Seit dem Ausbruch des Interner Link: Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 sind mehr als 13 Millionen Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden. Nach Angaben der Vereinten Nationen waren Ende 2022 weiterhin mehr als 6,8 Millionen Syrerinnen und Syrer Binnenvertriebene in ihrem eigenen Land, wo 70 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind und 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. 6,5 Millionen Syrerinnen und Syrer haben Schutz im Ausland gesucht, davon ungefähr 5,3 Millionen in fünf Ländern der geografischen Nachbarschaft: in der Türkei, dem Libanon, Jordanien, Irak und Ägypten. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges ist die Zahl der in Deutschland lebenden Syrerinnen und Syrer auf über 830.000 gestiegen, davon waren im August 2022 insgesamt 611.400 syrische Geflüchtete als “Schutzsuchende” im Ausländerzentralregister erfasst. Damit ist Deutschland das größte nicht benachbarte Aufnahmeland.
Schutzrahmen
Für Syrerinnen und Syrer, die in die Türkei geflohen sind, gilt die Verordnung über den vorübergehenden Schutz, Interner Link: die in der Türkei 2014 eingeführt wurde. Vorbild der Verordnung ist die EU-Richtlinie über den vorübergehenden Schutz, die 2001 als Reaktion auf die Interner Link: Fluchtkrise auf dem Balkan in den 1990er Jahren erlassen worden war. Die Türkei hat die Interner Link: Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet, gewährt jedoch nur Asylsuchenden aus Europa Flüchtlingsschutz, wendet also die geografische Begrenzungsklausel an (wie auch Kongo, Madagaskar und Monaco). Die türkische Verordnung über den vorübergehenden Schutz räumt den syrischen Geflüchteten alle Rechte ein, die sich aus dem Völkerrecht ergeben, ähnlich wie die Rechte, die Interner Link: anerkannten Flüchtlingen gewährt werden. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der vorübergehende Schutz nur für einen begrenzten Zeitraum gewährt wird, während der Flüchtlingsstatus einen langfristigen Schutz garantiert. Die Verordnung über den vorübergehenden Schutz eröffnet allen Syrerinnen und Syrern das Recht auf Zugang zu Gesundheits- und Bildungsdiensten. Obwohl die Verordnung es syrischen Staatsangehörigen nicht ermöglicht, die türkische Staatsbürgerschaft zu beantragen, wurden bis Ende 2022 mehr als 223.000 Syrerinnen und Syrer nach dem Grundsatz der außerordentlichen Staatsbürgerschaft des türkischen Staatsbürgerschaftsgesetzes eingebürgert. Gemäß Artikel 12 dieses Gesetzes (Ausnahmen beim Erwerb der türkischen Staatsbürgerschaft, erlassen 2009) können "Personen, die Industrieanlagen in die Türkei einführen oder herausragende Leistungen im sozialen oder wirtschaftlichen Bereich oder in den Bereichen Wissenschaft, Technik, Sport, Kultur oder Kunst erbracht haben oder zu erbringen glauben" die türkische Staatsbürgerschaft erwerben.
Flüchtlingsbevölkerung
In der Türkei leben laut UNHCR rund 3,4 Millionen Syrerinnen und Syrer mit einem vorübergehenden Schutzstatus (Stand: Mai 2023). Das macht die Türkei zum weltweiten Hauptaufnahmeland für Flüchtlinge. Die Mehrheit lebt in Istanbul sowie in den südöstlichen Provinzen Gaziantep, Şanlıurfa, Hatay, Adana und Mersin. In den ersten Jahren der massiven Fluchtbewegungen aus Syrien wurden viele syrische Geflüchtete in temporären Unterbringungszentren in türkischen Städten in der Grenzregion untergebracht. Diese Zentren sind jedoch inzwischen fast bedeutungslos, da es nur noch neun von ihnen gibt, die im Mai 2023 rund 63.000 Geflüchtete beherbergten. 98 Prozent der geflüchteten Syrerinnen und Syrer leben außerhalb dieser Einrichtungen, meist in städtischen Gebieten. Die Lebensbedingungen sind für viele dieser urbanen Flüchtlinge prekär. Bereits vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie lebten 64 Prozent der syrischen Haushalte in türkischen Städten unterhalb der Armutsgrenze. Obwohl die türkische Regierung 2016 die Hürden für eine Arbeitserlaubnis für syrische Geflüchtete gesenkt hat, ist der Zugang zu formeller Beschäftigung weiterhin begrenzt. Bis Ende 2021 wurden nur 91.500 Arbeitserlaubnisse ausgestellt. Schätzungen zufolge arbeiten zwischen 500.000 und einer Million Syrerinnen und Syrer in der Türkei – die meisten von ihnen in informellen Jobs, vor allem in der Textil- und Bekleidungsbranche, aber auch im Baugewerbe, im Dienstleistungssektor und in der Landwirtschaft. Sie arbeiten insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen als billige Arbeitskräfte und sind anfällig für Ausbeutung. Die meisten der arbeitenden syrischen Flüchtlinge verdienen weniger als den pro Stunde vorgesehenen Mindestlohn. Der massive Anstieg der Zahl der Flüchtlinge im städtischen Raum und das Fehlen einer angemessenen Politik zu ihrer Unterstützung hat eine Reihe von sozialen Problemen verschärft. Die Flüchtlinge haben Anpassungsprobleme in den Großstädten, ebenso haben Sprachbarrieren ihre Integration in die türkische Gesellschaft erheblich erschwert. Ein Drittel der syrischen Kinder im schulpflichtigen Alter geht nicht zur Schule.
Veränderte Haltungen, diskursive Verschiebungen
Seit den ersten Tagen der Massenmigration aus Syrien hat die AKP-Regierung syrische Flüchtlinge als "Gäste" bezeichnet – ein politischer Diskurs, der später durch den religiös aufgeladenen Diskurs des "Ansar-Geistes" ergänzt wurde, um die türkische Öffentlichkeit auf die Aufnahme der aus Syrien geflüchteten Menschen einzustimmen. Als Metapher bezieht sich Ansar (arabisch für "Helfer") auf die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Medina, die den Propheten Mohammed und seine Gefährten unterstützten, als diese aus Mekka, das unter heidnischer Kontrolle stand, im Jahr 622 christlicher Zeitrechnung vertrieben wurden. Die Metapher der Ansar weist ursprünglich auf eine Situation der vorübergehenden Aufnahme hin, da die Aufgenommenen später nach Mekka zurückkehrten, nachdem ihre Streitkräfte die Stadt zurückerobert hatten. Die türkische Regierung hat sich also der islamischen Symbolik bedient, um ihr Handeln zur Lösung der syrischen Fluchtkrise in der Türkei zu legitimieren. Die Einbettung der syrischen Flüchtlinge in den Ansar-Diskurs hat die öffentlichen und privaten Bemühungen um die Aufnahme syrischer Flüchtlinge von einer humanitären Verantwortung zu einer religiösen und wohltätigen Pflicht gemacht.
Doch nach zwölf Jahren der Aufnahme von Millionen syrischer Geflüchteter wird der politische Diskurs der kulturellen Vertrautheit, des Ansar-Geistes und der zeitlich begrenzten Flüchtlingsaufnahme von der Mehrheit der türkischen Bürgerinnen und Bürger nicht mehr geteilt. Die Darstellung der Flüchtlingssituation als vorübergehend steht in scharfem Kontrast zur anhaltend hohen Sichtbarkeit von Syrerinnen und Syrern in den Stadtvierteln und nährt Ressentiments gegenüber den geflüchteten Personen. Die sich nach dem gescheiterten Interner Link: Putschversuch vom 15. Juli 2016 vertiefende Wirtschafts- und Finanzkrise in der Türkei hat die gesellschaftliche und politische Spaltung und Polarisierung weiter verschärft, sodass inzwischen syrische Flüchtlinge zunehmend als Sündenböcke wahrgenommen werden und sich eine offene Arabophobie entwickelt hat. Ihre Ursprünge reichen möglicherweise bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück, als die Türken die Araber beschuldigten, mit den Briten gegen die Osmanen kollaboriert zu haben. Meinungsumfragen und Berichte über gewalttätige Übergriffe auf Syrerinnen und Syrer bestätigen die Zunahme der Feindseligkeit gegenüber aus Syrien geflüchteten Menschen. Diese werden für die Wirtschaftskrise und die sozialen Missstände in der Türkei verantwortlich gemacht. Laut der Umfrage Syrians Barometer 2021 sprechen sich bis zu 80 Prozent der türkischen Gesellschaft dafür aus, Syrerinnen und Syrer in ihr Herkunftsland zurückzuschicken.
Unter dem Druck der Öffentlichkeit, aber auch der politischen Opposition, hat die Interner Link: AKP-Regierung ihre Haltung zu syrischen Flüchtlingen geändert, insbesondere nach den Kommunalwahlen vom 23. Juni 2019, bei denen die Regierungspartei Großstädte wie Istanbul, Ankara, Izmir und Antalya verlor. Forderungen nach einer Rückführung der syrischen Geflüchteten wurden lauter. Im Frühjahr 2022 verkündete Präsident Interner Link: Recep Tayyip Erdoğan die Absicht der Regierung, eine Million Menschen in die unter türkischer Kontrolle stehenden Gebiete in Nordsyrien zurückzuführen. Darüber hinaus bemüht sich die AKP-Regierung um eine Interner Link: Normalisierung der Beziehungen zum Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad. Die Regierung verfolgt jedoch einen zweigeteilten Ansatz: Einerseits hält sie an ihrem Diskurs über den vorübergehenden Charakter der Flüchtlingsaufnahme fest. Dabei versucht sie die Zahl der von der Türkei aufgenommenen syrischen Geflüchteten deutlich zu reduzieren, indem sie vor allem auf Rückführungen drängt und verhindert, dass mehr Syrerinnen und Syrer in der Türkei Zuflucht suchen. Andererseits scheint die Regierung akzeptiert zu haben, dass viele syrische Geflüchtete in der Türkei bleiben werden, wie Maßnahmen zeigen, die ihre soziale Integration ermöglichen: die Einführung von Arbeitserlaubnissen Anfang 2016, die Eingliederung von syrischen Kindern und Jugendlichen in öffentliche Schulen, die Einführung von Quoten für syrische Studierende an Hochschulen und die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Syrerinnen und Syrer (zumindest in außerordentlichen Fällen, wie oben gezeigt).
Trotz wachsender Ressentiments in der türkischen Bevölkerung berichteten Syrerinnen und Syrer über viele Jahre, dass sie mit ihrem Aufenthalt in der Türkei relativ zufrieden seien. In Studien nannten sie die ethnisch-kulturellen, religiösen und historischen Verbindungen zwischen Syrern und einheimischer türkischer Bevölkerung als Hauptgrund für ihre Zufriedenheit mit ihrem Aufenthalt in der Türkei. Die Zunahme der Ressentiments und der Befürchtungen, abgeschoben zu werden, mit denen syrische Flüchtlinge konfrontiert sind, hinterlassen jedoch ihre Spuren: Das Syrians Barometer 2021 stellte fest, dass sie sich zunehmend Sorgen um ihre Zukunft in der Türkei machen und dass der Drang wächst, in ein anderes Land zu ziehen.
Ausblick
In den ersten Jahren der massiven Fluchtmigration von Syrerinnen und Syrern, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Heimatland flohen, gewährte die türkische Regierung syrischen Geflüchteten vorübergehenden Schutz, der aus drei Elementen bestand: eine Politik der offenen Tür für alle syrischen Schutzsuchenden, keine erzwungene Rückkehr nach Syrien (Interner Link: Non-Refoulement) und eine unbestimmte Dauer des Aufenthalts in der Türkei. Der offizielle politische Diskurs hieß geflüchtete Syrerinnen und Syrer als "Brüder und Schwestern" willkommen und machte die Aufnahme von Flüchtlingen unter Berufung auf den Geist der Ansar zu einer religiösen und karitativen Pflicht. Mehr als zwölf Jahre nach dem Ausbruch des Krieges in Syrien im Frühjahr 2011 ist von diesem Willkommensdiskurs jedoch nicht mehr viel übrig. Angesichts der schweren Interner Link: Wirtschaftskrise in der Türkei, der steigenden Inflation und der kollabierenden Währung sowie der Folgen des jüngsten verheerenden Interner Link: Erdbebens (6. Februar 2023), das mindestens 3,3 Millionen Menschen vertrieben hat, werden die Rufe nach einer Rückführung und einer deutlichen Reduzierung der syrischen Bevölkerung in der Türkei immer lauter. Alle Kandidaten, die bei den Interner Link: Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 antraten, machten die Rückkehr der Interner Link: syrischen Flüchtlinge zum Wahlkampfthema.
Sowohl Präsident Erdoğan als auch sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (Interner Link: CHP) sprachen sich im Wahlkampf für eine deutliche Reduzierung der in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge aus. Kılıçdaroğlu versprach, die Bedingungen für eine "freiwillige Rückkehr" aller syrischen Geflüchteten innerhalb von zwei Jahren zu schaffen, sollte er die Wahl gewinnen. Während des Wahlkampfs betonte Erdoğan die Bemühungen seiner Regierung, "sichere Zonen" in Nordsyrien einzurichten, um die freiwillige Rückkehr der syrischen Flüchtlinge zu erleichtern. Im Gegensatz zu seinem Herausforderer verzichtete er jedoch auf konkrete Zusagen bezüglich eines Zeithorizonts für die Rückkehr der in die Türkei geflüchteten Syrerinnen und Syrer.
Die Präsidentschaftswahlen endeten nach einer Stichwahl mit einem Interner Link: Sieg Erdoğans, der rund zwei Millionen Stimmen mehr erhielt als Kılıçdaroğlu. Vieles deutet darauf hin, dass der Unterschied hauptsächlich auf die Stimmen zurückzuführen ist, die Erdoğan von zwei bestimmten Gruppen erhielt: Bei der ersten Gruppe handelt es sich um Eingewanderte, die vor nicht langer Zeit durch den Erwerb von Eigentum die türkische Staatsbürgerschaft erhalten haben, sowie Syrerinnen und Syrer, denen aufgrund ihres sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Beitrags zur türkischen Gesellschaft die "außerordentliche Staatsbürgerschaft" verliehen wurde. Die zweite Gruppe umfasst die konservativen Mitglieder der türkischen Diaspora-Gemeinschaften in Europa, vor allem in Deutschland und Frankreich, die Erdoğan aus verschiedenen wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und psychologischen Gründen unterstützt haben. Man könnte also argumentieren, dass Migration, Staatsbürgerschaft und Diaspora-Gemeinschaften entscheidende Faktoren für das Wahlergebnis gewesen waren. Nach der Wahl könnten nun die Verschärfung der Wirtschaftskrise, die gesellschaftliche und politische Polarisierung, die flüchtlingsfeindliche Stimmung, die Arabophobie und die Auswanderung hochqualifizierter junger Menschen nach Europa und Amerika weiter zunehmen. Und es ist wahrscheinlich, dass der Druck auf syrische Flüchtlinge, die Türkei zu verlassen, steigen wird.
Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel