Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 wurde unter anderem als Reaktion auf das Versagen der Staaten verfasst, Menschen, die vor der Verfolgung durch Nazi-Deutschland flohen, Zuflucht zu gewähren.
Doch weltweit wenden sich Regierungen zunehmend von dem in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Schutz ab, indem sie Maßnahmen durchführen, die darauf zielen Asylsuchende abzuschrecken und ihnen den Zugang zu diesem Schutz zu verwehren.
Dabei haben Staaten in diesem Bereich zunehmend ein gemeinsames politisches Ziel: Sie wollen unerwünschte irreguläre Migrant/-innen und Asylsuchende von ihrem Hoheitsgebiet fernhalten. Die Genfer Flüchtlingskonvention mit ihren festgelegten Verpflichtungen setzen ihnen jedoch Grenzen. Gelingt es einem Staat aber, eine Politik zu entwickeln, die das politische Ziel der Abschreckung erreicht, ohne dabei die Flüchtlingskonvention offenkundig zu verletzen, finden sich schnell Nachahmer.
Die Gestaltung der Asylpolitik ist voneinander abhängig: Änderungen in der Politik eines Staates haben auch Auswirkungen auf andere Staaten. Direkt sichtbar wird dies daran, dass eine asylsuchende Person, der die Einreise in ein Land verweigert wird, in ein anderes Land zurückgedrängt wird. Auf einer indirekteren Ebene kann die Umsetzung einer restriktiven Asylpolitik in einem Staat zu einem Anstieg der Asylmigration in einem anderen Staat führen. In diesem kompetitiven Umfeld beobachten die Regierungen genau, was andere Staaten tun, und passen ihre Politik entsprechend an.
1. Historische Transfers
Diese Form des Wettbewerbs und die daraus resultierenden Transfers von restriktiven Einwanderungspolitiken sind nicht neu. Staaten beobachten und kopieren Grenzkontrollmaßnahmen schon so lange, wie sie versuchen, bestimmte Migrantinnen und Migranten aus ihrem Hoheitsgebiet auszuschließen. Eines der ersten Beispiele hierfür war die Ausbreitung ‚rassistischer Einwanderungskontrollmaßnahmen in den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Die ersten Gesetze dieser Art richteten sich im 19. Jahrhundert gegen chinesische Einwandererinnen und Einwanderer. Zu diesen Maßnahmen gehörten Landegebühren auf ankommende Migrantinnen und Migranten und Passagierbeschränkungen pro Schiff, die die Zahl der chinesischen Einwandererinnen und Einwanderer auf einen bestimmten Anteil an der Tonnage
Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden die rassistischen Beschränkungen auch auf andere ‚nicht-weiße‘ Personengruppenausgedehnt. Eines der wichtigsten Instrumente, die in dieser Zeit aufkamen, war der Alphabetisierungs- oder Diktattest: Einwandererinnen und Einwanderer mussten in einer bestimmten Sprache Formulare ausfüllen oder lesen und schreiben. Der Vorteil dieses Ansatzes bestand darin, dass die Staaten behaupten konnten, sie würden bestimmte Nationalitäten nicht gezielt oder offen diskriminieren – aber die Flexibilität des Tests und die Art seiner Durchführung erlaubten ihnen, genau das zu tun.
Die Ursprünge des Alphabetisierungstests lassen sich bis in die amerikanischen Südstaaten zurückverfolgen, die dieses Instrument in den 1890er Jahren nutzten, um Schwarzen das Wahlrecht zu entziehen.
2. Zeitgenössische Transfers
Heute lässt sich eine ähnliche Dynamik bei der Verbreitung restriktiver Asylpolitiken in der ganzen Welt beobachten. Als Beispiel ist das sogenannte australische Modell zu nennen: hiermit ist die australische Praxis gemeint, Boote mit Asylsuchenden an Bord auf See abzufangen und zurückzuweisen sowie Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern (sogenanntes Offshore Processing). Wenn Australien ein Boot nicht sicher zurückweisen kann, überstellt es die Asylsuchenden nach Nauru (und früher nach Papua-Neuguinea ), wo ihre Asylanträge geprüft werden. Flüchtlinge werden an diesen Orten ohne Aussicht auf eine dauerhafte Niederlassung in Australien verwahrt.
Dieses vermeintlich „australische Modell“ hat seinen Ursprung allerdings in den Vereinigten Staaten. Die US-Regierung hat seit 1981 Boote mit Migrantinnen und Migranten an Bord auf See abgefangen und zurückgedrängt – und nutzt seit 1991 Guantanamo Bay in Kuba, um dort Asylverfahren durchzuführen. Australien hat sich im Jahr 2001 bei der Entwicklung seiner Offshore-Verfahren und der Zurückdrängung von Booten direkt am Beispiel der USA orientiert.
Heute mehren sich in verschiedenen europäischen Staaten Rufe, das „australische Modell“ zu übernehmen.
Die Erfahrungen Australiens zeigen, welches Leid die Offshore-Verfahren verursachen können. Während der Zeit, in der die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) Flüchtlinge und Asylantragstellende in Nauru psychologisch betreute, die von Australien dorthin geschickt worden waren, berichtete sie MSF von einem beispiellosen Ausmaß an Traumata. Ein solches hatte die Organisation nicht einmal in den Kriegsgebieten beobachtet, in denen sie arbeitet.
Menschen auf unbestimmte Zeit in Haftanstalten in Drittstaaten festzuhalten, wie es Australien in Nauru und Papua-Neuguinea tut, ist nicht nachhaltig, da die Aufnahmeländer im Allgemeinen nicht bereit sind, eine dauerhafte Niederlassung zu gewähren. Papua-Neuguinea hatte zunächst erklärt, dass es den Menschen einen dauerhaften Aufenthalt gestatten würde – ähnlich wie es nun Ruanda im Rahmen des britischen Ruanda-Abkommens anbietet. Das Land änderte jedoch seinen Standpunkt, als es die politischen Auswirkungen vor Ort erkannte – ein erheblicher Teil der dorthin überstellten Personen wurde später doch nach Australien gebracht.
Aufwand und Ertrag der finanziellen Kosten der Offshore-Politik stehen in keinem auch nur annähernd angemessenem Verhältnis zueinander: Australien gibt regelmäßig jährlich mehr als eine Milliarde Dollar aus, um sich um eine kleine Anzahl von Flüchtlingen zu kümmern (mit Stand 31. Oktober 2023 hatte Australien seit 2012 insgesamt 4.194 Asylsuchende an Drittstaaten überstellt).
Die weitere Verbreitung von Offshore-Verfahren wird das internationale Flüchtlingsschutzsystem erheblich schwächen. Da die meisten Länder gegenwärtig um die Abschreckung von Asylsuchenden konkurrieren, könnte es zu einem Unterbietungswettbewerb (race to the bottom) von immer restriktiveren Politikmaßnahmen kommen. Bei der Ausarbeitung ihrer Asylpolitik wägen die Regierungen ab zwischen ihrer Wettbewerbsfähigkeit bei der Abschreckung unerwünschter irregulärer Einwanderung und dem Wert der Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen. Je mehr Staaten sich für Abschreckung statt für Schutz entscheiden, desto mehr Druck entsteht auf andere Staaten, es ihnen gleichzutun. Dieses Szenario hat – und wird auch in Zukunft – verheerende Auswirkungen auf die Möglichkeiten von in Gefahr schwebenden Menschen haben, in Sicherheit zu gelangen.
3. Schluss
Die Wirksamkeit der Genfer Flüchtlingskonvention und der in anderen Menschenrechtsabkommen festgelegten Schutzbestimmungen wird durch das Handeln der Staaten bestimmt. Die Umsetzung des internationalen Rechts erfordert Führungsstärke: Es braucht Staaten, die vorangehen und andere Staaten davon überzeugen, Flüchtlinge zu schützen. Wenn sich immer mehr Staaten – vor allem wohlhabende liberale Demokratien, die über die für diese Aufgabe erforderlichen Ressourcen verfügen – weigern, diese Führungsrolle zu übernehmen, wird dies zu einer Aushöhlung des universellen Grundsatzes des Asyls und des Flüchtlingsschutzsystems im Allgemeinen führen. In der Praxis bedeutet dies, dass noch mehr Asylsuchende in die gleiche Lage geraten werden wie die Menschen an Bord der SS St. Louis – auf dem Meer treibend, ohne irgendwo Zuflucht finden zu können.
Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel