Migranten, die nicht zählen
In westlichen Ländern gilt das Hauptinteresse in Migrationsfragen in erster Linie zwei Migrationsbewegungen: zum einen der Migration undokumentierter mexikanischer Migrantinnen und Migranten in die Vereinigten Staaten und zum anderen der Ankunft undokumentierter Migrantinnen und Migranten auf dem europäischen Kontinent, hauptsächlich aus Afrika und dem Nahen Osten.
Aber es gibt auch andere ebenso wichtige, gleichwohl weniger bekannte Migrationsprozesse. Ein Beispiel sind die Hunderttausenden undokumentierten Migrantinnen und Migranten aus Zentralamerika –
Diese Migrationsprozesse machen jedoch kaum Schlagzeilen – auch nicht in Mexiko. Sporadisch berichten mexikanische Medien, dass die Polizei Hunderte von Migrantinnen und Migranten gefunden hat, die unter unmenschlichen Bedingungen in ein Lagerhaus verschleppt worden waren, oder dass versteckte Massengräber mit den menschlichen Überresten von Dutzenden von Migrantinnen und Migranten entdeckt worden sind. Derartige Nachrichten erregen ein paar Tage lang Aufsehen, ehe das Interesse daran wieder verloren geht. Der salvadorianische Journalist und Schriftsteller
Kontext und Hintergrund
Die Migrantinnen und Migranten, die über Mexiko in die Vereinigten Staaten gelangen, kommen aus ganz unterschiedlichen Ländern: von Brasilien oder Venezuela bis Indien. Die überwältigende Mehrheit von ihnen stammt jedoch aus Zentralamerika und kommt hauptsächlich aus drei Staaten: Honduras, El Salvador und Guatemala. Mehr als 90 Prozent der in den mexikanischen Auffanglagern für Migrantinnen und Migranten festgehaltenen Menschen sind Bürgerinnen und Bürger dieser Länder.
Die Gründe der Migrantinnen und Migranten, ihre Länder zu verlassen, sind vielfältig und komplex. Einige wollen zu ihren Familien, die bereits in den Vereinigten Staaten leben. Doch die große Mehrheit wandert aus, weil sie womöglich keine andere Wahl hat. Gerade in ihren Herkunftsländern El Salvador, Guatemala, Honduras leben sie unter prekären Bedingungen in extremer Armut. Zudem
Gleichzeitig wissen die Migrantinnen und Migranten, dass sie in den USA die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften befriedigen; dass es genügend Unternehmen gibt, die nach Arbeitskräften wie ihnen suchen: verletzliche Menschen ohne Papiere, die sie für sehr niedrige Löhne einstellen können. Dieser Migrationsprozess wird auch durch die sogenannte Migrationsindustrie ermöglicht: eine Vielzahl von Akteuren, die Geld verdienen, indem sie die undokumentierte Migration durch Mexiko erleichtern. Dazu gehören Transportunternehmen, die Migrierende befördern sowie Agenturen, die Visa ausstellen, Geburtsurkunden fälschen und Migrantinnen und Migranten mit potenziellen Arbeitgebern zusammenbringen. Es gibt aber auch eine Gruppe von Unternehmen, die von der illegalen Einwanderung in die USA profitieren: Privatunternehmen, die von der US-Regierung beauftragt werden, Migrantinnen und Migranten ohne gültige Einreise- und Aufenthaltserlaubnis festzunehmen und abzuschieben. Mit anderen Worten: Es gibt viele Menschen in Mexiko und den USA, die direkt oder indirekt von der undokumentierten Migration wirtschaftlich profitieren.
Migranten auf der Durchreise durch Mexiko
Die Migration von Menschen aus Zentralamerika in die Vereinigten Staaten ist nicht neu. In den letzten dreißig Jahren jedoch hat die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die sich auf diese Reise begeben, aufgrund der zunehmenden Gewalt und Armut in ihren Herkunftsländern erheblich zugenommen. Die meisten dieser Menschen sind nicht daran interessiert, in Mexiko zu bleiben, sondern wollen so schnell wie möglich in die Vereinigten Staaten gelangen.
Vor 2006 berichteten Transitmigrantinnen und -migranten über Misshandlungen durch mexikanische Behörden, vor allem durch die Migrationsbehörden: willkürliche Verhaftungen, Fehlen eines ordnungsgemäßen Verfahrens und Inhaftierung unter erbärmlichen Bedingungen in vom mexikanischen Staat eingerichteten und betriebenen Haftanstalten. Seitdem hat sich dieses Muster jedoch verändert und Migrierende werden zunehmend Opfer von Übergriffen, die hauptsächlich von Mitgliedern organisierter krimineller Gruppen begangen werden: Massenentführungen, Massentötungen, Folter, Verschwindenlassen, Menschen- und Organhandel sowie Vergewaltigungen. Im Jahr 2011 veröffentlichte die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH), die wichtigste Regierungsbehörde zum Schutz der Menschenrechte in Mexiko, eine Untersuchung, aus der hervorging, dass jedes Jahr etwa 20.000 Migrantinnen und Migranten entführt werden. Die Eskalation der Gewalt gegen Transitmigrantinnen und -migranten in Mexiko muss im Kontext des so genannten
Die Migrationsindustrie
In den letzten zehn Jahren haben die Drogenkartelle in Mexiko zunehmend neue Geschäftsfelder erschlossen: Sie sind nicht mehr nur im Drogenhandel tätig, sondern auch im Handel mit Benzin, landwirtschaftlichen Erzeugnissen, im Bergbau, in der Fischerei, im Menschenhandel sowie in der Entführung und Erpressung von Migrantinnen und Migranten. Die kriminellen Organisationen verlangen von den entführten Migrantinnen und Migranten oder ihren Familien hohe Geldsummen. Diejenigen, die nicht zahlen, werden zu Zwangsarbeit und sexueller Ausbeutung gezwungen – oder getötet. Die massenhafte Entführung von Migrierenden durch kriminelle Banden ist möglich, weil auch mexikanische Behörden in diesen Prozess verwickelt sind. So haben Migrantinnen und Migranten auf der Durchreise ausgesagt, dass sie von Mitarbeitenden der Migrationsbehörden, der Polizei oder des Militärs an „Migrationskontrollpunkten“ oder in Passagierbussen zwar angehalten werden, aber anstatt in einem staatlichen Auffanglager für Migrantinnen und Migranten zu landen, an das organisierte Verbrechen verkauft werden. Diese Staatsbediensteten sehen in den Migrierenden eine Möglichkeit, zusätzliche Einkünfte zu generieren. Die massenhafte Entführung von Migrantinnen und Migranten ist ein lukratives Geschäft, das nach Schätzungen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (IACHR) jedes Jahr mindestens 50 Millionen US-Dollar einbringt.
Das Geschäft mit den Migrantinnen und Migranten floriert vor dem Hintergrund verschärfter Einwanderungskontrollen. Diese drängen die Migrierenden auf längere und gefährlichere Migrationsrouten, weshalb sie oft auf die Hilfe von Schmugglern (auch „Kojoten“/coyotes genannt) angewiesen sind, um durch Mexiko und über die Grenze in die USA zu gelangen – was ihre Vulnerabilität erhöht.
An der Migrationsindustrie sind jedoch nicht nur Mitglieder krimineller Organisationen und Regierungsbeamte beteiligt, sondern auch normale Bürgerinnen und Bürger. Auch sie profitieren von der unerlaubten Durchreise von Migrantinnen und Migranten. So werden beispielsweise Mexikanerinnen und Mexikaner, die in der Nähe der Orte leben, an denen Migrierende von kriminellen Banden festgehalten werden, angeheuert, um die Menschen zu bewachen, ihnen etwas zu essen zu bringen oder diese geheimen Lager zu reinigen. Sie verdienen aber auch Geld, indem sie Migrantinnen und Migranten für Taxifahrten, Hotelübernachtungen oder andere Dienstleistungen einen Aufpreis berechnen.
Externalisierung von Migrationskontrolle
Die Kontrolle von Migration in Mexiko ist kein neues Phänomen. Bereits in den späten 1980er Jahren taten sich Mexiko und die USA zusammen, um den Zustrom von Menschen aus Zentralamerika einzudämmen, die vor Bürgerkriegen in ihren Heimatländern flohen. In den 1990er und frühen 2000er Jahren verstärkte Mexiko unter dem Druck der USA, die Migration einzudämmen, die Kontrollen auf den wichtigsten Transitrouten. Daraufhin begannen die Migrierenden, nach Möglichkeiten zu suchen, sich den Kontrollen zu entziehen. Sie versuchten beispielsweise, auf dem Dach von Güterzügen durch Mexiko zu reisen. Mit dem von der mexikanischen Regierung geführten „Krieg gegen die Drogen“ sind die Migrationsrouten noch gefährlicher geworden – und der Druck der USA, die Migrantinnen und Migranten daran zu hindern, die mexikanisch-US-amerikanische Grenze zu erreichen, hat weiter zugenommen.
Im Juli 2014 rief Mexiko das von den USA finanzierte Programm „Frontera Sur“ ins Leben, das Migrierende bereits an der Südgrenze Mexikos aufhalten soll. Tendenziell ist die Zahl der in Mexiko aufgegriffenen irregulären Migrantinnen und Migranten seither gestiegen (auch wenn die Zahlen schwanken), und die Transitrouten durch Mexiko sind noch stärker militarisiert worden.
2018 begannen Migrantinnen und Migranten
Im Juni 2019 schickte die mexikanische Regierung, wiederum auf Druck der USA, 25.000 Mitglieder der Nationalgarde an die mexikanische Grenze zu Guatemala und erhöhte ihre Zahl nach der Ankunft neuer Migrantenkarawanen im Januar 2020 noch weiter.
Insgesamt wurden die Migrationskontrollen zunehmend von der Grenze zwischen Mexiko und den USA auf mexikanisches Territorium und an die Südgrenze des Landes verlagert (sogenannte Externalisierung). Allerdings gelang es nicht, die irreguläre Migration durch Mexiko signifikant einzudämmen, da die Triebkräfte für diese Bewegungen – Armut, Gewalt, politische Instabilität – nicht beseitigt wurden und die Menschen weiterhin aus ihren zentralamerikanischen Herkunftsländern vertreiben. Ebenso ziehen Pull-Faktoren wie die Beschäftigungsmöglichkeiten in der Schattenwirtschaft in den USA und der Mythos des „amerikanischen Traums“ nach wie vor Migrantinnen und Migranten an. Darüber hinaus sind viele Akteure entlang der Migrationsrouten, darunter auch staatliche Stellen, nicht wirklich daran interessiert, die Migrationsbewegungen wesentlich einzudämmen, da sie für die an der Migrationsindustrie Beteiligten wirtschaftliche Vorteile bringen.
Schlussfolgerung: Migranten als Wegwerfware
Die Migration von Menschen aus Zentralamerika durch Mexiko geht mit einem Prozess der radikalen Entmenschlichung einher. Undokumentierte Migrantinnen und Migranten werden nicht mehr als Menschen betrachtet, sondern als Dinge, als Waren, mit denen Geld verdient werden kann, die aber entbehrlich sind, weil ihre Zerstörung irrelevant erscheint, da sie leicht durch neue Migrantinnen und Migranten ersetzt werden können, die Tag für Tag auf der Suche nach einem besseren Leben in den USA nach Mexiko strömen.
Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel