Der neunte Fünfjahres-Entwicklungsplan ("Ninth Five-Year Development Plan") (2010-2014) Saudi Arabiens eröffnete das Kapitel über Humanressourcen wie folgt: "Die Entwicklung von Humankapital ist ein Mittel und ein Ziel der sozioökonomischen Entwicklung, weil Menschen zum Grundstein und zum wichtigsten Kriterium des Fortschritts von Nationen geworden sind" (KSA, MEP 2009, S. 169; Übersetzung durch die Redaktion). Auch die Entwicklungspläne der anderen GCC-Staaten konzentrieren sich auf die Entwicklung von Humankapital, die Schaffung von Arbeitsplätzen für die einheimische Bevölkerung und die Anhebung der Erwerbsquote, um die Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften zu verringern und das Pro-Kopf-Einkommen anzuheben.
Arbeitslosigkeit
Zwischen diesen offiziellen Plänen und der Realität klafft jedoch eine große Lücke. Die Betrachtung des "rentenökonomischen Niveaus" in jedem einzelnen der GCC-Staaten zeigt, dass sich die Abhängigkeit der einheimischen Bevölkerung von einer Beschäftigung im öffentlichen Sektor und die Abhängigkeit der Privatwirtschaft von ausländischen Arbeitskräften in den letzten vier Jahrzehnten nicht verringert haben. Sie sind in vielen Fällen sogar noch gestiegen. Im Jahr 2001 lag die Arbeitslosenquote der einheimischen Bevölkerung in Katar bei 11,6 Prozent (Berrebi/Martorell/Tanner 2009, S. 428); sie sank daraufhin rapide ab und erreichte 2009 einen Wert von 0,3 Prozent (ESCWA 2011, S. 13). Dieser starke Rückgang war nicht das Ergebnis einer wirtschaftlichen Leistungssteigerung und der Beschäftigung vieler katarischer Staatsangehöriger in der Privatwirtschaft. Stattdessen zeigt der Rückgang der Arbeitslosigkeit, dass es dem Staat gelungen ist, für die Mehrheit der jungen Staatsangehörigen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu schaffen, was aufgrund der hohen Öl- und Gasteinkünfte möglich war.
Vor diesem Hintergrund sollte angemerkt werden, dass viele Wissenschaftler häufig den Fehler begehen, den Erfolg der Arbeitsmarkt- und Naturalisierungspolitiken an der Zahl der beschäftigten Einheimischen im privaten und öffentlichen Sektor zu messen. Dies ist aus zwei Gründen ein irreführender Ansatz: Erstens sind viele Einheimische in dem bereits ausladenden öffentlichen Sektor beschäftigt, ohne einen Beitrag zu dessen Produktivität zu leisten und zweitens werden viele Einheimische nur deswegen in privatwirtschaftlichen Unternehmen beschäftigt, damit diese die Quote erfüllen. Mit Blick auf die letzten zwei Jahrzehnte kann eine Art Pendel-Muster bezüglich der Durchsetzung der Quotenregeln beobachtet werden: In wirtschaftlich florierenden Phasen werden diese, obwohl sie weiterhin existieren, nicht mit Nachdruck von den Obrigkeiten durchgesetzt; in Phasen eines Konjunkturabschwungs werden die Quotenregelungen strenger gehandhabt (Forstenlechner/Rutledge 2010, S. 43).
Mangelnde wirtschaftliche Diversifizierung
Es scheint, dass das Scheitern der Politik der Nationalisierung der Erwerbsbevölkerung der GCC-Staaten auf der einen Seite damit zusammenhängt, dass es ihren Wirtschaften nicht gelingt, ihre Abhängigkeit von Renteneinkünften zu verringern. Obwohl die Diversifizierung der Wirtschaft das erklärte wirtschaftliche Hauptziel der Staaten in der Golfregion ist, hat mit Ausnahme von Dubai und in geringerem Maße Bahrain noch keines der Länder dieses vorrangige Ziel erreicht. Selbst im Fall von Oman, dem Staat der neben Bahrain den am geringsten ausgeprägten rentenökonomischen Charakter aufweist, beliefen sich im Jahr 2010 80,8 Prozent aller staatlichen Einnahmen auf Öl- und Gaseinkünfte (CBO 2011, S. 8). In den anderen GCC-Staaten stellten Öl- und Gasteinkünfte mehr als 90 Prozent der staatlichen Einnahmen und damit genauso viel wie in den 1970er Jahren. Neben den direkten aus Öl und Gas erzielten Einkünften, sollten auch die Einnahmen gezählt werden, die große Investitionen im Ausland einbringen. Im Fall von Kuwait beispielsweise basierten die Staatseinnahmen 2010 zu 95,8 Prozent auf Einnahmen aus dem Ölexport und Auslandsinvestitionen (MEES 25. Juli 2012, S. 18). Darin liegt auch der Grund für die hohe Fluktuation staatlicher Einnahmen seit dem Ölboom. Paradoxerweise sind parallel zur Verschlechterung der politischen Situation im Mittleren Osten steigende Öleinkünfte und damit eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der herrschenden Familien der GCC-Staaten zu beobachten. Die Öleinnahmen Saudi Arabiens stiegen beispielsweise von $150,5 Milliarden im Jahr 2005 auf $293,3 Milliarden im Jahr 2011 (MEED 10.-16. Februar 2012, S. 32), obgleich die Ölproduktion im selben Zeitraum von 9,55 Millionen Barrel pro Tag auf 8,44 Millionen Barrel pro Tag sank (EIA, IPM).
Abhängigkeit von Renteneinkünften und ihre Folgen
Obwohl die Kontrolle über die Öl- und Gaseinkommen die Kontrolle der Herrscherfamilien über die einheimische Bevölkerung gestärkt hat, verpflichtete sie sie gleichzeitig dazu, die Bevölkerung unabhängig von der wirtschaftlichen Situation des jeweiligen Landes mit fortwährender Beschäftigung im öffentlichen Sektor, Wohnraum und einer Vielzahl an komplett bezuschussten oder zum Großteil subventionierten Gütern und Dienstleistungen zu versorgen. Gleichzeitig führten extrem niedrige Energiepreise zu einem höheren Energieverbrauch und damit wiederum zu erhöhten staatlichen Subventionskosten.
Die Herrscherfamilien der GCC-Staaten "erkauften" sich also gewissermaßen die Loyalität ihres Volkes, ähnlich der Maxime "geben und nehmen" und nicht nach der in sozialdemokratischen Staaten vorherrschenden Vorstellung eines "gemeinsamen Schicksals". Während also in Sozialdemokratien das Ziel direkter staatlicher Zuwendungen, insbesondere in Form von sozialer Sicherung, die Umverteilung der Staatseinnahmen ist, liegt das Ziel des rentenökonomischen Systems der GCC-Staaten hauptsächlich darin, die Entwicklung jeglicher (politischer) Opposition zu unterbinden. Es sind nicht die Sozialschwachen, die die höchsten Zuwendungen aus den Renteneinkünften erhalten, sondern die oberen Gesellschaftsschichten, die keine Einkommenssteuern zahlen müssen und von hohen finanziellen Vorteilen in privatwirtschaftlichen Unternehmen profitieren. Das Ergebnis dieser Politik ist eine stetige Zunahme der staatlichen Ausgaben. In Saudi Arabien beispielsweise stiegen die Staatsausgaben von $92,4 Milliarden im Jahr 2005 auf voraussichtlich $184 Milliarden 2012 (MEED 10.-16. Februar 2012, S. 32; MEES 28. Mai 2012, S. 5).
Die Obrigkeiten der GCC-Staaten sind also ständig gehalten, höhere Renteneinkünfte zu erzielen, um einerseits eine Besteuerung der einheimischen Bevölkerung zu vermeiden und andererseits sowohl hohe Arbeitslosigkeit als auch ein Absinken des Lebensstandards zu verhindern. Ein Blick auf die Ausgaben der GCC-Staaten im Jahr 2012 zeigt, dass diese in jedem einzelnen GCC-Land deutlich über denen des Vorjahres lagen (vgl. z.B. MEES 16. Januar, S. 10-12 26. März 2012, S. 21). Im Ergebnis heißt dies, dass der Ölpreis kontinuierlich steigt, da die Ölgewinne die Staatskosten decken müssen. Analysten vermuten, dass im Fall von Saudi Arabien der angestrebte Ölpreis vor dem Hintergrund des derzeitigen Produktionsniveaus bei $90-$100 pro Barrel liegt (MEED 20.-26. Januar 2012, S. 7; MEES 16. Januar 2012, S. 11). Vor dem Hintergrund der weltweiten Rezession äußerte sich der saudische Ölminister ‘Ali al-Na‘imi im Januar 2012 zum Ölpreis: "Unser Wunsch und unsere Hoffnung ist es, den Ölpreis zu stabilisieren und auf einem Niveau von rund $100 pro Barrel zu halten" (ArabNews.com 12. Januar 2012; MEES 28. Mai 2012, S. 5; Übersetzung durch die Redaktion).
Die Zukunft der Arbeitsmigration und damit einhergehende Herausforderungen
Solange die einheimische Bevölkerung aufgrund der hohen natürlichen Wachstumsraten weiterhin zunimmt, wird auch die Zahl ausländischer Arbeitskräfte weiter ansteigen. Dies liegt nicht nur in der steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften im wachsenden Industrie- und Dienstleistungsbereich begründet, sondern auch in der steigenden Zahl an Haushaltsangestellten. Mit der zunehmenden Zahl ausländischer Arbeitskräfte verstärkt sich auch das Geschlechterungleichgewicht zugunsten eines Männerüberschusses. Schon heute stellen in Katar, den VAE und Kuwait Frauen weniger als ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Wie wird die soziale Situation in diesen Ländern aussehen, wenn nur noch 10 Prozent (oder sogar weniger) aller Einwohner weiblich sind? Gibt es auf der Welt eine Gesellschaft, die mit einer derartigen Geschlechterzusammensetzung langfristig überleben kann? Wird diese Geschlechterzusammensetzung dazu führen, dass die Gewalt zunimmt, insbesondere die Gewalt gegen Frauen? Wird diese Situation die Obrigkeiten der GCC-Staaten dazu veranlassen, ihre Zuwanderungs- und Beschäftigungsstrategien zu ändern? Die Antworten auf diese Fragen sind der Schlüssel zur Überlebensfähigkeit der aktuellen sozio-politischen Struktur der GCC-Staaten.