern stammen aus Deutschland. Sie sind „Durch-Geburt-Deutsche“, also schon ihr Leben lang im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Beruflich haben sie einige Jahre in Argentinien verbracht. In dieser Zeit wurde Luca geboren. Als Luca 15 Jahre alt ist, kehren seine Eltern mit ihm nach Deutschland zurück. Für ihn ist Deutschland zu dieser Zeit noch ein fremdes Land, das er nur aus Urlauben kennt. Luca hat nach geltender Definition keinen Migrationshintergrund.
Das Anwendungsbeispiel wurde von der Redaktion der bpb ergänzt.
‚Einwanderungsgeschichte‘ hingegen bezieht sich direkt auf die eigene oder die Einwanderung beider Elternteile – allerdings mit der Einschränkung, dass nur Einwanderungen ab 1950 erfasst werden.
Anwendungsbeispiele 'Einwanderungsgeschichte'
Alexander und Dimitri sind als Kinder mit ihren Eltern aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert. Als Spätaussiedler erhielten sie bei der Einwanderung die deutsche Staatsangehörigkeit. Alexander und Dimitri zählen nach der geltenden Definition zur Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte: Sie sind Eingewanderte.
Kim ist in Deutschland geboren worden. Ihre Mutter stammt aus Frankreich, ihr Vater aus den USA. Beide kamen in den 1980er Jahren zum Studium nach Deutschland. Hier lernten sie sich kennen. Sie blieben in Deutschland, wo beide nach dem Studium einen Job fanden. Kim hat die deutsche, die französische und die US-amerikanische Staatsangehörigkeit. Nach der geltenden Definition zählt sie zur Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte: Beide Elternteile sind Eingewanderte.
Antonio ist in Deutschland geboren worden, wie seine Mutter. Sein Vater ist als Kind mit Antonios Großeltern aus Spanien nach Deutschland eingewandert. Antonio wird in die Bevölkerung mit ‚einseitiger Einwanderungsgeschichte‘ gezählt: Nur sein Vater ist seit 1950 eingewandert.
Florence ist im Jahr 2000 in Deutschland geboren worden und hier aufgewachsen. Deutschland ist auch das Land, in dem ihre Eltern geboren wurden. Florences Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits stammen aus Marokko, von wo sie Ende der 1960er Jahre nach Deutschland eingewandert sind. Florence und ihre Eltern sind marokkanische Staatsangehörige. Die deutsche Staatsangehörigkeit haben sie nicht. Als sogenanntes Interner Link: Optionskind hatte Florence die deutsche Staatsangehörigkeit zwar durch Geburt erhalten, sie stellte aber nicht rechtzeitig vor ihrem 21. Geburtstag einen Beibehaltungsantrag, weshalb sie den deutschen Pass wieder verloren hat. Nach der geltenden Definition zählt Florence in die Bevölkerung ohne Einwanderungsgeschichte: Weder sie noch ihre beiden Eltern sind nach Deutschland eingewandert.
Die Anwendungsbeispiele wurden von der Redaktion der bpb ergänzt.
Im Vergleich der Klassifikationen nach „Migrationshintergrund“ und „Einwanderungsgeschichte“ ergeben sich Veränderungen wie in Abbildung 2 dargestellt:
2023 zählten laut Mikrozensus 58,7 Millionen Personen zur Bevölkerung „ohne Einwanderungsgeschichte“. Das waren 0,5 Prozent bzw. 282.000 Personen weniger als in die Kategorie „ohne Migrationshintergrund“ fielen. Dabei handelt es sich um Personen, die selbst und ihre Eltern durch Geburt Deutsche sind. Dennoch sind Eltern(-teile) oder sie selbst eingewandert, so dass sie in der neuen Klassifikation je nach Konstellation als „Eingewanderte“ oder als „Nachkommen“ oder Teil der „Bevölkerung mit einseitiger Einwanderungsgeschichte“ reklassifiziert werden. Ein Beispiel sind im Ausland geborene und aufgewachsene Kinder von Deutschen, die bei einem Umzug nach Deutschland als „Eingewanderte“ gelten. Die Kategorie der „Bevölkerung mit Migrationshintergrund und ohne eigene Migrationserfahrung“ verteilt sich auf die „Nachkommen“ und die „Bevölkerung mit einseitiger Einwanderungsgeschichte“. Alle Menschen, die selbst und deren Eltern nicht ab 1950 eingewandert sind, fallen in die Restkategorie „ohne Einwanderungsgeschichte“. Darunter sind auch (wenige) ausländische Staatsangehörige, die selbst und deren Eltern in Deutschland geboren wurden.
Welche Stärken und Schwächen hat das neue Konzept?
Unterm Strich ist die Abgrenzung nach Einwanderung leichter nachzuvollziehen; sie knüpft unabhängig von der Staatsangehörigkeit an die eigene oder elterliche Migration an. Die Bezeichnung „Nachkommen“ mag (zu Recht) als problematisch wahrgenommen werden; sie zeigt, dass es sich wie beim ‚Migrationshintergrund‘ auch beim Konzept ‚Einwanderungsgeschichte‘ um eine Abstammungskategorie handelt. Die Bezeichnung „Eingewanderte“ macht klarer, um wen es geht, als die Bezeichnung „Person mit Migrationshintergrund und mit eigener Migrationserfahrung“, die bei der Unterscheidung nach „Migrationshintergrund“ verwendet wird.
Ferner suggeriert die zeitliche Abgrenzung, dass deutsche Einwanderungsgeschichte erst 1950 beginnen würde. Interner Link: Deutschland war jedoch auch schon zuvor ein Einwanderungsland. Insbesondere in der ‚Bevölkerung ohne Einwanderungsgeschichte‘ gibt es mit den Interner Link: deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs v.a. aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa sehr viel Einwanderungsgeschichte, die so verschwindet. Es hätte zur Normalisierung von Migration beigetragen auf die zeitliche Abgrenzung zu verzichten. Hier ging aber auch die Fachkommission in ihrer Empfehlung nicht über die etablierten Zugehörigkeitsvorstellungen hinaus.
Weiterhin werden Eingewanderte und ihre direkten Nachkommen unter einem anderen Label („mit Einwanderungsgeschichte“) analog zu „mit Migrationshintergrund“ zusammengefasst. Strenggenommen sind alle Menschen „Nachkommen“. Die Markierung von Nachkommen von Eingewanderten verdeutlicht, dass Herkünfte weiterhin unterschiedlich relevant gemacht werden – wie dies auch beim „Migrationshintergrund“ der Fall ist. Personen „mit einseitiger Einwanderungsgeschichte“ werden nicht mehr zur „Migrationsbevölkerung“ gezählt und verharren nunmehr in einem Zwischenstatus zwischen Bevölkerung mit und ohne Einwanderungsgeschichte.