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Migrationspolitik – immer in Bewegung | Neukölln Unlimited | bpb.de

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Migrationspolitik – immer in Bewegung

Karl-Heinz Meier-Braun

/ 7 Minuten zu lesen

Vom Gastarbeiter- zum Einwanderungsland: Die deutsche Migrationspolitik hat in den letzten Jahren tiefgreifende Veränderungen erfahren. Trotzdem bergen Themen wie Integration und der Umgang mit Flüchtlingen weiterhin Konfliktpotenzial.

Kinder feiern im Übergangswohnheim in der Radickestraße in Berlin Adlershof ein Sommerfest (© picture-alliance, Jens Kalaene)

Asylpolitik unter Kritik

Kritische Töne zur Asylpolitik mussten sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bei der Feierstunde "65 Jahre Grundgesetz" am 23. Mai 2014 anhören. Die Festrede hielt ein Deutscher mit iranischen Wurzeln, der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, der selbst betonte, wie erstaunlich es ist, dass ein Kind von Einwanderern, das dazu noch einer anderen als der Mehrheitsreligion angehört, an die Verkündigung des Grundgesetzes erinnert. Deutschland hat das Grundrecht auf Interner Link: Asyl praktisch abgeschafft, sagte Kermani. Das Land müsse zwar "nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen; aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen".

Kermani, der zu den bedeutendsten Intellektuellen in Deutschland gerechnet wird, hat in der Tat die Hand auf die Wunde im deutschen Asylrecht gelegt: die massive Einschränkung des Grundrechts auf Asyl seit 1993. Nach der sogenannten Drittstaatenregelung, haben Flüchtlinge, die über einen sicheren Drittstaat eingereist sind, keine Chance, als politisch Verfolgte in Deutschland anerkannt zu werden. Das gleiche gilt, wenn sie aus einem sicheren Herkunftsland kommen. Kritiker bemängeln, dass nicht mehr der Fluchtgrund, sondern der Herkunftsweg für das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl ausschlaggebend sei. Nur wer auf dem See- oder Luftweg einreist, hat eine Chance als politischer Flüchtling in Deutschland. Die deutsche Asylpolitik hat sich europaweit durchgesetzt und die EU-Verordnung "Dublin III" aus dem Jahre 2013 dafür gesorgt, dass praktisch nur noch die EU-Staaten mit Außengrenzen wie Griechenland oder Italien für die Flüchtlinge zuständig sind.

Insgesamt scheint die Asyl- und Flüchtlingspolitik nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa immer noch eher auf Abschreckung ausgerichtet zu sein. In Vergessenheit gerät dabei oft, dass von den 43 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, nur ein Rinnsal die vermeintliche Wohlstandsinsel Europa erreicht. Selbst die Tragödie vor der italienischen Insel Lampedusa im Oktober 2013, als mehrere hundert Flüchtlinge ertranken, hat nicht zum Umdenken in der europäischen Flüchtlingspolitik geführt. Im Rahmen einer innereuropäischen Solidarität etwa durch gerechte Quoten Flüchtlinge aufzunehmen – dieser Vorschlag setzt sich bisher in der EU nicht durch.

Wende in der Migrationspolitik

Eine grundsätzliche Wende in der Migrationspolitik hat Deutschland allerdings in den letzten 10 Jahren an anderer Stelle vollzogen. Jahrzehntelang begriff sich Deutschland vom Selbstverständnis nicht als Einwanderungsland. Dabei kamen bereits in der "Gastarbeiterzeit" – 1955 wurde das erste Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen – bis zum Interner Link: Anwerbestopp von 1973 rund 14 Millionen Migrantinnen und Migranten in die alte Bundesrepublik, nur 11 Millionen Menschen verließen im gleichen Zeitraum wieder das Land. Schon in dieser frühen Phase wurde Deutschland zum Einwanderungsland. Jahrzehntelang ging man aber davon aus, dass die ausländischen Arbeitskräfte über kurz oder lang wieder heimkehren würden.

Eine Wende in der Migrationspolitik sollte mit einem klaren Bekenntnis zum Einwanderungsland eingeläutet werden. So schrieb es sich die 1998 neu gewählte Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen in ihren Koalitionsvertrag. Die nachfolgend verabschiedeten erleichterten Einbürgerungsbestimmungen vor allem für die Kinder von Migrantinnen und Migranten, die am 1. Januar 2000 in Kraft traten, stellten nun tatsächlich einen Wendepunkt in der Ausländerpolitik dar. Zum ersten Mal rückte eine Bundesregierung damit vom Abstammungsprinzip (Ius Sanguinis = "Recht des Blutes") ab, wonach die Staatsangehörigkeit von den Eltern abgeleitet wird. Kern der Reform war die Einbürgerung durch das Geburtsrecht (Ius Soli = "Recht des Bodens"), wonach der Geburtsort bzw. das Geburtsland die Staatsangehörigkeit bestimmt, ein historisch bedeutsamer Kurswechsel in der Migrationspolitik.

Migrationspolitische Debatten

In den letzten Jahren hat die Politik Selbstkritik in Sachen Migrationspolitik geübt. Bundespräsident Horst Köhler (CDU) kritisierte im April 2006, Deutschland habe die Integration "verschlafen". Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte im Mai 2007: "Wenn wir ehrlich sind, haben wir das Thema Integration in unserem Land zu lange auf die lange Bank geschoben." Die Große Koalition von CDU/CSU und SPD erklärte 2005 das Thema Integration zu einer Schwerpunktaufgabe. Der integrationspolitische Kurs wurde seither beibehalten und der Posten einer Staatsministerin für Integration und Migration im Kanzleramt geschaffen und mit Maria Böhmer (CDU) besetzt. Ihr folgte 2013 Aydan Özoğuz (SPD), mit der zum ersten Mal eine Tochter von Einwanderern am Kabinettstisch sitzt.

Mit den Integrationsgipfeln bei der Bundeskanzlerin, dem Nationalen Integrationsplan (NIP) und der Interner Link: Deutschen Islam Konferenz(DIK) bekam Deutschland schon seit dem Jahr 2000 einen kräftigen Schub in Richtung Integration. Ein Meilenstein war das Zuwanderungsgesetz von 2005, genauer das "Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)". Im Rahmen der neuen Integrationspolitik wurden vor allem die Anstrengungen für die Kinder und Enkel der einstigen "Gastarbeiter" verstärkt und Integrationskurse eingeführt. Die Sprachförderung wurde ausgebaut oder Maßnahmen in der Berufsausbildung ergriffen. Trotz gewisser Erfolge schneiden Jugendliche mit Migrationshintergrund immer noch wesentlich schlechter ab, was Schul- und Berufsschulabschlüsse angeht.

Der Islam - Teil Deutschlands?

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellte bereits im September 2006 in einer Regierungserklärung fest: "Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas. Er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft." Diese Äußerungen wurden damals kaum kritisiert. Bundespräsident Christian Wulff (CDU) sprach in seiner Antrittsrede am 2. Juli 2010 von der "Bunten Republik Deutschland". Als Bundespräsident wiederholte er, was Schäuble gesagt hatte, nämlich, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Doch dieses Mal löste er damit eine Kontroverse aus. Der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) distanzierte sich gleich bei seinem Amtsantritt im März 2011 von den Worten des Bundespräsidenten und sagte, die in der Bundesrepublik lebenden Menschen islamischen Glaubens gehörten natürlich zu Deutschland, "dass aber der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends belegen" ließe. Dies stieß bei den muslimischen Verbänden auf herbe Kritik und überschattete die Deutsche Islam Konferenz (DIK), durch die ein fairer Dialog mit den Muslimen ins Leben gerufen werden sollte.

Nach seinem Amtsantritt distanzierte sich auch Bundespräsident Joachim Gauck von Wulffs Islam-Rede. In einem Zeitungsinterview im Mai 2012 sagte Gauck, den Satz seines Amtsvorgängers könne er so nicht übernehmen, aber "seine Intention nehme ich an". Wulff habe die Bürgerinnen und Bürger auffordern wollen, sich der Wirklichkeit zu öffnen. "Und die Wirklichkeit ist, dass in diesem Lande viele Muslime leben. [. . .] Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland." Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstrich dagegen im September 2012, dass der Islam ein Teil Deutschlands ist. In einer Telefonschaltkonferenz der CDU mit rund 7000 Parteimitgliedern plädierte sie für mehr Toleranz gegenüber den mehr als vier Millionen Muslimen in der Bundesrepublik.

Gaucks Rede – eine Zeitenwende?

Einbürgerungsfeier mit Bundespräsident Joachim Gauck am 22. Mai 2014 im Schloss Bellevue in Berlin. (© picture-alliance/dpa, Stephanie Pilick)

Wie sehr die Gesellschaft in Deutschland von Vielfalt geprägt ist – darauf hat am 22. Mai 2014 Bundespräsident Joachim Gauck bei einer Einbürgerungsfeier anlässlich des 65-jährigen Bestehen des Grundgesetzes sehr deutlich hingewiesen. In seiner Rede sprach Gauck von einer "Einheit der Verschiedenen", von einem "neuen deutschen Wir". Innerhalb des Rahmens unserer Verfassung und der Gesetze könne jeder nach seiner Façon selig werden: "Unsere Gesellschaft lässt Andere anders sein. Sie hat sogar abseitige Meinungen und Lebensweisen zu ertragen. Und sie ist offen für Veränderungen, sofern diese Veränderungen im demokratischen Prozess ausgehandelt werden. Dass ist ihre große Stärke." Der Bundespräsident ließ aber keinen Zweifel daran, dass die Probleme nicht verschwiegen werden dürften und sagte: "Es kann keine mildernden Umstände geben für kulturelle Eigenarten, die unseren Gesetzen zuwiderlaufen". Alles in allem machte Gauck deutlich, dass Vielfalt und Veränderungen im Einwanderungsland Deutschland Normalität sind. Mit seiner Rede definierte er Deutschsein neu, in dem er unterstrich, wie sehr Einwanderung Deutschland kulturell verändert und bereichert hat. Beobachter sprachen sogar von einer "Zeitenwende", die durch die Rede zur Integrationspolitik eingeläutet worden sei.

Umdenken in der Flüchtlingspolitik?

Integrationspolitik will fordern und fördern, aber nicht unterschiedslos. Kinder und Jugendliche der Flüchtlingsfamilien profitieren von vielen Maßnahmen überhaupt nicht. Bisher haben etwa nur Migranten aus sogenannten Drittstaaten Anspruch auf Integrationskurse, wenn sie ein dauerhaftes Bleiberecht zum Beispiel aus Erwerbszwecken oder durch Familiennachzug haben. Flüchtlinge kommen gar nicht in die vom Bund finanzierten Kurse hinein. Eine Ausweitung der Integrationskurse auf Flüchtlinge ist im Gespräch. Erste Bundesländer wie Bayern und Brandenburg haben bereits eigene Programme wie Deutschkurse für alle Flüchtlinge aufgelegt.

Zehn Prozent der Asylbewerber haben einen Hochschul – oder einen Fachhochschulabschluss. "Da geht dem Arbeitsmarkt Potenzial verloren", so der Präsident des Bundesamtes für Migration, Manfred Schmidt. In der Tat könnte dieser Gedanke zu einem Umdenken in der Flüchtlingspolitik führen. Die Zukunft in Deutschland, eigentlich in ganz Europa, steht unter dem Motto "Weniger, älter, bunter". Die Bevölkerungsentwicklung führt dazu, dass wir dringend nicht nur auf Facharbeiterinnen und Facharbeiter angewiesen sind. Die Flüchtlingskinder sollten deshalb unter diesem Aspekt gesehen und entsprechend in Schule und Berufsausbildung gefördert werden. Ein Bleiberecht für einen Teil der geduldeten Flüchtlinge, die jahrelang nicht abgeschoben werden konnten, wurde von der Bundesregierung bereits in Aussicht gestellt. Asylbewerber sollen künftig bereits nach drei Monaten einen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. In sechs Städten hat die Bundesagentur für Arbeit ein Modellprojekt gestartet, mit dem Flüchtlinge besser und schneller in den Arbeitsprozess integriert werden sollen. "Jeder Mensch hat Potenzial – Arbeitsmarktintegration von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern" heißt der vielversprechende Titel des Programms. Ein Zeichen in Richtung der vielbeschworenen Willkommenskultur, die in erster Linie für Fachkräfte aus dem Ausland initiiert wurde, von der mit Blick auf Flüchtlinge – vor allem auf Kinder und Jugendliche – aber sehr wenig zu spüren ist. Auch diese jungen Zuwanderinnen und Zuwanderer sollten als Gewinn gesehen werden, könnten sie doch die Entwicklung zum "Altersheim Deutschland" zumindest etwas abfedern.

Literaturhinweise

Bade, Klaus J.: Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte,„Islamkritik“ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach/Ts. 2013.

Frech, Siegfried/Meier-Braun, Karl-Heinz: Die offene Gesellschaft. Zuwanderung und Integration, Schwalbach/Ts. 2007.

Huneke, Dorte (Hrsg.): Ziemlich deutsch. Betrachtungen aus dem Einwanderungsland Deutschland, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2013.

Meier-Braun, Karl-Heinz: Deutschland, Einwanderungsland, 2. Aufl. Frankfurt/M. 2003.

Meier-Braun, Karl-Heinz / Weber, Reinhold (Hrsg):Migration und Integration in Deutschland. Begriffe – Fakten – Kontroversen. Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2013.

Oltmer, Jochen: Migration im 19. Und 20. Jahrhundert, München 2010

Links:

Externer Link: SWR International

Externer Link: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien

Externer Link: Europäisches Forum für Migrationsforschung

Externer Link: Heymat - Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle

Externer Link: Mediendienst Integration

Externer Link: Rat für Migration

Externer Link: Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge

Prof. Dr. rer. soc. Karl-Heinz Meier-Braun, geb. 1950, ist Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks Stuttgart, Leiter der Redaktion SWR International und Migrationsexperte. Seit 1991 ist er Honorarprofessor an der Universität Tübingen. Von Meier-Braun ist u.a. erschienen: Karl-Heinz Meier-Braun, Reinhold Weber (Hg.), Deutschland Einwanderungsland. Begriffe Fakten Kontroversen, Stuttgart 2013 (Kohlhammer).