Die Türkei zeichnet sich durch eine große informelle Wirtschaft aus.
Der Syrienkonflikt hat seit 2011 zu etwa sechs Millionen Flüchtlingen geführt. Mehr als die Hälfte dieser Kriegsflüchtlinge
Syrer auf dem türkischen Arbeitsmarkt
Mit Stand Juni 2023 hatten etwa 1,6 Millionen syrische Flüchtlinge Anspruch auf eine monatliche Unterstützung von 300 Türkischen Lira (etwas mehr als zehn Euro). Diese wird im Rahmen des von der Europäischen Union finanzierten humanitären Programms „Soziales Sicherheitsnetz für Notsituationen“ (Emergency Social Safety Net, ESSN) gewährt. Sobald jedoch eine formelle Beschäftigung aufgenommen wird, können sie diese Hilfe nicht mehr erhalten. Daher beantragen viele Syrerinnen und Syrer keine Arbeitserlaubnis, obwohl sie seit 2016 rechtlich dazu berechtigt sind. Diejenigen, die dennoch eine solche Genehmigung erhalten und eine formelle Beschäftigung aufnehmen wollen, dürfen dies nur in den Provinzen tun, in denen sie offiziell registriert sind, und die Anträge, die jedes Jahr erneuert werden müssen, können nur von ihren Arbeitgebern gestellt werden. Darüber hinaus gibt es eine Quotenbeschränkung für Arbeitgeber, da sie per Gesetz nur einen syrischen Flüchtling pro zehn einheimische Arbeitskräfte einstellen dürfen. Das Resultat dieser Bedingungen ist nicht überraschend: Obwohl 2,2 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei im erwerbsfähigen Alter sind, gehen nach Schätzungen der
Kinderarbeit
Nicht nur erwachsene Syrerinnen und Syrer sind mit den Risiken informeller Arbeitsverhältnisse – wie etwa Ausbeutung – konfrontiert. Auch Kinder sind davon betroffen – vor allem, wenn sie nicht zur Schule gehen. Von den 1,37 Millionen syrischen Kindern im schulpflichtigen Alter gehen 393.547 nicht zur Schule.
Was sind Sweatshops?
Bei Sweatshops handelt es sich zumeist um informelle Produktionsstätten, in denen die Beschäftigten unter unsicheren und ungesunden Bedingungen arbeiten, z. B. mit wenig Pausen, schlechter Belüftung, unzureichender Beleuchtung und hoher Lärmbelastung. Sie haben lange Arbeitszeiten und erhalten niedrige Löhne. Sweatshops sind besonders in der Textilindustrie in der Türkei weit verbreitet.
Kinderarbeit ist in der Türkei kein neues Phänomen. Sie ist tief in der Gesellschaft verwurzelt und zwar aus verschiedenen komplexen strukturellen Gründen: etwa Armut, niedrige Bildung, mangelnder sozialer Schutz, Land-Stadt-Migration oder begrenzte Möglichkeiten, Arbeit in einem formellen Beschäftigungsverhältnis zu finden.
Unabhängig von ihrem Alter sind Syrerinnen und Syrer, die in der informellen Wirtschaft in der Türkei arbeiten, in der Regel in schlecht bezahlten und prekären Jobs beschäftigt, vor allem wenn sie nicht gut Türkisch sprechen und vorher keine einschlägige Berufserfahrung hatten. Oft übernehmen sie Aufgaben, die sonst nur wenige für den gezahlten Lohn übernehmen würden. In vielen Sweatshops, die ich im Rahmen meiner Feldforschung in Istanbul persönlich besucht habe, handelt es sich um Arbeitsplätze in der lautesten und dunkelsten Ecke eines zum Atelier umfunktionierten Depots im Keller eines schlecht gewarteten Gebäudes. Dort ist eine typische Arbeitswoche, wenn man Glück hat, nur sechs Tage lang und umfasst etwa 60 Arbeitsstunden. Viel zu oft liegt die Entlohnung dabei unter dem Mindestlohn.
