Südeuropa definieren
Will man für Südeuropa einen Vergleich verschiedener Länder hinsichtlich ihrer Erfahrungen mit Migration und Migrationspolitik ziehen, ist die geografische Definition von Südeuropa durch Externer Link: der UN sowohl zu weit gefasst (sie umfasst einen Großteil des Balkans) als auch zu exklusiv (sie schließt Zypern aus). Erforderlich ist hingegen eine Definition, die Länder mit einer im Großen und Ganzen ähnlichen geopolitischen Situation in Bezug auf Migration sowie mit ähnlichen wirtschaftlichen und anderen strukturellen Parametern umfasst. Dies schließt den gesamten ehemaligen kommunistischen Block innerhalb der Balkanregion sowie kleine Inselstaaten (Malta und Zypern) aus. Damit bleiben noch Spanien, Italien und Griechenland – und wohl auch Portugal, trotz seiner anderen geografischen Lage (es liegt nicht am Mittelmeer): Diese vier Länder werden in der Literatur zumeist als Musterbild südeuropäischer Länder gesehen.
Das Konzept eines "südeuropäischen Modells" der Migration
Seit Mitte der 1990er Jahre haben Wissenschaftler/-innen versucht, die Gemeinsamkeiten der vier oben genannten südeuropäischen Staaten hinsichtlich ihrer Migrationserfahrungen und ihres Umgangs mit Einwanderung in einem Modell zusammenzufassen. Die ersten Vergleiche des Migrationsmanagements der südeuropäischen Länder – unter anderem von Geograph Russell King – konzentrierten sich auf die "Migrationswende" bzw. den Übergang von der Massenauswanderung zur Masseneinwanderung. Gemeinsam war ihnen, dass sie ab den späten 1950er Jahren eine temporäre Abwanderung von Arbeitskräften nach Nordeuropa erlebten, die sich in den 1960er Jahren beschleunigte, bevor nach der Ölpreiskrise von 1973 und 1974 viele dieser Arbeitskräfte in ihre Heimatländer zurückkehrten. So kam es in Interner Link: Portugal, Interner Link: Spanien, Interner Link: Italien und Interner Link: Griechenland in den späten 1970er und 1980er Jahren zu einem Massenzustrom heimkehrender Staatsbürger/-innen.
Was die Wirtschaftsstruktur betrifft, so konzentriert sich das Modell Russell Kings auf die Niedriglohnbeschäftigung, die hohe Arbeitslosigkeit und die Unterbeschäftigung in den 1960er und 1970er Jahren – genau die Bedingungen also, die die Massenabwanderung begünstigten. Gleichzeitig war es eine Zeit der hohen Kapitalakkumulation und des Interner Link: BIP-Wachstums – teilweise zurückzuführen auf das Entstehen von Wirtschaftssektoren mit höherer Produktivität. In einer zweiten Phase, die mit der massenhaften Rückkehr der eigenen Bürger/-innen in den späten 1970er und den 1980er Jahren zusammenfällt, geht das Modell von einem geringeren Arbeitskräfteangebot und höheren Löhnen aus – insbesondere in Sektoren mit hoher Produktivität. In der dritten Phase des Modells wird angenommen, dass die einheimischen Arbeitskräfte Ende der 1980er Jahre die überwiegend schlecht bezahlten Arbeitsplätze in Sektoren mit niedriger Produktivität mieden; sie zogen es vor, weitere Jahre zu studieren oder sich freiwillig arbeitslos zu melden, während sie auf gute Beschäftigungsmöglichkeiten warteten (häufig im öffentlichen Sektor, vermittelt durch klientelistische Strukturen). Das führte dazu, dass in Sektoren mit niedriger Produktivität Arbeitskräfte fehlten, die bereit waren, für niedrige Löhne zu arbeiten. Dies bildete die Basis für die Anziehung billiger ausländischer Arbeitskräfte, auf die viele Arbeitgeber/-innen gerne zurückgriffen.
Bislang wird das "südeuropäische Modell" der Migration im Großen und Ganzen von vorhandenen Daten gestützt, auch wenn einige Details umstritten sind (z. B. der tatsächliche Mechanismus, durch den die dritte Phase des Modells entstanden ist, oder das Nichtvorhandensein eines hochproduktiven Sektors in Griechenland). Was jedoch in dem Modell fehlt, sind drei zentrale strukturelle Aspekte: das Fehlen einer angemessenen staatlichen Steuerung der Einwanderung, das Entstehen einer sehr großen informellen Wirtschaft (sog. Interner Link: Schattenwirtschaft) und die Koexistenz einerseits starrer, hoch bürokratischer Beschäftigungsregelungen und andererseits fast vollkommen fehlender Kontrollen und Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Arbeitsmarktregelungen. Diese Parameter wurden von anderen Forscher/-innen aufgegriffen und herangezogen, um das von King und anderen entworfene Modell zu ergänzen.
Migrationsexperte und Co-Autor dieses Textes Martin Baldwin-Edwards stellte Ende der 1990er Jahre fest, dass sich die südeuropäischen Länder den restriktiven Einwanderungs- und Grenzkontrollen des Interner Link: Schengener Abkommens verpflichteten, obwohl sie nicht die gleiche Tradition wie die nördlichen EU-Staaten mit Blick auf den Schutz der Rechte von Eingewanderten und die Förderung der sozioökonomischen Integration hatten. Es bestand also die Gefahr, dass sich das Migrationsmanagement Südeuropas von dem Nordeuropas stark unterscheiden würde, indem es sich auf den Kontrollaspekt konzentrieren und langfristige Fragen der Integration von Eingewanderten ausblenden würde. Baldwin-Edwards zeigte auch die charakteristischen Merkmale der Einwanderer/-innen in Südeuropa Mitte der 1990er Jahre auf und verwies auf die große Vielfalt an Nationalitäten und Bildungsniveaus sowie auf die allgemeine Illegalität (mit Blick auf Einreise, Aufenthalt, Arbeit). Außerdem hob er die Rolle der expandierenden informellen Wirtschaft hervor, in der irreguläre Einwanderer/-innen oftmals Beschäftigung finden. Der Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Emilio Reyneri arbeitete ebenfalls die zentrale Rolle der informellen Wirtschaft für umfangreiche Einwanderung und das Entstehen einer Wirtschaftsstruktur heraus, die letztlich kontraproduktiv ist: Indem sie billige, geringqualifizierte irreguläre Migrant/-innen als Überlebensstrategie beschäftigten, besäßen die Unternehmen weder die Kapazität noch den Anreiz, sich durch neue Technologien und eine bessere Ausbildung ihrer Arbeitskräfte zu modernisieren. In ganz Südeuropa führe dies zu sinkender wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der wettbewerbsintensiven Interner Link: Eurozone.
Die massive Präsenz von undokumentierten Arbeitskräften ("Sans-Papiers") entwickelte sich Ende der 1990er Jahre zu einem strukturellen Merkmal in ganz Südeuropa und führte zu wiederholten Massenregularisierungen. Oft waren dabei Personen betroffen, die im Anschluss an eine Regularisierung in die Illegalität zurückfielen. So entstand ein charakteristisches Element der Einwanderungspolitik in Südeuropa: häufige und manchmal kontinuierliche Legalisierungsmaßnahmen, um das Problem der Anwesenheit irregulärer Einwanderer/-innen in den Griff zu bekommen, die aber vor Ort tatsächlich gebraucht wurden und daher auch Arbeit hatten.
Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in der Eurozone
Zum Zeitpunkt der Wirtschaftskrise in der Eurozone (ab 2010) wurden Zweifel laut, ob das südeuropäische Modell der Einwanderungssteuerung weiterhin Gültigkeit besäße. Insbesondere wurden zunehmende Unterschiede hinsichtlich der Merkmale der Einwandernden, der Entwicklung der Einwanderungspolitik und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt festgestellt. Zudem hatten sich zwei Länder bereits als Ausreißer aus dem südeuropäischen Modell erwiesen: Griechenland und Portugal. Griechenland hatte mit seiner überwiegend aus Albanien stammenden Einwanderung und seiner ausgrenzenden staatlichen Politik schon immer schlecht ins Bild gepasst – und es gab kaum Anzeichen dafür, dass sich dies ändern würde. Die anderen drei südeuropäischen Länder hingegen versuchten, sich zu modernisieren und auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Eingewanderte aktiv in einem legalen Status zu halten. Portugal wiederum hatte sich als Ausreißer erwiesen, weil es dem Land viel besser gelang, Zugewanderte in den Arbeitsmarkt zu integrieren, und es nur eine sehr niedrige Quote überqualifizierter Migrant/-innen in "schlechten Jobs" gab (während Griechenland das Schlusslicht in der OECD bildete). Zudem sind Zugewanderte in Portugal gut im Bildungswesen, in sozialen Diensten und in der Verwaltung vertreten, anders als in den drei anderen südeuropäischen Ländern, wo Migrant/-innen überwiegend in der Landwirtschaft und im verarbeitenden Gewerbe arbeiten.
Doch was ist in den letzten Jahren geschehen? Das wichtigste Ereignis, das die Debatten über Migration und die Gestaltung der Migrationspolitik beherrschte, war natürlich die sogenannte Migrationskrise im Interner Link: Jahr 2015 – obwohl sie sich schon in den Vorjahren abzeichnete und die europäischen Geheimdienste bereits 2012 den massiven Zustrom von Flüchtlingen vorhergesagt hatten. Ein Ergebnis der "Migrationskrise" waren eine Interner Link: informelle politische Vereinbarung mit der Türkei sowie ein bilaterales Abkommen zwischen Italien und Interner Link: Libyen, um Asylsuchende und andere Migrant/-innen daran zu hindern, die Küsten Griechenlands und Italiens zu erreichen. So wurde der Grenzschutzaspekt der Einwanderungspolitik in diesen beiden Ländern zum Teil zwar weiterhin durch den Interner Link: Schengener Grenzkodex, in erster Linie aber durch die Abkommen mit der Türkei und Libyen festgelegt, die weder Teil des EU-Rechts noch der offiziellen EU-Politik sind. Ausgrenzende und aggressive Grenzkontrollen sind heute in Griechenland, Italien und Spanien an der Tagesordnung, und das Europäische Parlament hat bereits Belege für illegale Rückschiebungen in die Türkei untersucht. Darüber hinaus ist auch die Interner Link: europäische Grenzschutzagentur Frontex in die Interner Link: Vorwürfe illegaler Praktiken verwickelt, ohne dass es bislang eine wirksame Kontrolle ihrer Aktivitäten gibt.
Was die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt seit 2009 betrifft, lässt sich ein zunehmendes Auseinanderstreben feststellen. Trotz ihres gemeinsamen Problems der Verschuldung in der Eurozone und der daraufhin eingeleiteten wirtschaftlichen Anpassungen, weisen die Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur nach Qualifikationsniveau in den vier südeuropäischen Ländern im Zeitraum 1995-2015 deutliche Unterschiede auf: In Griechenland zeigte sich ein sehr hohes Wachstum im Bereich der geringqualifizierten und ein ziemlich hohes Wachstum bei den mittelqualifizierten Tätigkeiten sowie das niedrigste Wachstum in der OECD mit Blick auf hochqualifizierte Tätigkeiten. Auch Italien verzeichnete ein relativ hohes Wachstum bei gering- und mittelqualifizierter Arbeit und ein geringes Wachstum im Bereich hochqualifizierter Arbeit. Demgegenüber wiesen Spanien und Portugal ein deutliches Wachstum in Hinblick auf hochqualifizierte Beschäftigung auf. In Italien wurde der Zuwachs an geringqualifizierter Arbeit seit 2008 hauptsächlich von Migrantinnen getragen, die in den Bereichen Pflege und Hausarbeit in Privathaushalten beschäftigt sind. In den Produktionssektoren (in diesem Fall in Landwirtschaft und Baugewerbe) hat die Gruppe der Arbeitsmigrant/-innen in Italien von der Wirtschaftskrise profitiert: ihr Anteil hat sich in diesen Sektoren seit 2005 verdoppelt. Die unterschiedlichen Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf Migrant/-innen in Südeuropa lassen sich am Beispiel Italiens und Spaniens verdeutlichen: Anders als in Spanien ist in Italien das Risiko der Arbeitslosigkeit für Migrant/-innen gering, die Wahrscheinlichkeit einer geringqualifizierten und schlecht bezahlten Beschäftigung jedoch hoch.
Auch mit Blick auf die Steuerung der Arbeitsmigration gibt es erhebliche Unterschiede. Spanien hat ein gut verwaltetes Arbeitsmigrationssystem für geringqualifizierte Arbeitskräfte entwickelt; hierzu gehören auch bilaterale Anwerbeabkommen für Zeitarbeit, die mit Aspekten der Migrationssteuerung wie Rückkehr und Rückübernahme verknüpft sind. Es ist auch das einzige Land in der Region, das seit 2013 über ein explizites und separates nationales System für hochqualifizierte Einwanderer/-innen verfügt (im Gegensatz zum erfolglosen Blue Card-System der EU); allerdings ist dieses System restriktiv und daher bei hochqualifizierten potenziellen Migrant/-innen nicht beliebt. Portugal setzt seine gute Bilanz bei der Steuerung der Zuwanderung fort und legt einen Schwerpunkt auf die sozioökonomische Integration der Eingewanderten, was das Land von Griechenland, Italien und Spanien unterscheidet. In Italien scheint sich die massive wirtschaftliche Kluft zwischen dem Norden und dem Süden des Landes vergrößert zu haben, wobei der Süden eine hohe Nachfrage nach Migrant/-innen in ungelernten, unsicheren, schlecht bezahlten und ungeschützten sozial benachteiligenden Tätigkeiten aufweist. Im Norden hingegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Eingewanderte arbeitslos sind, höher als bei Einheimischen, was bedeutet, dass es nur eine geringe Nachfrage nach neuen Arbeitskräften gleich welcher Qualifikationsniveaus gibt. In Italien ist die Wahrscheinlichkeit, dass zugewanderte Arbeitnehmer/-innen über Umschulungen oder innovative Eigeninitiativen ihre Arbeitsmarktchancen verbessern, extrem gering – das wiederum unterscheidet Italien von Portugal und Spanien. Griechenland schließlich weist die schlechteste Arbeitsmarktleistung in der gesamten Region auf, und Migrant/-innen werden dort – wie in Süditalien – für schmutzige, schlecht bezahlte Arbeit eingestellt, die griechische Arbeitnehmer/-innen selbst in einer schweren Wirtschaftskrise nicht annehmen woll(t)en. Aufgrund der umfangreichen Ankunft von Geflüchteten seit 2015 benötigt Griechenland keine weitere Zuwanderung von Arbeitskräften, außer einer sehr geringen Anzahl von qualifizierten und hochqualifizierten Migrant/-innen. Vor diesem Hintergrund wird keine aktive Arbeitsmigrationspolitik entwickelt. Tatsächlich setzt Griechenland den Weg fort, für den es sich 1991 entschieden hat und baut auf ausgrenzende Grenzkontrollen und restriktive Arbeitsmarktpraktiken, die Irregularität(en) und Illegalität fördern.
Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel