Im März 2018 wurde zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Große Koalition (GroKo) aus CSU/CSU und SPD vereidigt. Um ihren Externer Link: Koalitionsvertrag hatten beide Seiten lange gerungen. Eine Zusammenfassung der darin festgelegten migrations- und integrationspolitischen Ziele findet sich Interner Link: hier. Haben Union und SPD ihre Vorhaben für die 19. Legislaturperiode umsetzen können?
Erwerbsmigration
Union und SPD konnten ihr Vorhaben umsetzen, die Zuwanderung von Fachkräften durch ein Gesetz zu erleichtern: Am 1. März 2020 trat das Interner Link: Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft. Dadurch haben sich vor allem Einwanderungsmöglichkeiten für beruflich qualifizierte Fachkräfte verbessert, deren Rechtsposition weitgehend an die akademisch qualifizierter Fachkräfte angeglichen wurde. Das Gesetz erleichtert zudem den Arbeitsmarktzugang durch den Wegfall der Vorrangprüfung für Fachkräfte mit Berufs- oder akademischer Ausbildung (d.h. es muss bei einer Fachkraft aus einem Drittstaat nicht mehr festgestellt werden, ob ein inländischer oder europäischer Bewerber zur Verfügung stünde). Für zuwanderungsinteressierte Fachkräfte wurde die zentrale Servicestelle Berufsanerkennung (ZSBA) eingerichtet, die seit dem 1. Februar 2020 Fachkräfte im Ausland dabei unterstützt, ihre beruflichen Abschlüsse und Qualifikationen in Deutschland anerkennen zu lassen. Denn ein anerkannter Abschluss ist weiterhin eine zentrale Voraussetzung für die Einwanderung von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland.
QuellentextAnerkennung von ausländischen Berufs- und Bildungsqualifikationen in Deutschland
2012 trat das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz (kurz: Anerkennungsgesetz) in Kraft. Es stellte die Weichen für einheitlichere und Interner Link: transparentere Verfahren zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen. Dadurch soll es gelingen, mehr Migrant:innen in Beschäftigungsverhältnisse zu bringen, die ihren Qualifikationen entsprechen. Das Gesetz etablierte einen Rechtsanspruch, die Gleichwertigkeit ihrer im Ausland erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüsse mit deutschen Abschlüssen prüfen zu lassen – und zwar unabhängig von Aufenthaltsstatus und Wohnort. Eine Anerkennung kann daher schon vor der Zuwanderung nach Deutschland angestrebt werden. 2019 geschah dies bei fast 30 Prozent der Anträge. Von 2012 bis 2019 sind in Deutschland insgesamt rund 351.900 Anträge zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufs- und Bildungsabschlüssen gestellt worden. In rund 100.000 Fällen wurde die volle Gleichwertigkeit mit einem deutschen Abschluss bescheinigt. Zu den antragsstärksten Berufen zählen Gesundheitsberufe, in denen in Deutschland ein Fachkräftemangel herrscht: Gesundheits- und Krankenpfleger:innen sowie Ärzt:innen. Das Anerkennungssystem ist allerdings weiterhin komplex, die Umsetzung des Anerkennungsgesetzes des Bundes und der Anerkennungsgesetze der Länder (für landesrechtlich geregelte Berufe wie das Lehramt) teilweise holprig. Um das Anerkennungssystem einheitlicher und effizienter zu gestalten und die Qualität der Entscheidungen zu verbessern, weisen verschiedene Berichte auf die Notwendigkeit eines einheitlichen Verwaltungsvollzugs und eines besseren Zusammenspiels der verschiedenen Akteure im Anerkennungsprozess hin.
Fußnoten
Begrenzung der Fluchtmigration
In ihrem Koalitionsvertrag betonten Union und SPD, dass es nicht mehr zu einer derart umfangreichen Einreise von Asylsuchenden nach Deutschland kommen dürfe wie 2015. Sie vereinbarten, dass die Aufnahme von Schutzsuchenden auf jährlich 180.000 bis 220.000 begrenzt werden solle. Seit 2018 ist dieser Wert nicht überschritten worden. Die Zahl der Asylanträge, die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingereicht wurden, sank von 222.683 im Jahr 2017 kontinuierlich auf 122.170 im Jahr 2020; allerdings sind die Asylzahlen 2020 vor dem Hintergrund der Interner Link: Corona-Pandemie und den damit eingehenden Einschränkungen grenzüberschreitender Reisemöglichkeiten zu sehen. Überdies hängt die gesunkene Zahl der Asylsuchenden in Deutschland weniger an einem restriktiven asylpolitischen Kurs der deutschen Bundesregierung, als an verschiedenen anderen Faktoren wie der Interner Link: Kooperation der EU mit zahlreichen wichtigen Transitländern von Schutzsuchenden wie Interner Link: Libyen und der Interner Link: Türkei. Diese Kooperationen stehen in der Kritik, weil sie die Verantwortung für Migrationskontrollen von den EU-Außengrenzen in Länder verlangen, in denen die Einhaltung der Menschenrechte nicht garantiert werden könne. Für Flüchtende ist es schwieriger geworden, nach Europa zu gelangen und von ihrem (Menschen-)Recht, Asyl zu suchen, Gebrauch zu machen. Hinzu kommen Grenzsperranlagen und -kontrollen entlang der sogenannten Westbalkanroute, über die Interner Link: 2015 die meisten Schutzsuchenden nach Deutschland gelangten. Eine Weiterreise aus Griechenland über die Balkan-Staaten bis nach Westeuropa ist damit kaum noch möglich.
Eingeschränkt hat die Regierungekoalition, wie von ihr beschlossen, den Familiennachzug zu Interner Link: Subsidiär Schutzberechtigten. Dieser war zwischen März 2016 und Juli 2018 komplett ausgesetzt und wurde im Anschluss auf ein Kontingent von monatlich 1.000 Menschen begrenzt.
Die Koalitionspartner hatten sich zudem vorgenommen, eine Fachkommission Integrationsfähigkeit und eine Fachkommission Fluchtursachen einzuberufen. Beide Kommissionen haben im ersten Halbjahr 2021 ihre Abschlussberichte vorgelegt. Aufgrund der Interner Link: Bundestagswahlen im September 2021 werden die darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Gestaltung der Integrations- und Flüchtlingspolitik erst von einer neuen Bundesregierung aufgegriffen und umgesetzt werden können.
Ein im Koalitionsvertrag festgehaltenes Anliegen von SPD und Union war auch die Minderung von Fluchtursachen. Um dieses Ziel zu erreichen, sprachen sich die Koalitionspartner unter anderem dafür aus, das Interner Link: UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und das Interner Link: UN-Welternährungsprogramm (WFP) finanziell angemessen ausstatten. Mehr Geld sollte auch an das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) fließen und ein Reformprozess angestoßen werden. Entsprechend hat Deutschland seine Finanzbeiträge zur Unterstützung der Arbeit der drei UN-Organisationen deutlich erhöht. Die Spenden an UNHCR stiegen von 142,8 Millionen US-Dollar im Jahr 2015 auf 446,9 Millionen US-Dollar 2020. Deutschland ist damit inzwischen der drittgrößte Geldgeber hinter den USA und der Europäischen Union. Dem WFP stellte Deutschland 2020 eine Rekordsumme von 1,06 Milliarden Euro zur Verfügung – fast viermal so viel wie 2015. Damit war Deutschland das zweitgrößte Geberland. Als die USA 2018 unter Präsident Donald Trump vorübergehend ihre Zahlungen an UNRWA aussetzten, stiegt Deutschland kurzzeitig zum wichtigsten Geberland der Hilfsorganisation auf. 2020 stellte die Bundesregierung UNRWA 210,4 Millionen US-Dollar zur Verfügung, die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge belief sich nach Angaben des Hilfswerks Ende 2020 auf 5,7 Millionen. Erste von der Bundesregierung unterstützte Reformen des Hilfswerks sind angestoßen worden: Sie beinhalten eine Modernisierungs- und Digitalisierungsstrategie, eine Managementreform sowie mehr Kosteneffizienz und die Etablierung eines vorhersagbaren Haushalts, um besser langfristig planen zu können.
Die finanzielle Ausstattung der drei UN-Organisationen durch alle Geberländer reicht dennoch nicht aus, um den tatsächlichen Bedarf zu decken. Sowohl die Zahl der zu versorgenden Menschen auf der Flucht als auch die Zahl derjenigen, die weltweit an Hunger leiden, ist gestiegen. Die Spenden, die UNHCR von Geberländern und dem Privatsektor zur Verfügung gestellt werden, decken regelmäßig nur 60 Prozent der vom Flüchtlingshilfswerk veranschlagten Summe zur Versorgung von Schutzsuchenden. Das WFP prognostiziert, dass die ihm für 2021 von Geldgebern zugesagten Mittel gerade einmal 55 Prozent des auf 15,3 Milliarden US-Dollar bezifferten Bedarfs zur Versorgung hungerleidender Menschen mit Lebensmitteln abdecken. Um Fluchtursachen entgegenzuwirken, einigten sich Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag darüber hinaus darauf, weitere Maßnahmen zu ergreifen, etwa die Stärkung von Entwicklungszusammenarbeit und Klimaschutz, die Ausweitung des Engagements in der Friedenssicherung, die Förderung einer fairen Handels- und Landwirtschaftspolitik sowie die Durchsetzung einer restriktiven Rüstungsexportpolitik. Aufgrund der Komplexität dieser Politikfelder ist die Frage, ob die vereinbarten Ziele der Koalitionspartner erreicht wurden, schwer messbar. Ein Beispiel ist die Interner Link: Rüstungsexportpolitik. So hat die GroKo 2019 politische Grundsätze für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern verabschiedet, womit die Vorgaben des Koalitionsvertrages aus dem Jahr 2000 umgesetzt wurden. Zudem hat sie einen Exportstopp für Kleinwaffen in Drittstaaten außerhalb von Interner Link: NATO und EU beschlossen. Nichtsdestotrotz erreichten die Rüstungsexporte im Jahr 2019 eine Rekordhöhe. Das Deutsche Institut für Menschenrechte kritisiert, dass Rüstungsgüter auch weiterhin in Länder exportiert werden können, in denen Menschenrechte verletzt werden und die in Konflikte verwickelt sind. Solcher Kritik hält etwa Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK), entgegen, dass eine restriktiv ausgerichtete Rüstungsexportpolitik Deutschland sowohl in Europa als auch international zu isolieren drohe, weil sie gemeinsame Rüstungsprojekte erschwere. Deutsche Waffen würden zudem in Kriegen und Bürgerkriegen keine wesentliche Rolle spielen.
Maßnahmen, Fluchtursachen zu bekämpfen, dürften durchaus punktuell greifen. So mögen etwa Cash-for-Work-Programme, die die Bundesregierung im Rahmen ihrer Beschäftigungsoffensive Nahost ausgebaut hat, dazu beitragen, dass sich für Syrerinnen und Syrer, die in Nachbarstaaten geflohen sind, (Über-)Lebensperspektiven vor Ort ergeben und sie nicht in Richtung Europa weiterreisen. Breitenwirkung haben solche Maßnahmen bislang allerdings nicht entfalten können. Dies liegt auch daran, dass es etwa in Fragen des Interner Link: Klimaschutzes oder der Interner Link: Friedenssicherung umfassender (struktureller) Reformen bedarf, die international getragen werden müssten.
Die weltweite Zahl der Menschen, die aus ihren Herkunftsländern geflohen sind, ist in den letzten Jahren weiter gestiegen. Ende 2020 belief sie sich laut UNHCR auf 34,4 Millionen.
Harmonisierung der Asylsysteme der EU-Mitgliedstaaten
In der Europäischen Union wollten sich die Koalitionspartner gemäß Koalitionsvertrag für eine Reform des Interner Link: Dublin-Systems einsetzen. Die EU-Kommission hat im September 2020 einen Vorschlag für ein neues Migrations- und Asylpaket vorgelegt, das einen Neuanfang in der Migrationspolitik anstoßen soll und eine "gerechte Aufteilung der Verantwortung und der Solidarität" bei der Flüchtlingsaufnahme anstrebt. Bislang ist aber nicht klar, ob sich die EU-Kommission mit ihren Reformvorschlägen wird durchsetzen können. Die Reform des Interner Link: Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) bleibt damit eine Baustelle auch für die nächste Bundesregierung. Bislang haben sich die EU-Institutionen darauf verständigen können, die Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) auszubauen.
QuellentextAusbau von Frontex und EASO
Die Grenzschutzagentur Frontex soll bis 2027 über eine ständige Reserve von 10.000 Grenzbeamtinnen und -beamten verfügen. Ein entsprechendes Gesetz wurde im April 2019 vom EU-Parlament gebilligt und im November desselben Jahres vom Rat angenommen. Es sieht zudem die Stärkung des Mandats der Grenzschutzagentur vor, sodass diese die Mitgliedstaaten zukünftig stärker bei Grenzkontrollen und Rückführungen technisch und operativ unterstützen kann. Außerdem ist eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten möglich, die sich nicht mehr nur auf die unmittelbaren Nachbarländer der EU bezieht.
Das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten haben zudem im Juni 2021 eine vorläufige Einigung erzielt, die vorsieht, EASO in eine EU-Asylagentur (EUAA) zu überführen. Sie soll zu einer stärkeren Angleichung der Asylsysteme der Mitgliedstaaten beitragen. Ab 2024 soll sie mehr Befugnisse bekommen, die Umsetzung der Asylgesetzgebung in den Mitgliedstaaten zu überwachen. Außerdem soll ein 500 Personen starker Sachverständigenpool eingerichtet werden, der im Falle eines unverhältnismäßigen "Migrationsdrucks" zur Verfügung stehen soll, um die Mitgliedstaaten in Asylfragen zu unterstützen.
Fußnoten
Neue Regeln für Asylverfahren
In ihrem Koalitionsvertrag einigten sich Union und SPD darauf, dass Asylverfahren zukünftig in sogenannten AnKer-Zentren (kurz für: Zentrum für Ankunft, Entscheidung, Rückführung) durchgeführt werden sollten, um Asylanträge "schneller" und "effizienter" bearbeiten zu können. Schutzsuchende sollen für die Dauer des gesamten Asylverfahrens in diesen Aufnahmeeinrichtungen verbleiben und im Falle eines abgelehnten Asylantrags aus diesen Zentren in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden. Im August 2018 ging das erste AnKer-Zentrum in Betrieb. Bundesweit durchsetzen konnten sich diese Zentren nicht. Nach Angaben des BAMF gibt es in Deutschland acht AnKer-Zentren, die sich auf drei Bundesländer verteilen: sechs in Bayern, eins im Saarland und eins in Sachsen (Stand: 17.09.2021). Allerdings gibt es in vielen anderen Bundesländern mittlerweile funktionsgleiche Einrichtungen, die aber andere Namen tragen (z.B. "Ankunftszentren").
QuellentextEvaluation der AnKer-Zentren
Eine 2021 veröffentlichte Evaluation der AnKer-Zentren und funktionsgleicher Einrichtungen, die vom Forschungszentrum des BAMF durchgeführt wurde, zieht eine recht positive Bilanz. Die Zusammenarbeit aller am Asylverfahren beteiligten Akteure in diesen Zentren trage dazu bei, dass Erstanträge auf Asyl im Schnitt fünf Tage schneller bearbeitet werden könnten als in anderen Aufnahmeeinrichtungen, bei Folgeanträgen sei eine Effizienzsteigerung um neun Tage zu verzeichnen. Das Interner Link: Dublin-Verfahren dauere hingegen in AnKer-Zentren und funktionsgleichen Einrichtungen genauso lange wie in anderen Aufnahmeeinrichtungen. Die Quote der tatsächlichen Überstellungen in den für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaat sei in AnKer-Zentren im Untersuchungszeitraum (August 2018 bis Juli 2020) jedoch geringer ausgefallen. Linke und Grüne kritisierten, es fehle an einer unabhängigen Untersuchung, insofern als dass das BAMF dem Bundesinnenministerium zugeordnet ist, auf dessen Betreiben diese Zentren überhaupt erst eingerichtet wurden. Die Gewerkschaft der Polizei hatte sich 2018 aus "verfassungsrechtlichen und sachlichen Erwägungen" gegen die Einrichtung von AnKer-Zentren gestellt. Massenunterkünfte, in denen Menschen über lange Zeiträume ohne Arbeit und Bewegungsfreiheit isoliert würden, Interner Link: förderten Aggressivität.
Fußnoten
Seit Inkrafttreten des "Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht" im August 2019 (sogenanntes Geordnete-Rückkehr-Gesetz) müssen Asylbewerber:innen in den Erstaufnahmeeinrichtungen in der Regel für maximal 18 Monate leben; Familien mit Kindern sind verpflichtet, bis zu sechs Monate in diesen Einrichtungen zu wohnen. Damit haben die Koalitionspartner ein weiteres Vorhaben aus ihrem Koalitionsvertrag umgesetzt. Mit dem Gesetz wurde auch die Grundlage für eine "freiwillige, unabhängige staatliche Asylverfahrensberatung" durch das BAMF geschaffen. An mittlerweile 44 Standorten bieten Mitarbeiter:innen der Behörde allgemeine Informationen zum Ablauf des Asylverfahrens sowie individuelle Beratung während des Verfahrens an. Dadurch sollen "Rechtsstaatlichkeit und Fairness, Qualität und Effizienz im Asylverfahren" verbessert werden.
QuellentextAsylverfahrensberatung – was steht in der Kritik?
Opposition, Wohlfahrtsverbände und Flüchtlingshilfsorganisationen kritisieren, dass eine Asylverfahrensberatung nur dann unabhängig sein könne, wenn sie von nicht-staatlichen Akteuren übernommen werde. Zudem sei eine individuelle Rechtsberatung nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz durch das BAMF nicht vorgesehen. Diese bieten Wohlfahrtsverbände, Kirchen und NGOs Schutzsuchenden seit vielen Jahren an – zumeist ausschließlich aus eigenen und EU-Mitteln finanziert, in einigen Bundesländern auch gefördert durch kommunale oder Landesmittel. Eine Bundesförderung ist für die von Wohlfahrtsverbänden und Zivilgesellschaft angebotene Asylverfahrensberatung in der 19. Wahlperiode durch die Große Koalition nicht eingeführt worden.
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Umgesetzt haben die Koalitionspartner auch ihr Vorhaben, Möglichkeiten zur Identitätsfeststellung von Asylsuchenden zu erweitern und das Ausländerzentralregister in Richtung einer zentralen Ausländerdatei weiterzuentwickeln. So wurde mit dem 2019 verabschiedeten Zweiten Gesetz zur Verbesserung der Registrierung und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken (2. Datenaustauschverbesserungsgesetz) das Mindestalter für die Abnahme der Fingerabdrücke von unbegleiteten minderjährigen Ausländer:innen von 14 auf sechs Jahre abgesenkt. Darüber hinaus hat das Gesetz die Möglichkeiten zur Nutzung des Ausländerzentralregisters (AZR) erweitert, auf das nun mehr Behörden Zugriff haben und das beispielsweise aktiv zur Prüfung von Sicherheitsbedenken in Asylverfahren genutzt werden kann – auch unter Berücksichtigung von Erkenntnissen der Bundespolizei.
Insgesamt ist der Druck auf Schutzsuchende gestiegen, denen die Behörden zuschreiben, Falschangaben bzgl. ihrer Identität zu machen oder sich nicht aktiv daran zu beteiligen, im Anschluss an einen abgelehnten Asylantrag an der Beseitigung von Abschiebehindernissen – wie etwa einem fehlenden Pass – mitzuwirken. So wurde mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz auch eine Interner Link: Duldung für Personen mit ungeklärter Identität eingeführt (sogenannte Duldung light). Diese wird Ausreisepflichtigen erteilt, denen vorgeworfen wird, über ihre Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht zu haben oder ihren Pflichten zur Beschaffung eines Passes (etwa durch persönliche Vorsprache bei der Botschaft) nicht nachgekommen zu sein. Die Inhaber:innen einer solchen Duldung dürfen nicht arbeiten, sie sind von Bleiberechtsmöglichkeiten wie der Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldung ausgeschlossen und dürfen nicht in einen anderen Landkreis umziehen; Asylbewerberleistungen werden ihnen gekürzt.
Seit Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylgesetzes im Dezember 2018 haben Asylbewerber:innen Mitwirkungspflichten nicht mehr nur in Asylverfahren oder bei der Beseitigung von Abschiebehindernissen, sondern auch in sogenannten Widerrufs- bzw. Rücknahmeverfahren. In diesen Verfahren prüft das BAMF spätestens drei Jahre nach einem unanfechtbar ausgestellten Asylbescheid, ob die Voraussetzungen, die zur Gewährung eines Schutzstatus geführt haben, nach wie vor gegeben sind. Die Betroffenen müssen dem BAMF nach Aufforderung nun mündlich oder schriftlich Fragen beantworten, Unterlagen wie ärztliche Gutachten besorgen und an einer (erneuten) Identitätsfeststellung mitwirken. Kommen sie diesen Pflichten nicht nach, kann ein Zwangsgeld verhängt werden. Mit der Einführung von Mitwirkungspflichten in Widerrufsverfahren haben Union und SPD ein weiteres Vorhaben aus ihrem Koalitionsvertrag umgesetzt.
Nicht umsetzen konnten sie hingegen ihren Plan, mehr Staaten zu Interner Link: sicheren Herkunftsländern zu erklären. 2018 unternahm die Regierungskoalition (erneut) den Versuch, die Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien sowie die ehemalige Sowjetrepublik Georgien zu Interner Link: sicheren Herkunftsländern zu erklären, scheiterte mit diesem Vorhaben nach Zustimmung durch den Bundestag allerdings im Bundesrat.
Rückführungen in die Herkunftsländer
Mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz wurden ferner auch Leistungskürzungen für weitere Personengruppen durchgesetzt, etwa Personen, denen in einem anderen EU-Staat bereits ein Schutzstatus gewährt wurde, die aber nach Deutschland weitergereist sind. Sie sind nicht länger nach dem Interner Link: Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt, sondern erhalten in der Regel lediglich für einen Zeitraum von zwei Wochen Sachleistungen als Überbrückungsleistungen zum Zweck der Ausreise. Außerdem ermöglicht es das Gesetz, Ausreisepflichtige leichter in Abschiebehaft zu nehmen und eine Mitwirkungshaft anzuordnen, wenn sie ihrer Passbeschaffungspflicht nicht nachkommen. Darüber hinaus setzt das Gesetz das Trennungsgebot aus: War es vorher nicht möglich, Personen, die abgeschoben werden sollen, in Einrichtungen für Strafgefangene unterzubringen, ist dies nunmehr möglich – wenn auch nur vorübergehend, bis der vom Bundesinnenministerium festgestellte Mangel an Abschiebehaftplätzen behoben ist. Ausreisepflichtige können bis zu zehn Tage in Ausreisegewahrsam genommen werden, auch wenn keine akute Fluchtgefahr besteht. Geben Behördenmitarbeiter:innen Informationen über eine geplante Interner Link: Abschiebung weiter, machen sie sich strafbar.
Trotz dieser Maßnahmen ist es der Union und der SPD nicht gelungen, ihr Vorhaben umzusetzen, die Zahl der Rückführungen zu erhöhen. Im Gegenteil: Die Zahl der Abschiebungen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Wurden 2017 23.966 ausländische Staatsangehörige Interner Link: aus Deutschland abgeschoben, waren es 2019 22.097 und 2020 10.800. Der deutliche Rückgang in 2020 ist allerdings auch auf Reisebeschränkungen im Kontext der Corona-Pandemie zu sehen. Auch die Zahl der Ausländer:innen, die Deutschland freiwillig im Rahmen entsprechender Förderprogramme (Externer Link: REAG/GARP) verlassen, ist rückläufig. Reisten 2017 29.522 Menschen freiwillig aus Deutschland aus, waren es 2019 13.053 und 2020 5.706. Auch hier ist die geringe Zahl der Ausreisen im Jahr 2020 auf die Corona-Pandemie zurückzuführen.
Integrationskurse und Teilhabe am Arbeitsmarkt
Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, wurde mit dem Externer Link: Nationalen Aktionsplan Integration (NAP-I) eine integrationspolitische Strategie für die 2020er Jahre vorgelegt. Er umfasst mehr als 100 Maßnahmen zur Förderung von Integrationsprozessen. Dem integrationspolitischen Leitsatz "Fördern und Fordern" bleibt er treu. Dabei gliedert der Plan den Integrationsprozess in fünf Phasen (1. Vor der Zuwanderung, 2. Erstintegration, 3. Eingliederung, 4. Zusammenwachsen, 5. Zusammenhalt), denen jeweils bis zu 24 Kernvorhaben zugeordnet sind. Diese wurden von Themenforen erarbeitet, in denen neben Vertreter:innnen der zuständigen Bundesministerien auch weitere Ressorts, Länder, Kommunen und zivilgesellschaftliche Akteure vertreten waren. Die Ergebnisse wurden auf den Integrationsgipfeln im Bundeskanzleramt 2020 und 2021 vorgestellt. Vorgesehen ist dabei auch die Entwicklung eines effizienteren kommunalen Interner Link: Integrationsmonitorings, um die Wirkung von Integrationsmaßnahmen zu messen und Wissen zur Steuerung von Integrationsprozessen zu generieren. Um das im Koalitionsvertrag vereinbarte Vorhaben eines intensivierten Integrationsmonitorings umzusetzen, hat die Bundesregierung zudem das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) beauftragt, Empfehlungen für die zukünftige "Ausgestaltung eines unabhängigen wissenschaftsbasierten Integrationsmonitorings auf Bundesebene" zu erarbeiten. Der in diesem Rahmen entstandene "Erste Bericht zum indikatorengestützten Integrationsmonitoring" wurde im März 2021 vom Bundeskabinett verabschiedet. Anhand der Auswertung nach verschiedenen Indikatoren wie Arbeit, Bildung und Wohnen bilanziert er Integrationsfortschritte und skizziert Nachholbedarfe. Davon ausgehend bietet er erste Ansatzpunkte, um integrationspolitische Instrumente zu verbessern. Mit Blick auf das Ziel der Koalitionspartner, die Repräsentanz von Eingewanderten und ihren Nachkommen in Unternehmen, gesellschaftlichen Einrichtungen und vor allem im öffentlichen Dienst zu erhöhen, zeigt der Bericht, dass hier noch viel Luft nach oben ist. Das bestätigt auch eine repräsentative Beschäftigtenbefragung im öffentlichen Dienst des Bundes. Demnach haben lediglich zwölf Prozent der Mitarbeiter:innen in der Bundesverwaltung eine familiäre Einwanderungsgeschichte, während sich ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung 2018 auf 25,5 Prozent belief.
Das Angebot der Interner Link: Integrationskurse wiederum hat sich in den letzten Jahren weiter ausdifferenziert. Neben dem allgemeinen Integrationskurs, der mit mehr als 350.000 Teilnehmenden 2018 und 2019 die am häufigsten besuchte Integrationskursart war, bietet das BAMF inzwischen auch sieben weitere Kursarten für spezielle Zielgruppen wie Frauen, Analphabet:innen und Zweitschriftlerner:innen an. Es wurden zudem mit dem bereits 2016 beschlossenen "Gesamtprogramm Sprache" Anstrengungen unternommen, die Integrationskurse inhaltlich mit berufsbezogenen Sprachkursen abzustimmen. Dennoch besteht weiterhin das Problem, dass die Integrationskurse häufig nicht hinreichend auf die unterschiedlichen (Sprach-)Vorkenntnisse und das heterogene Bildungsniveau der Teilnehmenden zugeschnitten sind und die Kursträger wenig Spielraum haben, das weitgehend einheitliche Kurskonzept an die jeweilige Lerngruppe anzupassen. In ländlichen Regionen können die speziellen Kursarten häufig wegen mangelnder Teilnehmer:innenzahl nicht angeboten werden. Der Bundesrat forderte 2019 in einer Entschließung eine "grundsätzliche Neugestaltung" der vom BAMF angebotenen Sprachkurse und in diesem Zusammenhang "die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebotes mit mehr Zielgruppenorientierung und Hilfestellungen für lernungewohnte und bildungsferne Personen".
Durchgesetzt haben die Koalitionspartner unterdessen ihr Vorhaben, zentrale Regelungen des 2016 beschlossene Interner Link: Integrationsgesetzes, insbesondere die darin verankerte Wohnsitzauflage für schutzberechtigte Ausländer:innen, zu entfristen. Demnach können auch in Zukunft anerkannte Asylbewerber:innen, die keiner sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen, von den Behörden verpflichtet werden, drei Jahre lang in einer bestimmten Kommune wohnen zu bleiben. Je nach Bundesland ist die Regelung unterschiedlich ausgestaltet; nicht alle Bundesländer haben sie durchgesetzt. Die Wohnsitzauflage ist umstritten. Ausländerbehörden und Kommunalverbände unterstützen sie, da sie eine Ballung von Schutzberechtigten in bestimmten Stadtvierteln und Kommunen verhindere; Wohlfahrtsverbände sehen hingegen negative Effekte für Integrationsprozesse. Das 2019 verabschiedete Gesetz zur Entfristung des Integrationsgesetzes sieht eine Evaluation der Wirkung der Wohnsitzauflage innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes vor.
Eingelöst haben Union und SPD ihr Versprechen, Länder und Kommunen weiterhin finanziell bei der Flüchtlingsaufnahme und -integration zu unterstützen. 2018 belief sich der Beitrag des Bundes auf 7,5 Milliarden Euro, 2019 auf 6,3 Milliarden Euro. Mit der reformierten Ausbildungsduldung und der seit Anfang 2020 existierenden Beschäftigungsduldung haben die Koalitionspartner zudem, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, Möglichkeiten für Geduldete geschaffen, perspektivisch ein gesichertes Aufenthaltsrecht in Deutschland zu erhalten. Bisher haben aber nur vergleichsweise wenige Geduldete davon profitieren und tatsächlich einen Aufenthaltstitel erhalten können. Wohlfahrtsverbände und Flüchtlingshilfsorganisationen kritisieren, dass die zu erfüllenden Voraussetzungen zu hoch seien.
Gesundheitsversorgung pflegebedürftiger Migranten
Migrant:innen sind im Alter viel häufiger armutsgefährdet als Personen ohne Migrationshintergrund. Das gilt vor allem für Drittstaatsangehörige, also beispielsweise ehemalige "Gastarbeiter:innen" aus der Türkei. Ihr körperlicher und psychischer Gesundheitszustand ist ebenfalls schlechter als der von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Gleichzeitig wächst die Zahl pflegebedürftiger Migrant:innen – Schätzungen zufolge auf fast 400.000 im Jahr 2030. Die Koalitionspartner hatten sich deshalb vorgenommen, die Gesundheitsversorgung von ehemaligen Gastarbeiter:innen zu verbessern und den Pflegebereich zu stärken. Ein 2019 veröffentlichter Bericht der Bundesintegrationsbeauftragten zeigt jedoch, dass es insbesondere in stationären Pflegeeinrichtungen weiterhin an kultursensiblen Angeboten mangelt. Auch wenn einige Modellprojekte vom Bund gefördert werden und beispielsweise das Bundesgesundheitsministerium seit 2020 die eLearning-Plattform "Vielfalt pflegen" anbietet, um transkulturelle Kompetenzen zu verbessern, bleibt eine bessere Gesundheitsversorgung von älteren Migrant:innen eine Baustelle für die nächste Bunderegierung.
Zivilgesellschaftliches Engagement und Bildungsbeteiligung
Mit dem Ziel einer "teilhabeorientierten Gesellschaftspolitik für alle Menschen" wollten Union und SPD gemäß ihres Koalitionsvertrags Jugendmigrationsdienste und Interner Link: Migrantenorganisationen stärken. Seit Herbst 2017 fördern Bundesfamilien- und Bundesinnenministerium im Rahmen der ressortübergreifenden Strategie "Soziale Stadt – Nachbarschaften stärken, Miteinander im Quartier" die Arbeit von Jugendmigrationsdiensten in benachteiligten Quartieren/Stadtteilen. Die Förderung wurde entsprechend einer Forderung von Trägern der Jugendmigrationsdienste nach einer "auskömmlichen Finanzierung" 2020 auf rund 60 Millionen Euro aufgestockt. Migrantenorganisationen wurden und werden vom Bund im Kontext verschiedener Projekte gefördert, beispielsweise im Rahmen der seit 2013 laufenden Strukturförderung und den 2015 initiierten "Houses of Resources". Ihre Rolle zur Förderung gesellschaftlicher Teilhabe wird auch im 2020 und 2021 vorgestellten Nationalen Aktionsplans Integration betont. 2019 hat das Bundesinnenministerium zudem eine Fachgesprächsreihe mit Vertreter:innen von etwa 20 Dachverbänden von Migrantenorganisationen ins Leben gerufen. Dadurch soll es gelingen, ihre Anliegen stärker einzubeziehen, beispielsweise im Hinblick auf Fragen gesellschaftlicher Integration.
Auch das Programm "Stark im Beruf", das Mütter mit Migrationshintergrund bei der Aufnahme einer existenzsichernden Beschäftigung unterstützt, hat die Große Koalition – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – fortgesetzt. Es läuft noch bis Mitte 2022. Darüber hinaus beteiligt sich der Bund mit rund 62,5 Millionen Euro an der im Oktober 2019 beschlossenen und auf eine Laufzeit von zehn Jahren angelegten Bund-Länder-Initiative "Schule macht stark". Dadurch sollen, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, Schulen in sozial schwierigen Lagen unterstützt werden – auch durch eine Kooperation zwischen Schulen und Wissenschaft.
Wie von den Koalitionspartnern vereinbart, wurde auch die Aufnahme gefährdeter Wissenschaftler:innen durch die Förderung der Mittlerorganisationen Alexander von Humboldt-Stiftung und Deutscher Akademischer Austauschdienst weiter unterstützt. Seit 2015 konnten beispielsweise 280 gefährdete Forschende ihre Arbeit durch ein Stipendienprogramm der Philipp Schwartz-Initiative der Humboldt-Stiftung an deutschen Forschungseinrichtungen fortsetzen. Die Zahl ausländischer Wissenschaftler:innen und Studierender an deutschen Hochschulen ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Im Wintersemester 2019/2020 waren rund 320.000 internationale Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben (2016: rund 250.000). Die wichtigsten Herkunftsländer internationaler Studierender waren China, Indien und Syrien. 2019 waren rund 51.800 wissenschaftliche und künstlerische Mitarbeitende an deutschen Hochschulen ausländische Staatsangehörige (2009: 29.700).
Fazit
Die Große Koalition hat seit ihrer Vereidigung im März 2018 die meisten ihrer im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben zur Gestaltung der Migrations-, Integrations- und Asylpolitik umgesetzt. Viele Herausforderungen aber bleiben bestehen: Die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, steigt weiter. Nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan stellen sich die Vereinten Nationen bereits jetzt auf die Interner Link: Flucht von Hunderttausenden Afghaninnen und Afghanen ein. Die nächste Bundesregierung wird sich wohl mit diesen Fluchtbewegungen und ihrem Umgang damit befassen müssen – und zwar auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Dass sich die EU-Mitgliedstaaten bislang nicht auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems einigen konnten, stellt in diesem Kontext eine zusätzliche Herausforderung dar. Eine gemeinsame Linie – auch mit Blick auf die Entlastung von wichtigen Aufnahmestaaten in Krisenregionen durch die Übernahme von Flüchtlingen über Resettlement-Programme – ist nicht in Sicht.
Wie können strukturelle Fluchtursachen wie Hunger, die Auswirkungen des Klimawandels oder bewaffnete Konflikte gemindert oder gar beseitigt werden? Auch das ist eine Frage, die die neue Bundesregierung und ihre internationalen Partner weiterhin beschäftigen wird.
Auf nationaler Ebene bedarf es einer Auseinandersetzung mit den rund 291.000 Menschen, die in Deutschland ausreisepflichtig sind und sich zumeist mit einer Duldung im Land aufhalten, welche sie wiederum in der Schwebe unsicherer Lebensperspektiven hält. Die Große Koalition hat in den letzten Jahren verstärkt daran gearbeitet, Rückführungen in die Herkunftsländer zu erleichtern, etwa durch die Ausweitung der Abschiebehaft und höheren Druck auf Ausreisepflichtige, die nicht aktiv an der Beseitigung von Abschiebehindernissen mitwirken. In vielen Fällen scheint eine baldige Rückkehr ins Herkunftsland dennoch nicht in Sicht. Das wird nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan insbesondere am Beispiel der in Deutschland lebenden ausreisepflichtigen 30.610 afghanischen Staatsangehörigen deutlich. Sollen sie weiterhin – vielleicht auf viele Jahre – mit Kettenduldungen in einem Schwebezustand gehalten werden oder sollen ihnen verstärkt Wege aufgezeigt werden, wie sie ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erlangen können? Auch das ist eine Frage, die sich die neue Bundesregierung vermutlich wird stellen müssen.
Ein weiteres derzeit stark debattiertes Feld ist die Frage chancengleicher gesellschaftlicher Teilhabe. Das betrifft z.B. die Möglichkeiten politischer Partizipation vieler Eingewanderter und ihrer Nachkommen. In Demokratien sind Wahlen die wichtigste Form politischer Partizipation. 12,6 Prozent (8,7 Millionen) der erwachsenen Menschen in Deutschland durften nicht an der Bundestagswahl 2021 teilnehmen, weil sie keine deutschen Staatsangehörigen sind. Zudem haben fünf Millionen Menschen auf kommunaler Ebene nicht das Recht, sich an Wahlen zu beteiligen, weil sie aus Nicht-EU-Staaten stammen; Staatsangehörige aus anderen EU-Staaten wiederum ist das Wahlrecht bei Kommunalwahlen gegeben.
Ebenso wird in letzter Zeit stark über die Auseinandersetzung mit Formen Interner Link: gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und Interner Link: Antisemitismus debattiert. Dabei stehen z.B. strukturelle und institutionelle Dimensionen von Diskriminierung und Interner Link: Rassismus im Fokus – angestoßen nicht zuletzt durch die Anschläge in Interner Link: Halle und Hanau sowie die Black Lives Matter-Bewegung. Schließlich geht es nicht um weniger als die große Frage, wie wir uns als Gesellschaft definieren und wie wir zusammenleben wollen. Viel zu tun also für die neue Bundesregierung.