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Migration nach Deutschland: Aktuelle Herausforderungen und zukünftige Entwicklungen | Deutschland | bpb.de

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Migration nach Deutschland: Aktuelle Herausforderungen und zukünftige Entwicklungen

Vera Hanewinkel Jochen Oltmer

/ 9 Minuten zu lesen

Deutschland hat in seiner Geschichte umfangreiche Zu- und Abwanderungsbewegungen erlebt. Heute haben mehr als 22 Prozent der Einwohner des Landes einen Migrationshintergrund. Die lange aufrecht erhaltene Maxime, Deutschland sei kein Einwanderungsland, blockierte migrations- und integrationspolitische Reformen jedoch bis in die 2000er Jahre hinein. Vor allem die in den Jahren 2015 und 2016 hohe Zuwanderung von Asylsuchenden löste emotional aufgeladene Debatten aus und stellt Politik und Gesellschaft vor erhebliche Herausforderungen.

Der Chor "Gesang der Kulturen" singt in der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Der Chor besteht aus Ausländern aus dem Asylbewerberheim "Seefichten" und Einwohnern aus beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenzstädte Frankfurt (Oder) und Slubice. (© picture alliance / ZB)

Das Jahr 2015 ist in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung Deutschlands als Jahr der "Flüchtlingskrise" eingegangen. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik war die Zahl der neu einreisenden Asylsuchenden höher. Die Reaktionen in der Bevölkerung schwankten zwischen euphorischer Aufnahmebereitschaft und gewaltsamer Abwehr der Schutzsuchenden, zwischen Willkommenskultur und Rufen nach Abschottung, zwischen Weltoffenheit und Nationalismus. Einerseits zeigte sich ein beispielloses Interner Link: zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete, das die Unterbringung und Versorgung der Schutzsuchenden oft erst ermöglichte, da die staatlichen Strukturen angesichts der schieren Zahl der Asylsuchenden zwischenzeitlich vollkommen überfordert schienen. Andererseits nahm die Gewalt gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte deutlich zu. Aufzeichnungen zufolge wurde im Schnitt jeden dritten Tag ein Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft verübt. Der Interner Link: rechtspopulistischen AfD, die das Thema Zuwanderung für sich instrumentalisierte, gelang der Einzug in mehrere Länderparlamente, teilweise sogar mit zweistelligen Zustimmungswerten. Bei der Bundestagswahl am 24.09.2017 erreichte die Interner Link: AfD bundesweit 12,6 Prozent der Zweitstimmen. Sie zieht damit als drittstärkste Fraktion in den Bundestag ein. Die gesellschaftliche Polarisierung konstatieren auch die Autoren einer Studie zu Interner Link: gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung Deutschlands: "Das Thema Flüchtlinge steht exemplarisch für die Gespaltenheit der Gesellschaft in eine Mehrheit, die Weltoffenheit, Toleranz und Gleichwertigkeit will und jene nicht ganz kleine und laute Minderheit, die Abschottung, nationale Rückbesinnung und Ungleichwertigkeit fordert."

Vor diesem Hintergrund erleben Fragen zur gesellschaftlichen Integration einen Bedeutungszuwachs: Wie können und wie wollen wir in Zukunft in diesem Land zusammenleben? Darauf müssen Politik und Zivilgesellschaft Antworten finden. Das zeigt auch eine repräsentative Umfrage in der wahlberechtigten Bevölkerung von Januar 2017: Demnach halten die Befragten das Thema Zuwanderung und Integration für das wichtigste Thema, um das sich die Bundesregierung 2017 kümmern sollte, gefolgt vom Thema Innere Sicherheit. Vor dem Hintergrund Externer Link: islamistisch motivierter Terroranschläge in Deutschland und anderen EU-Ländern hat das Thema Innere Sicherheit nicht nur an Bedeutung gewonnen, sondern wird auch zunehmend eng mit dem Diskurs über (Asyl-)Zuwanderung verknüpft. So wurde beispielsweise der Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt, bei dem im Dezember 2016 12 Menschen getötet und 48 weitere schwer verletzt wurden, von einem tunesischen Mann verübt, der als Asylsuchender in die Bundesrepublik gekommen war. Die Tatsache, dass er mit einer Interner Link: Duldung in Deutschland lebte, da er aufgrund fehlender Papiere nicht in sein Herkunftsland abgeschoben werden konnte, befeuerte die Debatte um schärfere Ausweisungsgesetze und eine effizientere Abschiebepraxis. Im Interner Link: Juli 2017 wurden durch das Externer Link: "Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht" strengere Regeln für Geduldete und Menschen eingeführt, die als "Gefährder" gelten. Demnach können Personen, von denen eine "Gefahr für Leib und Leben Dritter" ausgeht, leichter in Abschiebhaft genommen werden. Auch die Möglichkeit der Überwachung mithilfe einer elektronischen Fußfessel ist für diesen Personenkreis vorgesehen. Geduldete, die die Behörden über ihre Identität täuschen und nicht an der Beschaffung von Reisdokumenten mitwirken, sollen ohne Ankündigung abgeschoben werden dürfen. Außerdem wird ihre Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass sie den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde nicht verlassen dürfen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge darf zudem zukünftig Daten aus Laptops und Mobilfunktelefonen auslesen, um die Identität und Herkunft eines Asylbewerbers festzustellen. Asylsuchende "ohne Bleibeperspektive" können von den Bundesländern darüber hinaus verpflichtet werden, bis zu zwei Jahre – statt wie bislang maximal sechs Monate – in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen. Wie bereits andere Asylrechtsverschärfungen in den Jahren 2014-2016 ist auch dieses Gesetz bei Wohlfahrtsverbänden und Flüchtlingshilfsorganisationen auf Kritik gestoßen. Der Vorwurf: Alle Geflüchteten, die nach Deutschland kämen, würden wie potenzielle Straftäter behandelt und zunehmend entrechtet.

Der Fokus der Debatte hat sich verschoben: 2015 wurde über Fragen der Bewältigung der "Flüchtlingskrise" und eine mögliche "Belastungsgrenze" diskutiert. 2016 rückte vor dem Hintergrund einer stark rückläufigen Zahl neu einreisender Asylsuchender die Integration der langfristig in Deutschland verbleibenden Menschen in den Vordergrund. Parallel dazu erhielten Sicherheitsfragen mehr Aufmerksamkeit.

Wenn Fluchtzuwanderung als Sicherheitsrisiko wahrgenommen wird, dann ergibt sich daraus die logische Konsequenz, Abschottungsmaßnahmen auszubauen. In der EU setzt sich Deutschland dafür ein, EU-Anrainerstaaten wieder stärker in das europäische Grenzregime einzubeziehen. Das System der "Vorfeldsicherung" würde so wieder etabliert, das im Zuge des "Arabischen Frühlings" und der damit verbundenen Destabilisierung diverser Staaten in der Nachbarschaft der EU zusammengebrochen war. So gibt es neben dem Interner Link: Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei auch Bestrebungen, stärker Interner Link: mit Libyen zu kooperieren, dem wohl wichtigsten Transitland für Flüchtlinge und Migranten aus Afrika, die über das Mittelmeer in die EU gelangen wollen. Auch mit anderen afrikanischen Staaten wurden Abkommen getroffen. Sie verpflichten sich im Rahmen dieser sogenannten "Migrationspartnerschaften" dazu, die irreguläre Migration in Richtung Europa einzudämmen und abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen. Im Gegenzug stockt die EU ihre Entwicklungshilfe in diesen Ländern auf, um Fluchtursachen zu bekämpfen. Menschen sollen davon abgehalten werden, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Europa selbst schottet viele seiner Grenzen durch Zäune gegen Zuwanderer ab. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist zu einer Agentur für die Grenz- und Küstenwache ausgebaut und mit deutlich mehr Befugnissen ausgestattet worden. So soll sie die EU-Mitgliedstaaten beispielsweise auch bei der Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer unterstützen. Die Maßnahmen zeigen Wirkung: Die Zahl neu in der EU und damit auch in Deutschland ankommender Geflüchteter ist seit 2015 deutlich zurückgegangen. In den ersten sieben Monaten des Jahres 2017 kamen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) rund Externer Link: 117.000 (Flucht-)Migranten über das Mittelmeer nach Europa. Im gleichen Zeitraum wurden in Deutschland rund Externer Link: 106.604 Asylsuchende registriert.

Die rückläufigen Asylsuchendenzahlen werden von der Politik als Erfolg deklariert, von Menschenrechtsorganisationen werden die Entwicklungen allerdings mit Sorge betrachtet. Sie weisen daraufhin, dass die Abschottungsmaßnahmen dazu führen, dass zahlreiche Schutzsuchende erst gar nicht mehr die Möglichkeit erhalten, Asyl zu beantragen, ein Recht, dass ihnen gemäß UN-Menschenrechtskonvention zusteht. Weltweit sind mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Tendenz steigend. Die rückläufigen Asylsuchendenzahlen in Deutschland mögen über diese globale Flüchtlingskrise hinwegtäuschen. Die Frage nach Deutschlands humanitärer Verantwortung bleibt.

Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft

Das aktuell debattenbestimmende Thema Asyl und der Ruf nach einer Begrenzung der Fluchtzuwanderung verstellt den Blick darauf, dass Deutschland angesichts seiner demografischen Entwicklung auch in Zukunft auf Zuwanderung aus dem Ausland angewiesen sein wird. Bereits seit den 1970er Jahren liegt die Zahl der Sterbefälle in Deutschland höher als die Geburtenzahl. Ohne Zuwanderung aus dem Ausland würde die Bevölkerung schrumpfen. Die hohe Zuwanderung in den vergangenen Jahren hat zwar zu einem Wachstum der Bevölkerung beigetragen. Das Statistische Bundesamt geht aber dennoch davon aus, dass es sich dabei nur um einen Externer Link: vorübergehenden Trend handelt. Zudem kann eine hohe Zuwanderung überwiegend junger Menschen aus dem Ausland die Interner Link: Alterung der Bevölkerung Deutschlands zwar verlangsamen, aufhalten kann sie sie jedoch nicht. Immer mehr ältere Menschen werden immer weniger jüngeren Menschen gegenüberstehen. Dadurch wird es zukünftig auch einen Mangel an Arbeitskräften geben. In einigen Branchen und Regionen Deutschlands klagen heute schon viele Unternehmen über Probleme, geeignetes Personal zu finden. Fachkräfteengpässe gibt es vor allem in den Ingenieursberufen, im medizinischen und Pflegebereich. Die schrittweise Öffnung Deutschlands für (qualifizierte) Arbeitsmigration aus dem Ausland erklärt sich auch vor diesem Hintergrund: Die Lobbyarbeit der deutschen Wirtschaft für ein liberales Einwanderungsrecht hat zum Abbau von Zuwanderungsbarrieren und einem Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik beigetragen. Migration wird nicht mehr vehement abgelehnt und als Belastung (der Sozialsysteme) verstanden, sondern auch als Potenzial. Die migrationspolitischen Reformen haben dazu beigetragen, dass sich Deutschland im Bereich der Arbeitsmigrationspolitik nach Auffassung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu einem der liberalsten Länder im Vergleich der 35 Mitgliedstaaten der Organisation entwickelt hat. Die selektive Öffnung für qualifizierte Zuwanderung muss sich aber auch die Kritik gefallen lassen, dass Zuwanderer nur noch nach ihrer ökonomischen (und demografischen) Verwertbarkeit beurteilt und quasi als "Ware" verhandelt werden.

Um demografischem Wandel und Fachkräfteengpässen entgegenzuwirken, reicht eine hohe Zuwanderung allein nicht aus; die Zuwanderer müssen sich auch für einen langfristigen Aufenthalt in Deutschland entscheiden. Um diese Entscheidung positiv zu beeinflussen, wird seit einigen Jahren von Vertretern aus Politik und Wirtschaft über die Etablierung einer "Willkommens- und Anerkennungskultur" Interner Link: diskutiert. Dadurch soll Deutschland für potenzielle (qualifizierte) Zuwanderer attraktiver und für langfristig hier lebende Migranten und ihre Nachkommen zu einem echten "Zuhause" werden. Bezog sich der Begriff zunächst vor allem auf den Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland, so wurde er ab 2015 zunehmend mit der Flüchtlingsfrage verknüpft. Die Bilder von Deutschen, die Geflüchtete an Bahnhöfen willkommen hießen mit Applaus und Plakaten, auf denen der Slogan "Refugees welcome" zu lesen war, gingen um die Welt. Die anfängliche Willkommenseuphorie im "langen Sommer der Migration" kühlte sich anschließend deutlich ab. Die Zweifel wuchsen, ob Deutschland wirklich so viele Menschen integrieren könne. Studien der Bertelsmann Stiftung zur Willkommenskultur in Deutschland zeigen diesen Trend. So lautet ein zentrales Ergebnis der 2017 veröffentlichten Studie Externer Link: "Willkommenskultur im 'Stresstest'", dass sich Deutschland 2015 und 2016 zwar als "offene und gereifte Einwanderungsgesellschaft" präsentiert habe, die Skepsis gegenüber Einwanderung aber gewachsen sei. Befragte schreiben Zuwanderung 2017 seltener positive Auswirkungen zu als noch im Untersuchungszeitraum 2012-2015. Allerdings zeigen die Ergebnisse der Studie auch, dass die Einwanderungsgesellschaft insbesondere von der jüngeren Generation überwiegend als Normalität betrachtet wird.

Die zukünftige Bewertung von Zuwanderung wird auch davon abhängen, wie gut es gelingt, die zugewanderten Interner Link: Geflüchteten in die Gesellschaft zu integrieren. Dass dies nicht von heute auf morgen gelingt und es stattdessen eher einen langen Atem braucht, zeigt ein Externer Link: Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung am Beispiel der Arbeitsmarktintegration. Demnach zeigen Erfahrungen mit Fluchtzuwanderung in der Vergangenheit, dass fünf Jahre nach dem Zuzug nach Deutschland 50 Prozent der Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter einer Beschäftigung nachgingen. Nach 15 Jahren belief sich die Beschäftigungsquote auf 70 Prozent und entsprach damit derjenigen anderer Einwanderergruppen.

Dabei hängen Integrationsverläufe nicht nur von den Integrationsbemühungen der Zugewanderten ab, sondern auch von den Teilhabechancen, die ihnen die aufnehmende Gesellschaft bietet. Was für eine Gesellschaft wollen wir, was für ein (Einwanderungs-)Land soll Deutschland sein? Auch das wird zukünftig weiter ausgehandelt werden. Das Ergebnis der Externer Link: Bundestagswahl 2017 wird andeuten, in welche Richtung es (Externer Link: migrationspolitisch) geht.

Fazit

Tendenzen der Öffnung und der Schließung zugleich beherrschen die deutsche Migrationspolitik sowie die medialen und öffentlichen Debatten. Weder auf bundesdeutscher noch auf europäischer Ebene lässt sich der Wille ausmachen, ein migrationspolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln, das mittel- und langfristige Ziele für die verschiedensten Formen von Migration (EU-Freizügigkeit, Anwerbung von Hochqualifizierten und Arbeitskräften in Mangelbereichen, Bildungs- und Ausbildungsmigration, Umgang mit temporärer Zuwanderung, Asyl) formuliert und Instrumente entwickelt, die eine ganzheitliche Migrationspolitik ermöglichen. Erst wenn ein solches Gesamtkonzept vorläge, ließe sich deutlich machen, aus welchem Antrieb mit welcher Perspektive Migrationspolitik in Deutschland und Europa betrieben wird.

Dieser Text ist Teil des Interner Link: Migrationsprofils Deutschland.

Weitere Inhalte

Vera Hanewinkel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
E-Mail: E-Mail Link: vera.hanewinkel@uni-osnabrueck.de

Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
E-Mail: E-Mail Link: joltmer@uni-osnabrueck.de