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Migration aus Russland nach Georgien und Armenien

/ 8 Minuten zu lesen

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine sind hunderttausende russische Staatsangehörige ausgewandert, viele von ihnen nach Georgien und Armenien. Wer sind diese „neuen“ Migrant*innen?

Menschen versammeln sich im Mai 2023 in Georgiens Hauptstadt Tiflis, um zu protestieren, nachdem ein russisches Passagierflugzeug in Tiflis gelandet ist und damit den ersten Direktflug von Moskau nach Tiflis nach einer vierjährigen Unterbrechung am 20. Mai 2023 beendet hat. Die Demonstranten entrollten Flaggen von Georgien, der Ukraine und der Europäischen Union (EU) und trugen antirussische Transparente.
Protest in Georgiens Hauptstadt Tiflis im Mai 2023 nach dem ersten Direktflug eines russischen Passagierflugzeuges von Moskau nach Tiflis nach einer vierjährigen Unterbrechung. (© picture-alliance, Anadolu Agency | Mirian Meladze)

Als Grenz- und Kontaktraum zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer ist die Region Südkaukasus (Georgien, Armenien und Aserbaidschan) schon immer ein Ort der grenzüberschreitenden Mobilität und des Austausches gewesen. Die Migration aus Russland in den Südkaukasus geht auf die kolonial-imperiale Vergangenheit des russischen Zarenreiches zurück, die politische und wirtschaftliche Dimensionen der Migration aus Russland nach Georgien und Armenien bis heute beeinflusst. Zur Auflösung der Fußnote[1]

Als ein Gebiet, Interner Link: in dem sich kulturelle und politische Räume wie die russische, osmanische und persische Welt überschneiden

, ist der Kaukasus seit dem 19. Jahrhundert zum Gegenstand regionaler Machtpolitik geworden. In Kriegen mit dem Osmanischen Reich und Persien ist es Russland Mitte des 19. Jahrhunderts gelungen, die Kaukasusregion vollständig unter seine Kontrolle zu bringen. Vor diesem Hintergrund wird die Region aus der Perspektive des Kremls und der russischen Gesellschaft als „südliche Peripherie“ am Rande Europas und Asiens betrachtet.

Interner Link: Historisch gesehen

gab es mehrere größere Migrationsbewegungen unterschiedlicher Gruppen aus verschiedenen Regionen Russlands. Sowohl freiwillige als auch erzwungene Migration haben die Kaukasusregion nachhaltig geprägt. Zur Auflösung der Fußnote[2] Im Zuge der russischen Umsiedlungs- und Kolonisierungspolitik kamen neben dem Militär überwiegend russisch-orthodoxe religiöse Minderheiten, russische Bauern und Verwaltungseliten. Dabei siedelte sich die russische Bevölkerung im 19. und 20. Jahrhundert entweder als Arbeiter*innen, Fachkräfte und Kaufleute in den größeren Städten des Kaukasus an (Tiflis, Baku, Batumi, Jerewan, Gjumri) oder als religiöse Minderheit (Molokanen, eine Abspaltung der russischorthodoxen Altgläubigen) in ländlichen Gebieten. Zu Sowjetzeiten kamen hunderte russischsprachige Fachkräfte in den Südkaukasus, wo sie überwiegend in der Industrie tätig waren. Dennoch bildete diese Bevölkerung russischer Herkunft in Georgien und Armenien eine relativ kleine Minderheit, die wesentlich kleiner war als beispielsweise in Zentralasien oder in den baltischen Staaten.

Die Interner Link: politische Umbruchsituation der 1990er Jahre

führte zur deutlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der gesamten Sowjetunion und somit auch zu großen sozialen Umwälzungen im post-sowjetischen Kaukasus – einschließlich eines wachsenden nationalen Selbstbewusstseins und damit verbundenen inter-ethnischen Konflikten. In den 1990er Jahren erlebte die Region eine Abwanderung ethnischer Russ*innen und anderer slawischer Gruppen zumeist zurück nach Russland.

Wer kommt gegenwärtig nach Georgien und Armenien?

Der Beginn des Interner Link: Angriffskriegs Russlands gegen die gesamte Ukraine

im Februar 2022 hat zu einer neuen Auswanderungswelle aus Russland in den Südkaukasus geführt. Nach Kriegsbeginn und der darauffolgenden militärischen Teilmobilisierung in Russland im September 2022 verließen hunderttausende russische Bürger*innen ihre Heimat auf der Suche nach politischer und wirtschaftlicher Freiheit – aus Angst vor der Schließung der Grenzen, der Einberufung zum Kriegsdienst und in einigen Fällen aus Furcht vor politischer Verfolgung und Verhaftung in Russland. Die wichtigsten Zielländer dieser Migrant*innen waren Interner Link: Georgien und Interner Link: Armenien; in beiden Staaten benötigen russische Staatsangehörige kein Einreisevisum. Georgiens Hauptstadt Tiflis, die am Schwarzen Meer gelegene und drittgrößte georgische Stadt Batumi sowie Armeniens Hauptstadt Jerewan entwickelten sich zu den wichtigsten Zielen der neuen Migration aus Russland.

In zwei quantitativen Erhebungen (OutRush, Krawatzek et al.) stellte sich heraus, dass die meisten russischen Migrant*innen wirtschaftlich unabhängig, jung und gebildet sind und ein urbanes Konsumverhalten haben. Zur Auflösung der Fußnote[3] Bei ihrer Ankunft identifizierten sich die Migrant*innen in Georgien und Armenien überwiegend als „Relokanty“ Zur Auflösung der Fußnote[4], „Expats“ oder als „Exilrussen“. Im Unterschied zur lokalen Bevölkerung und zur russischen Gesamtbevölkerung sind sie wirtschaftlich bessergestellt. Vor dem 24. Februar 2022 waren der OutRush-Studie zufolge rund 94 Prozent erwerbstätig, 46 Prozent der Befragten können sich relativ teure Geräte leisten, verglichen mit 26 Prozent der russischen Gesamtbevölkerung. Sie sind in der Lage, Ressourcen und Kapital für die Organisation ihres Lebens an einem neuen Ort zu mobilisieren und dadurch die Dynamik des lokalen Marktes zu beeinflussen. Zur Auflösung der Fußnote[5] Dennoch sind die neuen Migrant*innen rechtlich und politisch in manchen Situationen vulnerabel, insbesondere in Georgien aufgrund antirussischer Einstellungen. Zur Auflösung der Fußnote[6]

Die moderaten Lebenshaltungskosten in Georgien und Armenien und das geringe Ausmaß rechtlicher Regelungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich machen die Ankunft für Russ*innen und die Anpassung an das Leben einfacher als in Europa. Viele Neuankömmlinge können entweder aus der Ferne arbeiten (IT-Bereich) oder verfügen über ausreichende Ersparnisse, um sich eine Zeit lang auch ohne Einkommen zu finanzieren. Erhebungen zufolge ist jedoch nicht klar, ob russische Migrant*innen längerfristig in Georgien und Armenien bleiben werden: Die meisten eingewanderten Russ*innen betrachten ihre Zufluchtsorte als Transitländer für eine mögliche weitere Emigration nach Europa, in die USA oder nach Lateinamerika. Zur Auflösung der Fußnote[7] Ende 2023 war die Abwanderung russischer Migrant*innen aus Georgien und Armenien bereits zu beobachten.

Viele der neuen Migrant*innen sind nicht nur jung und gut gebildet, sondern auch politisch interessiert und gesellschaftlich engagiert. Zur Auflösung der Fußnote[8] Interner Link: Umfragen ergaben

, dass 55 Prozent der Befragten politischem Druck ausgesetzt waren, bevor sie Russland verlassen haben. Zur Auflösung der Fußnote[9] Die meisten Befragten nannten in diesem Zusammenhang psychischen Druck, zehn Prozent wurden bei Protesten und Kundgebungen festgenommen und drei Prozent waren Opfer einer polizeilichen Hausdurchsuchung. 45 Prozent der Befragten gaben hingegen an, in Russland keinem politischen Druck ausgesetzt gewesen zu sein. Die Mehrzahl der neuen Migrant*innen war nach der Emigration zivilgesellschaftlich und politisch aktiv (80 Prozent).

Die meisten politisch aktiven russischen Migrant*innen ziehen es vor, in den Ankunftsgesellschaften unsichtbar zu bleiben und nicht an öffentlichen Protesten in Georgien und Armenien teilzunehmen. Sie wollen sich nicht in innere Angelegenheiten beider Länder einmischen. Entsprechend ist die Bereitschaft, lokale Sprachen zu lernen, sehr niedrig. Gleichzeitig entstehen in Tiflis und Jerewan sichtbare russische „Enklaven“ und Communities, die Migrant*innen eigene Co-Working Spaces, Cafés, Restaurants, Läden, Schulen und Treffpunkte anbieten. Zur Auflösung der Fußnote[10] Russische Migrant*innen haben z. B. zur georgischen Gesellschaft bisher nur wenig Kontakt entwickelt, auch auf der zivilgesellschaftlichen Ebene bestehen keine anhaltenden Kontakte. Zur Auflösung der Fußnote[11]

In Anbetracht der Tatsache, dass Georgien und Armenien bis vor Kurzem überwiegend Abwanderungsländer waren (Arbeits-, Bildungs- und Fachkräftemigration), stehen beide Länder angesichts der Zuwanderung von Russ*innen derzeit vor großen Herausforderungen. Während Georgiens Regierung eine tolerante Haltung gegenüber dem Zuzug russischer Migrant*innen zeigt und es ablehnt, Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu verhängen, steht die Mehrheit der georgischen Bevölkerung den Neuankömmlingen eher skeptisch gegenüber. Etwas anders stellt sich die Situation in Armenien dar. Armenien wird von russischen Staatsbürger*innen generell als ein ihnen gegenüber freundliches und sicheres Land betrachtet. Die Beziehungen zu Russland haben sich zuletzt allerdings aufgrund der fehlenden militärischen Unterstützung angesichts des Interner Link: Berg-Karabach-Konflikts

verschlechtert. Armenien distanziert sich seitdem offen von Russland, z.B. was die Mitgliedschaft in der Interner Link: Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und die russische Truppenpräsens in Armenien angeht. Zur Auflösung der Fußnote[12] Nicht alle russische Migrant*innen fühlen sich in Armenien sicher. Das gilt insbesondere für politisch engagierte Menschen, da die bislang engen Verbindungen Armeniens mit den russischen Sicherheitsdiensten bei zivilen Aktivist*innen Angst vor Verfolgung auslösen.

Die Reaktion der Ankunftsgesellschaft

Die Ankunft Hunderttausender russischer Bürger*innen nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine hat in den Zielländern wie Georgien und Armenien unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Generell ist die Einstellung der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Neuankömmlingen in Georgien überwiegend negativ, in Armenien hingegen eher positiv. Zur Auflösung der Fußnote[13]

In beiden Ländern wurden die russischen Migrant*innen innerhalb kurzer Zeit zu wichtigen wirtschaftlichen Akteuren und Verbrauchern, was sich auf die lokale Wirtschaft im Allgemeinen und auf die Mietpreise im Besonderen auswirkte: 2022 führte etwa der Zuzug russischer Migrant*innen zu spürbaren Engpässen auf dem Wohnungsmarkt und extremen Mietpreissteigerungen in Tiflis, was Interner Link: Gentrifizierungsprozesse

beschleunigte und in der ansässigen Bevölkerung zu einem diffusen Gefühl der Unsicherheit und des Misstrauens gegenüber den neuen Migrant*innen und der georgischen Regierung führte.

Laut einer repräsentativen Umfrage des International Republican Institute 2022 stellt Russland für fast 90 Prozent der georgischen Befragten eine Bedrohung dar. Zur Auflösung der Fußnote[14] Die Erinnerung an den Interner Link: russisch-georgischen Krieg im August 2008

, als Georgien die Interner Link: Kontrolle über die Regionen Südossetien und Abchasien verlor, ist noch frisch und erschwert die Kommunikation und die Annäherung zwischen russischen Migrant*innen und der georgischen Gesellschaft.

Antirussisches Graffiti in Tiflis, Georgien, mit der Aufschrift: Ruzzia is a terrorist state (deutsch: Russland ist ein Terrorstaat). Weiterhin sind auf der schwarzen Mauer eine Flagge der EU, der NATO, der Ukraine, der Vereinigten Staaten von Amerika sowie Georgien gesprayed (Aufnahmedatum: 10.09.2023).

Antirussisches Graffiti in Georgiens Hauptstadt Tiflis: "Russland ist ein terroristischer Staat" (Aufnahmedatum: 10.09.2023). (© Tsypylma Darieva)

In Georgien löste die Migration aus Russland Ängste aus: Viele sehen darin die Gefahr, dass der Kreml – wie auch in der Ukraine geschehen – Georgien militärisch angreifen könnte, um russische Staatsbürger*innen im Ausland vermeintlich „zu schützen“.

Die kritische Haltung gegenüber der Anwesenheit von Russ*innen in Tiflis spiegelt sich z. B. in zahlreichen städtischen Graffiti in englischer und russischer Sprache wider, etwa „Russia kills“ und „You are not welcome“. Da die Migrant*innen aus Russland zum wirtschaftlich stärkeren Bevölkerungsteil zählen, tragen sie zusätzlich zur sozialen Verunsicherung und Ungleichheit in Georgien (aber auch in Armenien) bei. Zur Auflösung der Fußnote[15] Viele Georgier*innen sehen die neuen Migrant*innen mit russischen Pässen als Symbol für die Besatzungs- und Kolonialmacht Russland und differenzieren kaum nach deren individuellen Motiven der Auswanderung.

Dieser Text wurde am 02.07.2024 aktualisiert. Es wurden Fußnoten überarbeitet und zusätzliche Literaturangaben ergänzt.

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