Informalität und die Rechte von Arbeitnehmenden
Allerdings ist auch die Informalität in der Türkei kein neues Phänomen. Verschiedenen Schätzungen zufolge war bereits vor der Ankunft der syrischen Flüchtlinge etwa ein Drittel der nichtlandwirtschaftlichen Beschäftigung informell. Und schon bevor Syrerinnen und Syrer in die informelle Wirtschaft strömten, litten (und leiden) türkische und kurdische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitskräfte anderer ethnischer Herkunft unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen, die mit geringer Bezahlung und prekären Arbeitsverhältnissen einhergehen. Untersuchungen zeigen, dass syrische Flüchtlinge, darunter auch Flüchtlingskinder, vor allem in den ersten Jahren des Konflikts eine noch ungünstigere Position innehatten, die sich später mit ihrer größeren Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgebern leicht verbesserte. Ungeachtet dessen arbeiten sie aber nach wie vor zu niedrigeren Löhnen, was die Spannungen zwischen einheimischen Arbeitnehmenden und Flüchtlingen in der
Informalität und Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie
Die Bekleidungsindustrie ist ein wichtiger Sektor der türkischen Wirtschaft. Nach Angaben des türkischen Handelsministeriums war das Land im Jahr 2022 der sechstgrößte Bekleidungslieferant der Welt und der drittgrößte Exporteur von Bekleidung in die EU. Gleichzeitig ist die Textilindustrie einer der wichtigsten Wirtschaftszweige, in denen die Flüchtlingsbevölkerung beschäftigt ist, da sie in hohem Maße auf informeller Produktion, billigen Arbeitskräften und prekären Beschäftigungsbedingungen aufbaut. Der Wettbewerbsdruck in der Textilindustrie ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Informalität in diesem Sektor in der Türkei so stark ausgeprägt ist.
Das Kernproblem der globalen Bekleidungsindustrie besteht darin, dass sie auf sehr kurze Produktionszyklen setzt und einen hohen Preisdruck auf die Auftragnehmer ausübt, was zu einer starken Nachfrage nach kostengünstigen und flexiblen Arbeitskräften führt. Untersuchungen zeigen, dass globale Marken zwar die legalen Textilhersteller direkt beauftragen, informelle Subunternehmerinnen und -unternehmer jedoch sofort – in der Regel uneingestanden – in diese Geschäftsbeziehung einbezogen werden. Die Art und Weise, wie sich der informelle und der formelle Sektor ergänzen, kann als Ergebnis des Zeit- und Kostendrucks seitens der globalen Auftraggeber betrachtet werden.
Der Elefant im Raum
Unterm Strich ist die globale Bekleidungsindustrie auf eine Produktionslinie angewiesen, die schnell liefert und wenig kostet. Dies scheint unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen nur durch die Massenbeschäftigung billiger Arbeitskräfte in Entwicklungs- und Schwellenländern wie der Türkei möglich zu sein. Der Preisdruck hat sich in den letzten Jahren so sehr verschärft, dass sogar einige türkische Marken die Produktion in Länder wie Vietnam, Kambodscha und Bangladesch auslagern, wo die Arbeitskräfte noch billiger sind. Daher ist eine gemeinsame Anstrengung erforderlich: 1) von Regierungen mit starken Mandaten, die Gesetze zum Verbot solcher Arbeitsrechtsverletzungen strikt durchzusetzen, 2) von globalen Marken, die sich entschieden dafür einsetzen, dass nichts von dem, was sie verkaufen, von unregulierten Auftragnehmern stammt, sowie 3) von Verbrauchern, die nie ein unter ausbeuterischen Bedingungen hergestelltes Kleidungsstück kaufen würden. In Anbetracht der Tatsache, dass es fast unmöglich erscheint, eine solche Allianz zu schmieden, und angesichts des anhaltenden strukturellen Problems der Armut außerhalb der entwickelten Welt, scheint eine schnelle Lösung für das derzeitige System von Missbrauch und Ausbeutung illusorisch.
Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel