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Migration und Migrationspolitik in Frankreich – Entwicklungen und aktuelle Debatten | Frankreich | bpb.de

Frankreich Frankreich und die Einwanderung

Migration und Migrationspolitik in Frankreich – Entwicklungen und aktuelle Debatten

Karen Akoka Fred Salin

/ 11 Minuten zu lesen

Migration ist ein zentrales, scharf diskutiertes Thema im Präsidentschaftswahlkampf 2022 und Gegenstand eines restriktiven Überbietungswettkampfes. Doch im Vergleich gehört Frankreich heute nicht mehr zu den wichtigsten Einwanderungsländern in Europa.

Migrant:innen und ihre Unterstützer bauen am 25. März 2021 anlässlich einer "Nacht der Solidarität" ein behelfsmäßiges Migrantenlager auf dem Place de la République in Paris, Frankreich. Die mehr als 300 Obdachlosen baten um eine stabile und menschenwürdige Unterkunft. (© picture-alliance, EPA-EFE)

Die Zahlen mit Blick auf das Einwanderungsgeschehen in Frankreich variieren je nachdem, welche Kategorien betrachtet werden (z.B. ausländische Staatsangehörige, Eingewanderte, Kinder von Eingewanderten) und welche Definitionen und Datenquellen man heranzieht (die Definition von Einwanderer/-innen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – Interner Link: OECD – entspricht nicht der des französischen Statistikinstituts INSEE). Die Zahlen unterscheiden sich auch nach den statistischen Instrumenten, auf die man zurückgreift (z.B. Volkszählung oder Statistik zu erstmals ausgestellten Aufenthaltstiteln), den Phänomenen, die man sich anschauen möchte (Zu- und Fortzüge, Wanderungssaldo oder im Land lebende Migrant/-innen) sowie den Bevölkerungsgruppen, die man einbezieht oder ausschließt (z.B. Studierende, EU-Bürger/-innen).

Bei entsprechender Vorsicht ermöglichen die Zahlen zur Einwanderung dennoch, wesentliche Tendenzen aufzuzeigen und einige Vergleiche anzustellen.

Migration in Zahlen

Mit 272.000 Einreisen im Jahr 2019 bei einer Bevölkerung von 67 Millionen Menschen lag die Einwanderungsrate in Frankreich bei 0,4 Prozent und damit zwei- bis dreimal niedriger als in Ländern wie Deutschland, Schweden, Belgien, Österreich und den Niederlanden. Was die Wanderungsbewegungen betrifft, rangierte Frankreich mit dieser Einwanderungsrate am unteren Ende der Rangliste der westeuropäischen Länder, etwa auf gleicher Höhe mit Italien und dem Vereinigten Königreich.

Frankreich zeichnet sich nicht nur durch eine mäßige Einwanderung aus, sondern auch durch eine im Vergleich zu anderen großen westeuropäischen Ländern relativ bescheidene Zahl an im Land lebenden Eingewanderten. Im Jahr 2021 lag der Anteil von im Ausland geborenen Personen (sogenannte foreign-born) bei 12,9 Prozent (8,7 Millionen) und damit weit hinter Ländern wie Schweden (19,7 Prozent), Deutschland (18,2 Prozent) und Belgien (17,9 Prozent) und sogar unter dem Niveau von Ländern, die erst in jüngerer Zeit zu Einwanderungsländern geworden sind, wie Spanien (15,2 Prozent).

(© Eurostat, bpb)

In den Debatten über die Einwanderung nach Frankreich werden diese Tatsachen jedoch meist verschleiert, indem absolute Zahlen hervorgehoben werden, die an sich wenig aussagekräftig sind. Dies betrifft insbesondere die Zunahme der Einreisen und der erstmals ausgestellten Aufenthaltstitel oder die wachsende Zahl der Asylantragstellenden. Der Anstieg der Zahl der Einreisen (211.000 Einreisen im Jahr 2010, 272.000 im Jahr 2019) oder der Aufenthaltstitel (193.000 im Jahr 2005, 253.000 im Jahr 2018 ) ist jedoch gemessen an der Gesamtbevölkerung Frankreichs relativ niedrig und hält das Land sowohl unter dem europäischen Durchschnitt als auch unter dem Durchschnitt in der OECD. Zwar belegt Frankreich hinter Deutschland mit Blick auf die absolute Zahl der Asylanträge den zweiten Platz in Europa, fällt aber auf den elften Platz zurück, wenn man die relativen Zahlen (im Verhältnis zur Bevölkerung) zugrunde legt. Betrachtet man nur die Zahl der positiven Entscheidungen über Asylanträge im Verhältnis zur Bevölkerung, rangiert Frankreich auf dem sechzehnten Platz.

Frankreich gehört nicht nur zu den EU-Staaten, die am wenigsten offen für die humanitäre Aufnahme von Geflüchteten sind, sondern zählt auch zu den EU-Mitgliedsländern mit den restriktivsten Regelungen für die direkte Einreise von Arbeitskräften. Diese ist seit 1974 praktisch verboten, abgesehen von einer zaghaften Öffnung für qualifizierte Zuwanderung im Jahr 2006. Diese doppelte Schließung zwingt ausländische Staatsangehörige, sich der Einwanderung aus familiären Gründen zuzuwenden; mit Blick auf das Verhältnis zur Bevölkerung greift Frankreich daher im europäischen Vergleich am stärksten auf diese Aufenthaltstitel zurück. Dieser Weg der Einreise ist für ausländische Staatsangehörige einer der schwierigsten, komplexesten und vor allem langwierigsten: Im Laufe der Jahrzehnte sind die Bedingungen und Fristen, die dafür erfüllt werden müssen, immer zahlreicher und länger geworden. Die Einwanderung aus familiären Gründen ist heute – zusammen mit der Einwanderung von Studierenden – der zahlenmäßig wichtigste Weg der Einreise nach Frankreich (jeweils 90.000 Einreisen pro Jahr). Nur ein begrenzter Anteil der Einreisen (12 Prozent) entfällt dabei auf die Familienzusammenführung von Nicht-EU-Ausländer/-innen. Mehr als die Hälfte der Zulassungen im Rahmen der Familienzuwanderung betrifft hingegen die Einreise von Familienangehörigen französischer Staatsangehöriger.

Frankreich, das bis in die 1980er Jahre hinein mehr als ein halbes Jahrhundert lang aus komplexen historischen Gründen (frühzeitiger Rückgriff auf ausländische Arbeitskräfte im Zuge der industriellen Revolution, großes Kolonialreich, Familienzusammenführung seit den 1970er Jahren) das bedeutendste Einwanderungsland in Europa war, gehört heute zu den Ländern mit den niedrigsten Einwanderungsraten in Westeuropa. Aufgrund dieser historischen Konstellation befindet sich das Land in einer besonderen Situation: Es vereint eine im Vergleich mit anderen Ländern in Europa mäßige Einwanderung mit einem der höchsten Anteile von Kindern von Eingewanderten auf dem Kontinent.

Die Herkunft der Einwanderer/-innen hat sich im Laufe der Zeit verändert. Während der industriellen Revolution rekrutierte Frankreich ausländische Arbeitskräfte zunächst aus den Nachbarländern (Belgien, Italien, Spanien). Nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg öffnete es sich massiv für die Zuwanderung aus Polen, dann für portugiesische Migrant/-innen und für Menschen aus seinem Kolonialreich, d.h. zunächst aus dem Maghreb, dann aus Subsahara-Afrika. Im Jahr 2019 waren 46 Prozent der in Frankreich lebenden Einwanderer/-innen in einem afrikanischen Land und 34 Prozent in einem europäischen Land geboren worden.

Das Thema Einwanderung hat in den letzten zwei Jahrzehnten in der öffentlichen Debatte eine so zentrale Bedeutung erlangt, dass Französinnen und Franzosen davon ausgehen, es gäbe in Frankreich doppelt so viele Einwanderer/-innen wie statistisch tatsächlich im Land leben. Ebenso wird die Kluft zwischen dem durch wissenschaftliche Forschung produzierten Wissen und der Wahrnehmung der Einwanderung als (wirtschaftliches, kulturelles und demografisches) "Problem" immer größer.

Die Grundzüge der französischen Migrationspolitik

Nachdem die französische Einwanderungspolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ununterbrochen (mit Ausnahme der 1930er Jahre) den Rückgriff auf eingewanderte Arbeitskräfte gefördert hatte – wobei solche aus europäischen Staaten gegenüber anderen, die z.B. aus dem Maghreb stammten, bevorzugt wurden –, trat Mitte der 1970er Jahre und noch stärker in den 1990er Jahren ein neues Paradigma in Kraft, das bis heute vorherrscht: die Beschränkung der Einwanderung, insbesondere der Arbeitsmigration, und die Rhetorik der "Kontrolle der Migrationsströme". Diese Tendenz ist nicht nur in Frankreich zu beobachten, sondern in ganz Europa relativ dominant. Doch selten wurde sie sowohl von rechten als auch linken Regierungen so gewissenhaft verfolgt, selten verband beide Lager ein so "unsäglicher Konsens" . Rechte Regierungen haben unaufhörlich immer restriktivere Gesetze erlassen (Einschränkung der Bedingungen für die Familienzusammenführung, unsichere Aufenthaltstitel, längere Haftzeiten), während linke Regierungen diese nur geringfügig abgeschwächt haben, ohne jemals das Paradigma der Abschottung aufzugeben oder einen echten Gegenvorschlag zu präsentieren, abgesehen von Versprechungen im Rahmen von Wahlkämpfen. Die Bedeutung und der Stellenwert von Einwanderung und Integration in die französische Gesellschaft haben sich dadurch verändert: Während Aufenthaltstitel einst als Integrationsinstrumente für zugewanderte ausländische Staatsangehörige gedacht waren, müssen diese nun ihre Integration nachweisen, um Zugang zum Aufenthalt und zur Staatsbürgerschaft zu erhalten. Die zweite Tendenz, die die französische Einwanderungspolitik charakterisiert, ist die anhaltende – seit Mitte der 2000er Jahre beschleunigt ausgebaute – Kontrolle des Innenministeriums über alle mit der Einwanderung zusammenhängenden Fragen: seien es Asyl, Integration, Unterbringung oder soziale Fragen, Bereiche also, die früher anderen Ministerien (Außenministerium, Arbeitsministerium, Sozialministerium) vorbehalten waren.

Die Migrationspolitik unter Macron

Die Migrationspolitik in der Interner Link: fünfjährigen Amtszeit von Präsident Interner Link: Emmanuel Macron (2017-2022) war von der Fortsetzung der skizzierten restriktiven Logik geprägt. Innenminister Gérald Darmanin erklärte im September 2021 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dass die niedrige Schutzquote von Asylsuchenden im Vergleich zu Deutschland ein Zeichen für den Erfolg seiner restriktiven Politik sei. Das im September 2018 verabschiedete Gesetz "Asile et Immigration" (deutsch: "Asyl und Einwanderung") etwa verdoppelte die maximale Dauer der legalen Inhaftierung von ausländischen Staatsangehörigen, erlaubte die Inhaftierung ausländischer Kinder, erleichterte die Abschiebung von Asylsuchenden noch vor einer Entscheidung über ihren Asylantrag, erschwerte die Anerkennung der Minderjährigkeit und verschärfte die Kontrolle über das Leben von Asylsuchenden. Es ist nun möglich, dass der Staat eine asylsuchende Person zwingt, in einer bestimmten Region in Frankreich zu leben, ohne ihr eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Das Gesetz vom 20. März 2018 zur ordnungsgemäßen Anwendung des Europäischen Asylsystems (Loi n° 2018-187 du 20 mars 2018 permettant une bonne application du régime d'asile européen) wiederum hat Menschen im Interner Link: Dublin-Verfahren noch weiter prekarisiert: Es erlaubt eine Inhaftierung während ihres Asylverfahrens und hat die Fristen für das Einlegen von Rechtsmitteln verkürzt. Insbesondere in den Grenzgebieten geht die Polizei weiterhin repressiv gegen Geflüchtete und irreguläre Migrant/-innen sowie sie unterstützende Vereine vor, etwa in Form des Verbots der Verteilung von Lebensmitteln oder der Zerstörung von Zelten und Eigentum dieser Menschen. Im Mittelmeer und im Ärmelkanal hat die Regierung eine Politik der 'unterlassenen Hilfeleistung' fortgesetzt, die manchmal als Politik des "Sterbenlassens" bezeichnet wird, indem sie sich weigerte, Rettungsmissionen durchzuführen oder NGO-Schiffen die Einfahrt in französische Häfen zu erlauben. Als Reaktion auf diese Politik prangerte der ehemalige Abgeordnete der Präsidentenpartei La République en Marche! (LREM), Sébastien Nadot, im Oktober 2021 in seinem parlamentarischen Bericht über Migration die Regierung an: So wirft er ihr eine "staatliche Misshandlung" von Geflüchteten vor und kritisiert, dass ein großer Teil des Staatsapparats – vom Innenministerium bis zum Justizministerium – davon ausgeht, dass eine großzügige Aufnahmepolitik vermeintlich eine Sogwirkung (théorie de "l'appel d'air") auf weitere Migrant/-innen habe; ausgehend von dieser Vorstellung würden Rechte von Einwanderer/-innen soweit wie möglich beschnitten und schlechte Lebensbedingungen aufrechterhalten, um Ausländer/-innen von der Einreise abzuhalten.

Was ausländische Studierende betrifft, wurden mit der Strategie "Bienvenue en France" ("Willkommen in Frankreich") von 2019 die Studiengebühren für nicht-europäische Studierende verzehnfacht, was den Zugang der ärmsten Studierenden zu einem Studium in Frankreich seither natürlich erheblich beeinträchtigt. Schließlich wurde die Corona-Krise von den Präfekturen zum Anlass genommen, die Entmaterialisierung der Anträge auf Aufenthaltstitel zu beschleunigen, das bedeutet, dass Nutzer/-innen öffentlicher Dienstleistungen dazu bewegt oder gar verpflichtet wurden, ihre Anliegen über digitale Schnittstellen zu erledigen, anstatt mit Menschen an physischen Schaltern in Kontakt zu treten. Das erschwerte letztlich den Zugang ausländischer Personen zu ihren Rechten.

Einwanderung als Thema im Präsidentschaftswahlkampf

Während des Interner Link: Präsidentschaftswahlkampfs 2022 sind Einwanderung und Migrationspolitik Interner Link: zentrale Themen und Kernpunkte der Programme der rechten Parteien. Bei den linken Parteien herrscht Konsens über die Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer/-innen, mehr Regularisierungen und eine weniger restriktive Asylpolitik, die etwa das Recht auf Arbeit für Asylantragstellende und mehr Unterbringungsmöglichkeiten beinhaltet. Nur die linksradikalen Parteien treten für die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit für alle ein. Die Programme von Interner Link: Yannick Jadot (Grüne) und Interner Link: Jean-Luc Mélenchon (radikale Linke) sind in dieser Hinsicht die umfassendsten und schlagen vor, die Laufzeit der Aufenthaltstitel zu verlängern, das Interner Link: Dublin-System zu verlassen und das Asylwesen nicht mehr dem Innenministerium zu unterstellen. Während die Grünen das Thema Migration unter dem Aspekt des Kampfes gegen Diskriminierung angehen, verankert die Partei von Jean-Luc Mélenchon das Thema in einem Ansatz der internationalen politischen Ökonomie, der beispielsweise für ein Ende ungleicher Wirtschafts- und Handelsabkommen eintritt. Auf der Seite der rechten Parteien besteht ein Konsens über die Einschränkung des Zugangs zu Asyl, zu Aufenthaltstiteln und zur französischen Staatsbürgerschaft sowie über die Intensivierung von Abschiebungen. Die rechtsextremen Parteien von Interner Link: Marine Le Pen und Interner Link: Éric Zemmour propagieren radikale fremdenfeindliche Maßnahmen wie das Ende des Rechts auf Familienzusammenführung, die Abschaffung des Geburtsortsprinzips beim Erwerb der Staatsbürgerschaft (Interner Link: ius soli) oder die kollektive Ausweisung von ausländischen Staatsangehörigen. Die traditionelle rechte Partei Les Républicains wiederum stößt in eine ähnlich migrationsfeindliche Richtung, insofern als sie sich dafür einsetzt, französischen Staatsangehörigen in vielen Bereichen (Beschäftigung, Gesundheit, Sozialleistungen) Priorität einzuräumen, den Zugang zu medizinischer Versorgung für Ausländer/-innen einzuschränken und das Asylwesen (ins Ausland oder ins Grenzgebiet) auszulagern. Emmanuel Macron und seine Partei LREM schließlich setzen auf die bisher verfolgte Politik und die bereits befürworteten Maßnahmen, wie die Erhöhung der Zahl der Abschiebungen und die Einschränkung des Zugangs zu Aufenthaltstiteln und ähneln damit dem Sicherheitsansatz der Rechten. Der einzige Konsens, der sich in den letzten Wochen herauskristallisiert hat, betrifft die Aufnahme von Interner Link: Flüchtlingen aus der Ukraine, gegen die sich einzig Éric Zemmour ausspricht.

Übersetzung aus dem Französischen: Vera Hanewinkel

Weitere Inhalte

ist Soziologin, Dozentin für Politikwissenschaft an der Universität Paris Nanterre, Forscherin am Institut des Sciences Sociales du Politique (ISP), derzeit als Delegierte am Centre de Recherche Français de Jérusalem (CRFJ) und Fellow des Institut Convergence Migration (ICM). Ihre Arbeit befasst sich mit der Asyl- und Einwanderungspolitik in verschiedenen nationalen Kontexten (Frankreich, Zypern, Israel). 2020 ist von ihr das Buch "L'asile et l'exil. Une histoire de la distinction réfugiés/migrants" (Asyl und Exil. Eine Geschichte der Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten) im Verlag La Découverte erschienen.

ist Doktorand in Soziologie am Institut de recherche interdisciplinaire sur les enjeux sociaux (EHESS). In seiner Dissertation untersucht er die Positionierung von Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt in Frankreich und den USA.