Die Geschwister Lial (19), Hassan (18) und Maradona (14) Akkouch sind im multikulturell geprägten Berliner Bezirk Neukölln groß geworden. Sie haben dort viele Freunde und Bekannte und fühlen sich in Berlin zu Hause. Doch obwohl die Familie seit fast 18 Jahren in Deutschland lebt und vier der insgesamt sechs Geschwister hier geboren wurden, wird Ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft verwehrt. Ihr Aufenthaltsstatus ist prekär. Was genau das bedeutet, weiß die Familie Akkouch spätestens seit sie im April 2003 in einer Nacht- und Nebelaktion in den Libanon abgeschoben wurde – ein Land, mit dem zumindest die Kinder keinerlei Verbindung haben. Zwar konnten die Akkouchs nach Deutschland zurückkehren, aber seitdem leben sie Tag für Tag mit der Angst vor der erneuten Abschiebung.
Trotzdem scheint es Lial, Hassan und Maradona gelungen zu sein, sich in die deutsche Gesellschaft integriert zu haben. Alle drei Geschwister sind begabt im Tanz. Sie haben sich als Tänzerin und Tänzer auch über die Grenzen Berlins hinaus einen Namen gemacht. Breakdance und Hip-Hop sind ihre Sprache und ihre Leidenschaft – und gleichzeitig ein Ventil, um Druck abzulassen. Lial absolviert zur Zeit der Filmaufnahmen eine kaufmännische Lehre. Hassan ist dabei, sein Abitur zu machen. Beide verdienen nebenher Geld als Tänzer in verschiedenen professionellen Ensembles und engagieren sich außerdem sozial, indem sie andere Jugendliche und Kinder im Breakdance unterrichten. Auch in der Familie übernehmen sie einen großen Teil der Verantwortung, denn ihre Eltern leben getrennt. Ihre Mutter ist vollauf mit der Versorgung der kleinen Geschwister beschäftigt und von der Kommunikation mit den Behörden überfordert.
Der 14-jährige Maradona steht seinen Geschwistern zwar auf der Tanzfläche in nichts nach, hat aber jenseits des Parketts immer wieder Probleme. Er wird wiederholt von der Schule suspendiert – einmal wegen Mitführen eines Messers – und bekommt erste Strafanzeigen. Er steht stellvertretend für viele Jugendliche, denen es schwer fällt, Hierarchien und Autoritäten zu akzeptieren.
Ein Leben im Ausnahmezustand
Hassan, Lial und Maradona stehen Tag für Tag vor Anforderungen, die nur wenige gleichaltrige Deutsche meistern müssen. Seit ihrer Geburt führen sie ein Leben im Ausnahmezustand. Ihr ungesicherter Aufenthaltsstatus in Deutschland führt dazu, dass jedes persönliche Fehlverhalten die Sicherheit der gesamten Familie gefährden kann. Die Folge wäre eine erneute Abschiebung, vor der sich alle Familienmitglieder fürchten. Jedes Familienmitglied reagiert darauf auf seine Weise. Maradona, der gerade mitten in Pubertät steckt, lehnt sich gegen Autoritäten auf. Er bringt sich und die Familie immer wieder in Schwierigkeiten. Lial und Hassan agieren dagegen extrem verantwortungsbewusst. Sie versuchen, die Rolle des abwesenden Vaters zu übernehmen und die Familie finanziell und sozial zu stützen. Dabei geraten sie sogar in ein ernsthaftes Konkurrenzverhältnis untereinander. Beide wetteifern damit um eine Position, die sie – nicht nur angesichts ihres Alters – kaum ausfüllen können, die aber für Migrantenkinder der zweiten und dritten Generation typisch ist
Tatsächlich haben sie kaum eine andere Wahl, denn für sie gibt es keine andere Heimat als Deutschland. Den Libanon kennen sie nur von wenigen Besuchen, statt Arabisch sprechen sie Deutsch mit Berliner Akzent. Wer von Ihnen fordert, sich zu integrieren, der übersieht, dass sie längst Teil dieser Gesellschaft sind. Dies wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, wenn das Filmteam die Geschwister im Jugendzentrum beim Training zeigt. Hier sind sie wichtige Bezugspersonen für die Jüngeren, die ihnen mit Respekt begegnen. Noch deutlicher wird die Diskrepanz zwischen ihrer prekären rechtlichen Lage und ihrer guten sozialen Verankerung bei ihren umjubelten Auftritten. Plötzlich sind sie, die Tage vorher noch als Bittsteller in der Asylbehörde mit bangem Herzen auf die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung gewartet haben, die umjubelten Stars auf dem roten Teppich. Trotzdem warten sie noch immer darauf, endlich das sogenannte "Kartoffelfest" feiern zu können, bei dem die Erteilung der deutschen Staatsbürgerschaft mit einem (vermeintlich typisch deutschen) Menü voller Kartoffelspeisen gefeiert wird.
Wie man ein Lebensgefühl durch filmische Mittel transportiert
Für Lial, Hassan und Maradona ist das Tanzen ein zentraler Aspekt ihres Lebens. Nur die Tanzengagements ermöglichen es Ihnen, die Familie neben Schule und Ausbildung so weit finanziell zu unterstützen, dass sie wieder einige Zeit länger geduldet werden. Auf der Bühne werden die Geschwister sichtbar, obwohl ihnen die Gesellschaft am liebsten gar keinen Platz einräumen will. Das Tanzen gibt ihnen die Kraft zum Durchhalten und die Energie, jeden Tag wieder aufzustehen. Und ganz nebenbei sorgen Hip-Hop und Breakdance dafür, dass auch der Film selbst einen gehörigen Energieschub bekommt.
Mehrfach werden Breakdance-Battles dokumentiert, bei denen Hassan und Maradona allein oder im Team gegen andere Tänzer antreten. Bei diesen Wettkämpfen gilt es, den oder die Kontrahenten durch die eigene Darbietung zu übertrumpfen, sei es durch die Choreographie, das akrobatische Können, aber auch durch geschickt gesetzte Überlegenheitsgesten. Nicht von ungefähr erscheinen die Battles in "Neukölln Unlimited" wie eine Metapher für den alltäglichen Kampf der Akkouch-Geschwister um die Anerkennung durch die deutsche Gesellschaft.
Die Kamera bleibt immer nah an den Hauptpersonen, wird teilweise auch direkt zum Gesprächspartner. Dadurch werden die Zuschauer unmittelbar angesprochen und eingebunden. Nur selten kommt ein Stativ zum Einsatz, normalerweise wird aus der Hand bzw. von der Schulter gedreht, was dem Film eine gewisse Dynamik verleiht, in manchen Szenen aber auch ein wenig an ein Home-Movie erinnert. Dieser Effekt dürfte gewollt sein, gelingt es den Regisseuren doch auf diese Weise, die Zuschauenden ganz ohne Berührungsängste in den Neuköllner Haushalt der Familie mitzunehmen. Damit schaffen sie einen seltenen Einblick in eine vermeintliche Parallelwelt, die bei näherer Betrachtung genauso funktioniert wie die eigene: alle treffen sich in der Küche, keiner will freiwillig staubsaugen und wenn Maradona bei "Deutschland sucht den Superstar" auftritt, klebt die ganze Familie vorm Fernseher.
Die Regisseure Agostino Imondi und Dietmar Ratsch setzen im Verlauf des Films weitere künstlerische Akzente, die genau auf den Grundton den Films abgestimmt sind. So illustrieren sie die teilweise traumatischen Erinnerungen der Protagonisten an die Abschiebung mit zurückhaltenden Animationssequenzen in einem farblich reduzierten Graffiti-Stil, um für die Zuschauerinnen und Zuschauer erfahrbar und begreiflich zu machen, was die Kamera nicht dokumentieren konnte. Mit Hilfe der Animationssequenzen und Hassans eindrücklicher Worte gelingt es, spürbar zu machen, was eine Abschiebung tatsächlich bedeutet. Da die Graffitikunst eng an die Hip-Hop- und Breakdance-Kultur angekoppelt ist, lag der Rückgriff darauf nahe.
Für die Filmmusik ließen sich die Komponisten nicht nur von vom Hip-Hop inspirieren, sondern auch von traditionellen Sounds aus dem Mittleren Osten. Dieser eklektische Mix spiegelt das "Leben zwischen den Kulturen” wieder, das Lial, Hassan und Maradona täglich führen. Ihr Neuköllner Alltag wird so auch akustisch erlebbar. Weitere Songs, die im Film zu hören sind, wurden von den Protagonisten selbst geschrieben und gesungen. In Hassans Texten wird das Lebensgefühl vieler Jugendlicher mit Migrationshintergrund klar und unverblümt in Worte gefasst – er thematisiert aber auch auf subjektive Weise politisch kontroverse Themen wie den
Perspektivwechsel – verschiedene Blickwinkel auf den Alltag
In jeder Szene von "Neukölln Unlimited" wird spürbar, dass zwischen den Filmemachern und der Familie Akkouch ein enges, fast familiäres Verhältnis besteht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Regisseure großen Wert darauf gelegt haben, erst zu drehen, nachdem die Familie Vertrauen zu ihnen aufgebaut hatte. Bis alle Familienmitglieder einverstanden waren, vergingen Monate der Überzeugungsarbeit. Die Regisseure Agostino Imondi und Dietmar Ratsch wussten, dass ein persönlicher Dokumentarfilm wie dieser nur entstehen kann, wenn alle Mitwirkenden ihnen vertrauen. Gleichzeitig scheint es für die Regisseure ein andauernder Balance-Akt, trotz der Nähe auch Abstand zu wahren, denn nur aus einer gewissen Distanz heraus kann eine filmische Perspektive entstehen, in der die Kamera das Geschehen beobachtet, statt selbst zum Protagonisten zu werden.
In "Neukölln Unlimited" bekommt man als Zuschauer leicht das Gefühl, dass das Filmteam im Alltag einfach mitgelaufen ist. Klassische Interviews finden sich kaum. Dafür wird die Innenperspektive immer wieder durch Blicke von außen ergänzt, zum Beispiel in Form der öffentlichen Tanz-Auftritte oder durch Hassans Diskussion mit dem damaligen Berliner Innensenator Erhart Körting (SPD). Gerade wenn man die drei Geschwister vorher bei häuslichen Kabbeleien über den Abwasch erlebt hat, fügt ihr selbstsicheres und bestimmtes Auftreten auf der Bühne und im öffentlichen Leben diesem Persönlichkeitsbild eine wichtige Facette hinzu.
Ganz bewusst haben die beiden Regisseure keine Experten-Interviews in den Film integriert. Sie wollten ein komplexes, persönliches Portrait der drei Akkouch-Geschwister drehen und keine themenbasierte Dokumentation erstellen. Im Mittelpunkt stehen deshalb immer Lial, Hassan und Maradona mit ihren ganz persönlichen Hoffnungen, Wünschen und Sorgen. Natürlich spielt die Frage der Integration im Film trotzdem eine große Rolle, aber das liegt weniger daran, dass das Thema von den Filmemachern in den Mittelpunkt gerückt wird, sondern dass der unsichere Aufenthaltsstatus das Leben der Familie Akkouch im Alltag ganz entscheidend prägt.
Die Grenzen der Authentizität
Maradona Akkouch (rechts) mit seiner Familie (© Indi Film GmbH)
Maradona Akkouch (rechts) mit seiner Familie (© Indi Film GmbH)
Jeder Film kann nur einen begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit beleuchten, zeigen und darstellen. Häufig steht während der Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm noch nicht endgültig fest, welcher Ausschnitt dies sein wird. Erst im Prozess der Montage wird entschieden, welche Geschichte zum roten Faden wird. Im Fall von "Neukölln Unlimited" wurden schließlich aus den 160 Stunden Material vor allem Szenen ausgesucht, in denen es um den Kampf der Geschwister um ein unbefristetes Bleiberecht für ihre Familie geht. Da nicht alle Behörden eine Drehgenehmigung erteilten, behalf sich das Filmteam stellenweise damit, dass die Geschwister sich gegenseitig die Behördenkorrespondenz vorlesen. Auch wenn es ohne die Dreharbeiten sicher nicht zu dieser Szene gekommen wäre, fügt sie sich doch in die Gesamtdramaturgie ein. Da die Akkouch-Geschwister die Anwesenheit des Filmteams ohnehin immer wieder thematisieren, erscheint es auch nur folgenrichtig, dass sie die komplexen Forderungen der Behörden bewusst gemeinsam vor der Kamera diskutieren.
Die lange Drehzeit von drei Jahren macht es unmöglich, alle Wendepunkte im Leben der drei Geschwister mit der Kamera zu begleiten. Vor allem gibt es bei Maradonas Entwicklung einige spürbare Sprünge und es bleibt relativ offen, wann und vor allem warum er sich vom trotzigen Teenie mit Macho-Allüren zum gläubigen Moslem gewandelt hat, der deutlich ruhiger und gesetzter auftritt. Letztlich sind diese Sprünge aber zu verschmerzen, offenbaren sie doch vor allem, dass bei den Akkouch-Geschwistern eine spürbare Entwicklung stattgefunden hat.
An der prekären rechtlichen Situation der Familie hat sich allerdings bis heute nur wenig geändert. Einzig Lial, die in der Zwischenzeit ein Kind bekommen hat und gerade ihre Ausbildung abschließt, ist durch ihre Heirat (mit einem Deutschen) nun vor Abschiebung relativ sicher geschützt. Alle anderen Familienmitglieder kämpfen weiterhin um einen sicheren Aufenthaltsstatus. Hassan, der inzwischen an der Münchner Schauspielschule studiert und in seit dem Ende der Dreharbeiten zu "Neukölln Unlimited" in vielen Filmen als Schauspieler aufgetreten ist, will demnächst eine Niederlassungserlaubnis beantragen. So wird die Familie Akkouch auch 2014 noch kein abschließendes "Kartoffelfest" feiern können und Deutschland weiterhin nur als Heimat auf Abruf erleben.