Der Sudan gehört zu den Ländern mit der größten Zahl an
Der Sudan und seine Gesellschaft sind das Ergebnis einer langen Geschichte von Migration und Vertreibung. Insbesondere nach der Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich 1956 kam es zu zahlreichen freiwilligen und erzwungenen Bewegungen von Menschen innerhalb des Landes, vor allem aus den Randgebieten in die zentralen, meist flussnahen Gebiete und aus ländlichen Gegenden in die städtischen Zentren. In den letzten drei Jahrzehnten hat der Sudan beispiellose Ausmaße und Muster der Binnenvertreibung erlebt. Mit dem Ausbruch des
Muster, Auslöser und Umfang der Binnenvertreibungen
Während die zugrunde liegenden Ursachen für Binnenvertreibungen im Sudan im Prozess der Staatsbildung, der Modernisierung der sudanesischen Wirtschaft und der Verwaltung der peripheren Bevölkerungsgruppen liegen, wurden die unterschiedlichen Muster langwieriger Vertreibung, die das Land erlebte, größtenteils von vier Faktoren ausgelöst:
Der erste und lang anhaltende Auslöser ist die
Die zweite und häufig am wenigsten verstandene bzw. anerkannte Form der Binnenvertreibung ist die erzwungene Vertreibung und Umsiedlung von Personen durch verschiedene sudanesische Regierungen, um den Weg für sogenannte "nationale Entwicklungsprojekte" zu ebnen. Programme zum Ausbau der kommerziellen Landwirtschaft, Dammbau, Ölförderung und städtebauliche Neuplanung wurden oft als "legitime" Rechtfertigung herangezogen, ganze Gemeinden von ihren traditionellen Ländereien zu vertreiben und ihre Umsiedlung als angeblich unvermeidliches und notwendiges Opfer zu betrachten, um Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung zu durchzusetzen.
Der dritte und wahrscheinlich wichtigste Faktor in Bezug auf die Zahl der Vertriebenen waren die Bürgerkriege (von 1955 bis 1972 und von 1983 bis 2005) im Süden des Sudan, im Nuba-Gebirge, im Bundesstaat Blauer Nil und in jüngerer Zeit in
Die historische Marginalisierung der Region Darfur und der Widerstand ihrer Einwohner/-innen gegen die Ausbeutungspolitik der Zentralregierung und ihrer Verbündeten führten 2003 zum Ausbruch eines der gewaltsamsten Konflikte in der Geschichte des Landes. der sogenannte
Der vierte Auslöser für Binnenvertreibungen waren
Während Vertreibungen innerhalb des Landes in der Zeit nach der Unabhängigkeit des Sudan 1956 größtenteils nur langsam zunahmen und von der Bewegung junger Menschen und einer geringen Anzahl von Familien dominiert wurden, führte das Zusammenspiel von Bürgerkriegen, Dürre und Hungersnot in den 1980er Jahren zu einem beispiellosen Ausmaß an Vertreibungen. Nicht nur Einzelpersonen und Familien, sondern ganze Gemeinschaften wurden vertrieben. Die meisten von ihnen zogen in große, offiziell anerkannte Lager am Rande städtischer Gebiete. Dieses neue Muster der Vertreibung führte dazu, dass im sudanesischen Diskurs der Begriff naziheen auftauchte, der sich auf diese Vertriebenen und ihre schlimme Situation bezog. Mitte der neunziger Jahre war der Sudan das Land mit der weltweit größten Zahl an Binnenvertriebenen. Von über vier Millionen befand sich die Hälfte in der Hauptstadt Khartoum. Der Ausbruch des Konflikts in Darfur 2003/04 und die damit verbundenen groben Menschenrechtsverletzungen und Völkermorde führten zum Tod von mehr als 400.000 Zivilist/-innen und zur Vertreibung von drei Millionen Menschen, von denen schätzungsweise eine halbe Million als
Bevölkerungsvertreibungen im Sudan sind langwierig und überdauern häufig ihre anfänglichen Auslöser. Obwohl sich die Hauptauslöser in den letzten Jahren abgeschwächt haben, setzten sich langwierige Vertreibungssituationen fort. So sind seit Jahrzehnten größere Dürren oder Hungersnöte ausgeblieben, der längste Bürgerkrieg in der Geschichte des Landes hat mit der
Binnenvertriebene (IDPs) und ihre geografische Verteilung 2019
Bundesstaat | Zahl der IDPs | % der Gesamtzahl | Zahl der Rückkehrer/ -innen | % der Gesamtzahl |
---|---|---|---|---|
Süd-Dafur | 537.023 | 28,8 % | 18.243 | 6 % |
Nord-Darfur | 446.441 | 23,9 % | 54.028 | 17 % |
Zentral-Darfur | 388.371 | 20,8 % | 175.079 | 54 % |
West-Darfur | 183.725 | 9,9 % | 14.705 | 5 % |
Ost-Darfur | 84.859 | 4,6 % | 53.342 | 16 % |
Gesamtzahl Darfur | 1.640.419 | 88,0 % | 315.397 | 97 % |
Südkordofan | 168.084 | 9,0 % | 8.931 | 3 % |
Blauer Nil | 47.392 | 2,5 % | ||
Westkordofan | 8.300 | 0,4 % | ||
Gesamtzahl außerhalb Darfurs | 223.776 | 12,0 % | 8.931 | 3 % |
Gesamtzahl im Sudan | 1.864.195 | 100,0 % | 324.328 | 100 % |
Quelle: Sudan Humanitarian Aid Commission (HAC) (2019): Official Figures for Internally Displaced Persons and Returnees in Sudan 2019. A Report by the Office of the General Commissioner.
Binnenvertriebene im Sudan leben unter desolaten Bedingungen, haben keinen ausreichenden Schutz und nur eingeschränkten Zugang zu Grundbedürfnissen wie Unterkünften, Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und sanitären Einrichtungen.
Unter den geschätzten 2,1 Millionen Binnenvertriebenen waren 2019 rund 1,9 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe in Bezug auf Nahrung, Wasser und sanitäre Einrichtungen oder Schutzmaßnahmen angewiesen. Angriffe bewaffneter Gruppen, die Flüchtlingsunterkünfte niederbrennen, sind in Darfur weit verbreitet. Das gilt auch für die Plünderung von Getreide und anderen Besitztümern. Auch geschlechtsspezifische Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, ist weit verbreitet. Frauen und insbesondere Kinder, die über 60 Prozent der Binnenvertriebenen ausmachen, sind von der mangelnden Grundversorgung besonders betroffen und schutzbedürftig.
Gegenwärtige Vertreibung – historische Muster
Trotz ihres dynamischen Charakters und ihrer sich ändernden Muster stellen die jüngsten Formen der Binnenvertreibung im Wesentlichen kaum mehr dar als neue Ausprägungen von Trends, die vor über einem Jahrhundert ihren Anfang nahmen. Zum Beispiel können mehrere Parallelen zwischen den oben diskutierten internen Bevölkerungsvertreibungen seit der Unabhängigkeit Sudans 1956 und früheren Formen der "erzwungenen Migration" gezogen werden, wie zum Beispiel:
die Sklavenrazzien und der
Interner Link: Sklavenhandel im Süden Sudans, im Nuba-Gebirge und in Darfur und die damit verbundene Verlagerung, Vertreibung und Ausbeutung großer Bevölkerungsteile während der türkisch-ägyptischen Herrschaft (1821-1885);die Vertreibungen im Zusammenhang mit der sogenannten Tahjeer-Politik, die vom "Khalifa" (Abdullah al-Khalifa, der im späten neunzehnten Jahrhundert den Sudan regierte) als Strafmaßnahme gegen seine Gegner/-innen angewandt wurde und die gleichzeitig der Zwangsumsiedlung einiger Darfurianer/-innen und ihrer Stammesführer in die mahadistische Hauptstadt Omdurman diente. Damit verbunden war die Verbrennung von Dörfern und die Zerstörung von Eigentum durch die Truppen des Khalifa als Strafe für Widerstand oder um die Betroffenen zu entmachten und sie an einer Rückkehr zu hindern;
die britische Militärkampagne zur Bestrafung von Stämmen – die auch der Befriedung peripherer Bevölkerungen diente –, die sich in den Anfangsjahren der anglo-ägyptischen Herrschaft (1898-1956) der britischen Herrschaft widersetzten; ferner die britische Politik gegenüber in Städten lebenden Sklav/-innen. Um den Widerstand der Stämme gegen die Kolonialherrschaft zu schwächen, wurden Dörfer niedergebrannt, Ernten vernichtet und ein Teil der lokalen Bevölkerung aus ihren traditionellen Ländereien und Höfen vertrieben. Die Sklavenpolitik der britischen Regierung wiederum stellte
Interner Link: Sklav/-innen , die in städtischen Gebieten, insbesondere in Khartum, lebten, als Quelle des Bösen, des sozialen Verfalls und als Bedrohung für Recht und Ordnung und den sozialen Zusammenhalt dar. Sie wurden aus den Städten vertrieben und in ländliche Gebiete mit gewerblicher Landwirtschaft umgesiedelt.
Zusammenfassend kann die Vertreibung, wie oben erwähnt, als ein wesentlicher Bestandteil des Staatsbildungsprozesses, der Ausweitung der sozioökonomischen Grenzen des Staates und der Modernisierung der Wirtschaft des Landes betrachtet werden – und weniger als ein neueres Phänomen oder bloßer Nebeneffekt von Krieg oder Naturkatastrophen.
Politik im Umgang mit Vertreibungen
Die sudanesische Regierung unter Präsident Omar al-Bashir (im Amt von 1989 bis April 2019) hat die Leitprinzipien der Vereinten Nationen betreffend Binnenvertreibung (UN Guiding Principles on Internal Displacement, UNGP) von 1998 nicht anerkannt, weil sie sie als Versuch einer internationalen Einmischung in interne Angelegenheiten betrachtete. Für die Regierung galten sie als ein Instrument, um einen wachsenden Einfluss der Geberländer und die Präsenz internationaler Hilfsorganisationen im Sudan zu legitimieren. Dies wurde als unerwünschte Intervention und als Verstoß gegen die Souveränität des Landes gesehen. Stattdessen hat die Regierung Vertreibungen über Jahrzehnte durch Ministerial- und Präsidialdekrete verwaltet. Im Jahr 2009 erließ sie die erste nationale Richtlinie zu Binnenvertriebenen. Diese blieb im Allgemeinen vage und defensiv und bestätigte lediglich die Position der Regierung und die bestehenden Strategien und Praktiken gegenüber Binnenvertriebenen. Sie begrüßte zwar die internationale humanitäre Hilfe, um die Regierung bei der Bewältigung der Notstände langwieriger Vertreibungssituationen und bei der Suche nach dauerhaften Lösungen für Binnenvertriebene zu unterstützen. Gleichzeitig stellte sie jedoch klar, dass die Hauptverantwortung für Binnenvertriebene, insbesondere deren Schutz, bei der sudanesischen Regierung liege. Daher habe sie auch das Recht, Lager zu eröffnen und/oder zu schließen und Binnenvertriebene in geeignete Gebiete des Landes umzusiedeln.
Die praktische Strategie der Regierung zum Umgang mit Vertreibungen ist in den offiziellen politischen Diskurs eingebettet, der eigene Begriffe zur Definition der Vertreibungssituation im Sudan entwickelte und etablierte. Zum Beispiel haben die sudanesischen Begriffe "nuzuh" (freiwillige Umsiedlung) und "naziheen" (freiwillig Umgesiedelte) eine andere Bedeutung als die Begriffe "Binnenvertreibung" und "Binnenvertriebene". Die Begriffe nuzuh und naziheen implizieren, dass Vertreibung eine freiwillige und beabsichtigte Bewegung peripherer Bevölkerungsgruppen darstellt, die sich dazu entscheiden, ihre Dörfer zu verlassen und in bestimmte städtische Gebiete zu ziehen. Die Darstellung von nuzuh als eine Form der beabsichtigten und freiwilligen Migration hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Art und Weise, wie die sudanesischen Behörden Binnenvertreibungen in verschiedenen Teilen des Landes betrachteten und darauf reagierten.
Im Gegensatz zur weitverbreiteten Darstellung der Vertreibung als humanitäre Krise
Insbesondere im Fall von Darfur sahen die Behörden die über die Region verteilten Lager für Binnenvertriebene als Symbole des Völkermords an und entwickelten eine empfindliche und oft feindselige Haltung gegenüber diesen Lagern und den in ihnen tätigen Hilfsorganisationen. Infolgedessen versuchten sie, diese Lager abzureißen und ihre Bewohner/-innen in entlegene Gebiete zu verdrängen oder gewaltsam umzusiedeln. Tatsächlich ist die Bewältigung der Binnenvertreibung durch erneute Vertreibung und Umsiedlung der naziheen zu einem dominanten Merkmal der Politik im Umgang mit Vertreibungen im Land geworden. Am 11. April 2019 wurden nach dreißigjähriger Herrschaft Omar al-Bashir und sein Militärregime nach fünf Monaten jugendgeführter landesweiter Straßenproteste aus dem Amt gedrängt. Die Machtverschiebung und die jüngste Bildung einer von Zivilpersonen geführten Regierung haben den Zugang für humanitärer Hilfe erleichtert und Optimismus mit Blick auf eine bessere Achtung der Menschenrechte von Binnenvertriebenen und bessere Aussichten auf dauerhafte Lösungen für ihre Probleme geschaffen.
Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel