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"Der politische Rechtsruck folgt ein Stück weit derselben Logik wie die islamische religiöse Radikalisierung" | Frankreich | bpb.de

Frankreich Frankreich und die Einwanderung

"Der politische Rechtsruck folgt ein Stück weit derselben Logik wie die islamische religiöse Radikalisierung" Interview mit dem französichen Politikwissenschaftler Gilles Kepel

Gilles Kepel

/ 13 Minuten zu lesen

Im April 2017 finden in Frankreich Präsidentschaftswahlen statt. Seit geraumer Zeit melden die Medien einen Stimmenzuwachs der rechtsextremen Partei "Front National". Ist der zunehmende Nationalismus in Frankreich eine Reaktion auf die dschihadistische Radikalisierung oder ist die Radikalisierung eine Folge von integrationspolitischen Versäumnissen?

Der Konzertsaal des Bataclan war 2016 Ziel eines Attentats mit islamistischem Hintergrund. Ein Jahr nach dem Unglück wird hier der Opfer gedacht. (© picture alliance/ CITYPRESS 24)

Die zahlreichen Attentate des vergangenen Jahres in Frankreich verschärften den Sicherheitsdiskurs und beherrschen die politische Debatte im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen. Erneut stellt sich die Frage, welchen Platz der Interner Link: Islam in der nationalen französischen Identität einnimmt. Was macht junge Muslime anfällig für eine dschihadistische Radikalisierung? Die Redaktion von focus Migration sprach mit dem Sozial- und Politikwissenschaftler Gilles Kepel über den Stellenwert des Islam in der französischen Politik, die Auslöser für eine Radikalisierung und den Identitätsbruch in den europäischen Gesellschaften.

Welchen Stellenwert hat der Islam in Frankreich?

Der Islam hat einen wichtigen Stellenwert. In Frankreich lebt heute eine muslimische Bevölkerung, die im Wesentlichen aus der Interner Link: postkolonialen Einwanderung stammt. Sie wird auf ungefähr vier bis sechs Millionen Personen geschätzt. Genau kann man das nicht sagen, weil die religiöse Zugehörigkeit bei Volkszählungen in Frankreich nicht erhoben wird. In einem Interner Link: laizistischen Staat ist dies verboten. Jedenfalls machen Muslime zwischen acht und zehn Prozent der französischen Bevölkerung aus.

Gilles Kepel ist Professor am Institut d’Etudes politiques in Paris. (© picture-alliance/ Effigie/Leemage)

In der öffentlichen Debatte in Frankreich wird der Islam problematisiert. Anlässlich der diesjährigen, also 2017 stattfindenden, Präsidentschaftswahlen wird ziemlich polemisch darüber diskutiert. Das war bereits bei den vorherigen Präsidentschaftswahlen 2007 und 2012 der Fall. Beispielsweise gewann Nicolas Sarkozy 2007 die Wahlen, weil er 2005 während der Unruhen in den Interner Link: Arbeitervororten – vornehmlich von muslimischen Einwanderern bewohnt – als ein starker Innenminister in Erscheinung trat. 2012 gewann François Hollande unter anderem deshalb die Wahl, weil nahezu 90 Prozent der französischen Wähler mit muslimischer Religionszugehörigkeit angaben, ihn gewählt zu haben. Doch während seiner Amtszeit verlor Interner Link: François Hollande den Rückhalt der Muslime. Die sozialistische Regierung führte die Ehe für alle ein, die auch die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt. Das schlug sich in den Moscheen in verbalen Angriffen gegen ihn nieder. Bestimmte Imame forderten ihre Anhängerschaft dazu auf, die unredlichen Sozialisten für die gleichgeschlechtliche Ehe zu bestrafen. Tatsächlich erlitten die Sozialisten bei den Kommunalwahlen 2014 eine große Niederlage. Sei es, weil die Bewohner der muslimischen Viertel aufgrund der gleichgeschlechtlichen Ehe für die Rechte stimmten, sei es, weil sie gar nicht wählen gingen, da sich die sozialen Umstände nicht verbessert hatten. Gegenwärtig zählen Muslime zur Wechselwählerschaft, die in Frankreich auch zum Objekt von Identitätsfragen wird.

Welche Identitätsfragen stellen sich für französische Muslime?

Auf der einen Seite gibt es islamistische Gruppierungen, die der religiösen Identität den Vorrang geben möchten gegenüber der Zugehörigkeit zur französischen Gesellschaft, wie z.B. das "Kollektiv gegen Islamfeindlichkeit in Frankreich". Seine Mitglieder wollen die verschiedenen Präsidentschaftskandidaten mit Labels ausstatten, die zeigen sollen, ob sie "islamophob" sind oder nicht. Auf diese Weise wollen sie ihre Glaubensgenossen dazu animieren, nach ihren Kriterien für diesen oder jenen Kandidaten zu stimmen. Auf der anderen Seite hat sich die extreme Rechte heute in der Ablehnung dieser Muslime stark mobilisiert. Auf einer nationalistischen und ethnisch-kulturellen Basis bauen die Rechtsextremen eine französische Identitätsdimension auf – ein wenig wie man es in Deutschland an der Partei Interner Link: Alternative für Deutschland (AfD) sieht. Die islamische Frage wird heute in der französischen Politik überbetont.

Warum ist die islamische Frage in der französischen Politik momentan so überrepräsentiert?

Die islamische Frage hat wegen der Attentate in Frankreich in den vergangenen zwei Jahren eine besondere Verschärfung erlebt. Zwischen dem Attentat auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 und der Ermordung des Priesters Jacques Hamel in seiner Kirche in der Normandie durch zwei junge Dschihadisten im Alter von 19 Jahren am 26. Juli 2016 gab es in Frankreich 239 Tote durch dschihadistische Attentate. Natürlich ist das eine sehr wichtige Herausforderung. Dadurch gerät der Verdacht ins Innerste der französischen Gesellschaft und genau das ist offensichtlich das Bestreben dschihadistischer Gruppierungen. Wir erleben heute in Europa – und nicht nur in Frankreich – den Dschihadismus der dritten Generation, wie ich ihn in meinen Büchern nenne. Die erste Generation agierte zwischen 1979 und 1997. Damals richtete sich der bewaffnete Dschihad gegen Staatsoberhäupter und Regime muslimischer Länder, von Afghanistan über Ägypten bis Algerien. Die zweite Generation des Dschihadismus etablierte sich zwischen 1998 und 2005, als Osama Bin Laden beschloss, die westlichen Länder anzugreifen. Dabei schickte er Kommandos und operierte aus der Luft, wie z.B. am Interner Link: 11. September 2001 in New York und Washington. Seit 2005 befinden wir uns in dem, was ich die dritte Generation des Dschihadismus nenne. Diese erachtet Europa als den "weichen Bauch" der westlichen Welt. Hier gilt es, einen Dschihad mithilfe von Netzwerken einzurichten – einen Dschihad von unten, der sich auf jugendliche Einwanderer und Bürger bzw. Einwohner Europas stützt.

Was ist 2005 geschehen? Wie hat dieser Dschihadismus der dritten Generation begonnen?

Das Schema wurde seit 2005 von einem syrischen Ingenieur entwickelt. Er hat in Frankreich studiert, wurde dann in Spanien eingebürgert und lebte in den 1990er Jahren in London. Er heißt Abu Mussab al-Suri. Sein Buch ruft zum weltweiten islamischen Widerstand auf. Es wurde im Januar 2005 ins Internet gestellt und fiel dadurch bis auf wenige Wochen mit der Geburt von YouTube zusammen, als nächstes mit Twitter, Facebook, Telegram usw. All das hat die Verbreitung dieses neuen Dschihadismus-Typs erleichtert. Mit dem Scheitern der arabischen Revolutionen und dem Zusammenbruch mehrerer Länder wie Interner Link: Syrien, Libyen und dem Irak hat er sich umso mehr verstärkt. Es gab auf einmal autonome Dschihadisten-Gebiete wie das Kalifat Mossul, das sich ganz in der Nähe von Europa befindet. Für 300 Euro kann man mit dem Flugzeug in einer Stunde dorthin fliegen. Das hat die Abreise von mindestens 2.000 Franzosen und über 1.000 Deutschen oder Menschen ausländischer Herkunft, die in Deutschland leben, an die Front des Dschihad begünstigt. Sie reisten mit der Absicht dorthin, sich ausbilden zu lassen, zurückzukehren und in Europa Attentate zu verüben. Diese Logik erklärt die Externer Link: Attentate auf Externer Link: Charlie Hebdo, das Bataclan und in Nizza. Nunmehr trifft sie mit dem Attentat in Berlin im Dezember 2016 auch Deutschland.

Das alles verdanken wir offenbar dem Verdacht, der gegenwärtig die europäischen Gesellschaften zu zerbrechen droht. Deshalb habe ich mein neues Buch "Der Bruch" genannt. Eine der großen politischen Herausforderungen für unsere Gesellschaft ist, dass unsere Politiker – die im April und Mai in Frankreich und im September in Deutschland gewählt werden – fähig sein werden, diesen Identitätsbruch zu analysieren und zu überwinden. Es ist an ihnen, einen Gesellschaftsentwurf vorzuschlagen, mit dem wir über diesen Bruch hinwegkommen. Sowohl in Frankreich als auch in Interner Link: Deutschland, den Interner Link: Niederlanden, Interner Link: Österreich und anderswo findet man eine Opposition zwischen der Rechten und der Linken vor, die seit dem 19. Jahrhundert gleichermaßen die soziale und die politische Welt strukturierte und all ihre Kraft nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete.

Was ist das für ein "Identitätsbruch"?

Wir haben es heute in den europäischen Gesellschaften, aber auch beispielsweise in Trumps Amerika, mit einer neuen Art von Kluft zu tun: mit einer Kluft zwischen denen, die sich dazugehörig fühlen, den Insidern in der Gesellschaft, und denen, die sich ausgegrenzt fühlen, die nicht von der Öffnung des globalisierten Wirtschaftsmarktes profitieren, die ihre Arbeitsplätze verschwinden sehen und die wir ebenso unter den Kindern von Einwanderern wiederfinden wie unter den Arbeitern französischer, deutscher oder niederländischer Herkunft. Viele fühlen sich von der Interner Link: Globalisierung enteignet. Die einen suchen Halt in der Verschärfung der religiösen Identität, die anderen in der Verschärfung der nationalistischen Identität. Das ist exakt das, was die Urheber des Dschihad der dritten Generation beabsichtigen. Mit den Attentaten wollen sie gewalttätige Reaktionen der europäischen Gesellschaften, Pogrome in den Moscheen und Angriffe hervorrufen. Sie wünschen sich, auf diese Weise eine Kristallisierung in der muslimischen Bevölkerung, Aufstände in den Arbeitervororten und Kriege in den Enklaven zu erreichen, die in einen Bürgerkrieg münden. Dies ist die Zielsetzung des Buches von Abu Mussab al-Suri. Leider sehen wir anhand der vergangenen zehn Jahre – das Buch erschien 2005 und ist bis heute präsent –, dass dschihadistische Attentate in ebendieser Perspektive verübt worden sind. Für Dschihadisten ist es offensichtlich sehr gut, dass die extreme Rechte zulegt. Das nährt den besagten Bruch.

Woher rührt die Faszination von Einwanderern der zweiten oder dritten Generation für den Islamismus?

Wahrscheinlich rührt die Faszination für den Interner Link: Islamismus vom Misserfolg des Gesellschaftsentwurfs der Dekolonisierung sowohl im Interner Link: Maghreb als auch im Mittleren Osten. Außerdem erlaubte das Verschwinden von industriellen Arbeitsplätzen vielen jungen Menschen – vielleicht in Frankreich noch mehr als in Deutschland – nicht mehr, einen Modus zu finden, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Sie fanden sich in der Arbeitslosigkeit wieder, welche die Konstruktion einer rückwärtsgewandten Identität begünstigte. Anstatt eine mit den europäischen Gesellschaften verschmelzende Identität anzustreben, wendet sich ihre Identität einem manchmal mythisierten Erbe zu. Der Unterschied zwischen dieser Generation und der älteren Einwanderergeneration ist gut erkennbar. Letztere hatte bessere Arbeitsbedingungen, ihre Integration wurde besser bewältigt.

Ferner verfügt der heutige Islamismus über sehr wichtige Partner. Viel Geld kommt aus den Ölstaaten. Der Islamismus hat eine Dimension der Revolte gegen die westlichen Gesellschaften. Er liefert ein Vokabular, Modi der Mobilisierung und schafft Individuen, die sich nicht mehr mit ihren Gesellschaften identifizieren.

Warum radikalisieren sich auch Konvertiten?

Die Frage der Konvertiten ist heute in der Tat eine sehr aktuelle. Sie ist repräsentativ für die Verwirrung eines Teils der Jugendlichen der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse, die sich nicht mehr mit den Eliten der europäischen Staaten identifizieren. Da sie in den Stadtvierteln leben, wo der Großteil der Bevölkerung – zumindest aber die Jugend – muslimisch ist, finden sie mehr Solidarität mit diesem Bevölkerungsteil als in der Identifikation mit den europäischen Eliten. Unter den Franzosen, die nach Syrien gegangen sind, war nahezu ein Viertel Konvertiten.

Was sind im Allgemeinen die Auslöser für eine Radikalisierung?

Es gibt mehrere Auslöser. Natürlich ist da die Situation der sozialen Prekarität, die zu der Suche nach einer anderen Form von Identität und zu der Übertragung politischer Defizite in Gewalt führt. Außerdem haben meine Studenten und ich bei Umfragen festgestellt, dass in zahlreichen Familien, aus denen Personen beispielsweise nach Syrien gehen, der Vater fehlte. Er ist nicht mehr da und vermittelt somit nicht mehr das Gesetz der Gesellschaft in die Familie. Sei es, dass der Vater in sein Herkunftsland zurückgekehrt ist und die Frau mit den Kindern zurückgelassen hat, sei es, dass er seine Frau für andere Frauen verlassen hat. Man kann sehen, dass für gewisse Jugendliche, die keine Bezugspunkte väterlicher Art mehr haben, die peer group, d.h. ihre Gleichaltrigen, als besserer Schutz gegen die gesellschaftliche Anomie erscheint. Die Gleichaltrigen ersetzen das Gesetz des abwesenden Vaters durch ein wesentlich verbindlicheres: das religiöse islamische Recht.

Schlussendlich und vor allem spielt die salafistische Ideologie eine sehr wichtige Rolle. Sie treibt heute einen kompletten Bruch mit den Werten der europäischen Gesellschaften voran. Da die in der Schule gelehrten Fertigkeiten sich nicht dazu eignen, eine Arbeitsstelle zu finden, besteht die Tendenz, die Kenntnisse samt der mit ihnen einhergehenden Werte über Bord zu werfen. Der Salafismus präsentiert sich als Alternative. Größtenteils ist der Salafismus nicht zwangsläufig gewaltsam, doch kann er schnell zum Dschihadismus übergehen. Sobald der Wertebruch vollzogen ist, kann gleichermaßen ein Übergang zum Gewaltakt erfolgen.

Welche Bedeutung ist den banlieues beizumessen? Warum gibt es so viele Probleme in den Vororten?

Das französische Wort Interner Link: banlieue bezeichnet prinzipiell jede Kleinstadt am Rande einer Großstadt, wie z.B. die Pariser banlieue. Im gesprochenen Französisch ist der Begriff zu einer Metapher für soziale Probleme geworden. Es gibt zwar auch Wohnorte der arbeitenden Mittelschicht, doch versteht man unter banlieue im Alltagsfranzösisch heute vor allem Arbeitervororte, wo in großen Gebäudekomplexen mehrheitlich Einwanderer, darunter vornehmlich arbeitslose Jugendliche, leben. Dies macht die banlieues zu einem Forum sozialer Agitation und Kriminalität. Die Kriminalität schlägt sich vor allem in Drogenhandel und Auseinandersetzungen mit der Polizei nieder. Erst kürzlich, im Februar 2017, gab es in Frankreich Vorfälle in der Pariser Vorstadt Aulney-sous-Bois. Den Polizisten wurde vorgeworfen, Jugendlichen mit afrikanischem Migrationshintergrund Gewalt angetan zu haben. Die Lage ist stets explosiv und kann sich in die Agenden der Wahlkampagnen einschreiben, sowohl für die Präsidentschafts- als auch für die Parlamentswahl.

Ist die Radikalisierung eine Folge von integrationspolitischen Versäumnissen?

Wahrscheinlich ist sie in der Tat eine der Konsequenzen, aber nicht die einzige. Die Interner Link: Radikalisierung ist durch die drei bereits angesprochenen Gründe möglich geworden. Auch der Zusammenbruch von z.B. Syrien, Libyen und dem Irak hat die Mobilisierung begünstigt und einen imaginären Raum geschaffen, in dem man "das Böse bekämpft", Ungläubige und Abtrünnige bekämpft. Das bietet eine Identitätsprojektion, die sich sodann in Angriffen auf europäischem Territorium niedergeschlagen hat.

Der politische Rechtsruck ist ebenfalls eine Folge integrationspolitischer Versäumnisse, zumal er ein Stück weit derselben Logik folgt wie die islamische religiöse Radikalisierung. D.h. es geht um Individuen, die meinen, die Gesellschaft erkenne sie nicht mehr an, biete ihr in ihrer Mitte keinen Platz mehr.

Wie fallen in der Mehrheitsgesellschaft die Meinungen über und die Reaktionen auf Radikalisierung aus? Ist der Nationalismus eine Reaktion auf den Islamismus oder ist der Islamismus eine Folge des Nationalismus?

Nationalismus gab es natürlich auch schon früher. Allerdings ist es heutzutage gerade die Logik, die Spirale dieses Bruchs, die Radikalisierung als Übergang zu dschihadistischer Gewalt, die die Mehrheitsgesellschaft beunruhigt und die Zustimmung zur extremen Rechten begünstigt. Ich denke, in Frankreich war die extreme Rechte bereits seit Langem präsent. Jean-Marie Le Pen schaffte es bei der Präsidentschaftswahl 2002 in die Stichwahl. Damals vereinigte er 17 Prozent der Stimmen auf sich. Heute ist seine Tochter Präsidentschaftskandidatin. In allen Umfragen in Frankreich hat sie momentan mindestens ein Viertel der Wähler hinter sich, also mindestens 25 Prozent der Stimmen. Obwohl es noch viele Unbekannte gibt, wird aktuell vorausgesagt, dass sie den zweiten Wahlgang erreicht und in diesem mindestens 35 Prozent der Stimmen holt. Das käme im Vergleich zu ihrem Vater einer Verdoppelung gleich und eröffnete vor allem die Perspektive, von nun an zahlreiche Abgeordnete im Parlament zu versammeln.

Das wäre ein völlig neues Phänomen, ebenso wie in einem Land wie Deutschland. Das moderne Deutschland gründet auf der absoluten Ablehnung des "Dritten Reichs". Zum ersten Mal hat eine Partei der extremen Rechten solche Erfolge wie sie die AfD erzielt. So etwas gab es in der Vergangenheit noch nie. Offensichtlich spielt die Logik der Unsicherheit der Identität und der Ablehnung des Islamismus nun eine nicht zu vernachlässigende Rolle.

Inwiefern ist die Radikalisierung ein spezifisch französisches Problem?

Das Problem der Radikalisierung hat in Frankreich aus Gründen, die der eigenen Geschichte geschuldet sind, eine sehr wichtige Dimension erfahren: Einerseits sind die Probleme mit der Arbeitslosigkeit in Frankreich viel gravierender für Jugendliche, die aus Nord- oder Subsahara-Afrika stammen, als es z.B. bei Jugendlichen türkischer Herkunft in Deutschland der Fall ist. Andererseits hat sich dies heute mit der Neuschreibung der Interner Link: Kolonialgeschichte und dem Willen einiger postkolonialer Akteure vermengt, aus der französischen Kolonisation eine Art Völkermord zu machen und sie ein wenig als eine Shoah zu betrachten. Gleichwohl räumt die explizit laizistische französische Gesellschaft der religiösen Identität auf der politischen Ebene im Allgemeinen sehr wenig Platz ein.

Die Elemente, die die Deutschen haben glauben machen, dass sie völlig gegen dieses Problem immun seien, zeigen deutlich, dass das nicht ausreicht. In Deutschland finden wir die bereits genannten drei Charakteristika nicht. Trotzdem erleben wir einen Anstieg der Attentate sowie des Zuspruchs für die extreme Rechte. Ich denke, das ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Grenzöffnung der Kanzlerin für Geflüchtete und Asylsuchende, die 2015 und 2016 aus dem Mittleren Osten gekommen sind, die Zusammensetzung der jungen muslimischen Bevölkerung in Deutschland völlig verändert hat. Bisher handelte es sich um türkeistämmige Jugendliche, die von verschiedensten, aber eher autoritären und der türkischen Innenpolitik zugewandten, türkischen Vereinen sehr vereinnahmt waren.

Inzwischen hat sich die Interner Link: Türkei verändert. Die Türkei von Herrn Erdoğan ist nicht die von Atatürk. Sie verfolgt mit missionarischem Eifer eine islamische politische Agenda gegenüber dem Ausland. Zudem hat Herr Erdoğan aufgrund seiner Intervention in Syrien zunächst die islamistischen Rebellen unterstützt. Diese suchen aber heute die Versöhnung mit dem Regime in Damaskus, weil sie die Herausbildung eines kurdischen Staats zwischen der Türkei und Syrien fürchten. In der Türkei ist dies in islamistische Gewalt von Gruppierungen umgeschlagen, die sich von Präsident Erdoğan verraten fühlen: die Ermordung des russischen Botschafters in Ankara am selben Tag wie das Attentat in Berlin, dann das Attentat in der Diskothek Reina in Istanbul an Silvester. Diese Ereignisse veranschaulichen, dass die gegenwärtige Türkei ein politisch sehr instabiler Raum geworden ist. Die Erfahrung zeigt, dass sich Instabilität in den Herkunftsländern von Einwanderern auch auf das Aufnahmeland übertragen kann. So führte in den 1990er Jahren eine starke politische Instabilität in Algerien zu einer Instabilität der algerischen Diaspora in Frankreich. Die internen, verschärften türkischen Spannungen können sich auch auf die türkische Bevölkerung Deutschlands projizieren.

Ferner sind die Geflüchteten noch überhaupt nicht betreut. Auch wenn die Deutschen große Mühen bezüglich Bildung und Spracherwerb auf sich genommen haben, sind gerade Syrer, Afghanen und Iraker der deutschen Gesellschaft und den deutschen Institutionen unbekannt. Selbstverständlich wird dies große Anpassungsprobleme mit sich bringen. Die jüngsten Attentate in Deutschland im Jahr 2016 wurden zum Teil von Individuen begangen, die abgelehnte Asylbegehrende oder Flüchtlinge waren. Selbst wenn es sich um eine ganz kleine Fraktion handelt und der Großteil der Geflüchteten Deutschland sehr dankbar dafür ist, sie aus einer grauenhaften Lage in ihren Herkunftsländern befreit zu haben, schafft all das ganz unterschiedliche Situationen. Es ist ein beunruhigender Faktor für die deutsche Gesellschaft, der sich in dem Aufstieg der extremen Rechten niederschlägt.

Das Interview führte und übersetzte Anna Flack, Redaktion focus Migration.

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Gilles Kepel ist Politik- und Sozialwissenschaftler und Professor am Institut d’Etudes politiques in Paris. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa" (2016) sowie "Der Bruch. Frankreichs gespaltene Gesellschaft" (2017) im Verlag Antje Kunstmann.