Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Migrationspolitik – September 2023 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de

Migrationspolitik – Monatsrückblick Juni 2024 Migrationspolitik – Mai 2024

Migrationspolitik – September 2023

Vera Hanewinkel

/ 7 Minuten zu lesen

In Deutschland spitzt sich der Streit um die Flüchtlingsaufnahme weiter zu. Nach der aserbaidschanischen Offensive gegen Bergkarabach sind zehntausende Menschen nach Armenien geflohen.

Armenier fliehen aus Berg-Karabach nach Kornidzor in der armenischen Region Sjunik (26. September 2023). (© picture-alliance/AP, Vasily Krestyaninov)

Debatte um Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme in Deutschland

Angesichts des politischen Streits um die Aufnahme von Asylsuchenden in Deutschland hat CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aufgefordert, sich gemeinsam mit der Union auf einen „Asyl-Pakt“ zu einigen. Die CDU hat dafür Ende September Vorschläge gemacht, die darauf zielen, die Zahl der Asylsuchenden zu reduzieren. Unter anderem forderte sie, vorübergehend stationäre Kontrollen an den Grenzen zur Schweiz, zu Polen und Tschechien durchzuführen sowie an den deutschen Landesgrenzen Transitzonen und „Abschiebezentren“ einzurichten. Dort sollen Asylsuchende ohne Bleibeperspektive untergebracht werden und ein beschleunigtes Verfahren durchlaufen, um sie bei Ablehnung schneller abschieben zu können. Zudem soll die Bundesregierung freiwillige Aufnahmeprogramme stoppen und Rückführungsabkommen mit Herkunftsstaaten von Asylsuchenden ohne Bleibeperspektive schließen.

Bereits zuvor hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zusätzliche Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien angeordnet. Neben einer Ausweitung der Schleierfahndung im Grenzgebiet soll die Bundespolizei „flexible Schwerpunktkontrollen“ an den Grenzen zu Polen und Tschechien durchführen. Diese sollen örtlich wechselnd entlang von Schleuserrouten stattfinden. Zuletzt hatten unter anderem ostdeutsche Kommunen und Bundesländer stationäre Grenzkontrollen wie an der bayerischen Grenze zu Österreich gefordert. Kritik an dauerhaften stationären Grenzkontrollen gab es unter anderem von der Gewerkschaft der Polizei (GdP): Eine lückenlose Kontrolle der Landesgrenzen würde zu viel Personal benötigen und sei „nicht effektiv“. Auch Wirtschaftsverbände wie die Industrie- und Handelskammern (IHK) warnen vor den wirtschaftlichen Folgen durch die erwartete Einschränkung des grenzüberschreitenden Waren- und Personenverkehrs.

Von Januar bis September 2023 sind Externer Link: nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Deutschland 233.744 Erstanträge auf Asyl gestellt worden. Das waren 73,3 Prozent mehr Erstanträge als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Hinzu kommen rund eine Million Menschen, die seit Februar 2022 vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geflohen sind. Viele Kommunen in Deutschland sehen sich mit der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten überlastet. Im September Externer Link: forderte der Deutsche Städtetag erneut mehr Hilfen vom Bund und ein „atmendes Finanzierungssystem“, das sich an die Zahl der ankommenden Asylsuchenden anpasst. Laut ARD-Deutschlandtrend wächst die Skepsis gegenüber Zuwanderung: Externer Link: 64 Prozent der Ende September Befragten sprachen sich dafür aus, dass Deutschland weniger Flüchtlinge aufnehmen soll – zwölf Prozent mehr als im Mai 2023.

Deutschland setzt Aufnahmen aus Italien aus

Die Bundesregierung hat die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesetzt, die über den freiwilligen europäischen Solidaritätsmechanismus aus Italien nach Deutschland kommen sollten. Hintergrund ist die Weigerung der italienischen Regierung, die Dublin-Regeln einzuhalten. Diese sehen vor, dass in der Regel dasjenige EU-Land für die Bearbeitung des Asylantrags verantwortlich ist, in welches eine asylsuchende Person als erstes eingereist ist. Italien weigert sich allerdings seit geraumer Zeit, Asylsuchende zurückzunehmen, die von dort nach Deutschland weitergereist sind. Das betrifft laut einem Sprecher des Bundesinnenministeriums rund 12.400 Personen. Die freiwilligen Aufnahmen würden erst dann fortgesetzt, wenn Italien seinen Verpflichtungen nachkomme.

Italien sieht sich seit Monaten mit steigenden Zahlen Schutzsuchender konfrontiert, die über das Mittelmeer an die italienischen Küsten gelangen. Insbesondere die Mittelmeerinsel Lampedusa ist betroffen. Dort sollen im September innerhalb eines einzigen Tages rund 5.000 Menschen angekommen sein. Im einzigen Aufnahmezentrum der Insel stehen nur ungefähr 400 Plätze für die Unterbringung zur Verfügung. Der Stadtrat der Insel mit ihren 6.300 Einwohner:innen rief den Notstand aus. Insgesamt verzeichnete Italien von Anfang Januar bis Ende September 2023 Externer Link: rund 134.000 Ankünfte über das Mittelmeer; dies ähnelt den Zahlen aus den Jahren 2015 (154.000 Ankünfte in zwölf Monaten) und 2016 (181.000 Ankünfte). Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni forderte Hilfen von der EU sowie eine Blockade der Mittelmeerroute. Sie wolle notfalls Marineschiffe einsetzen, um Migrantenboote an der Überfahrt über das Mittelmeer zu hindern. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verkündete nach einem Besuch auf Lampedusa einen Externer Link: 10-Punkte-Plan, um Italien zu unterstützen. Dieser beinhaltet u.a. mehr Anstrengungen für eine schnellere Rückführung von abgelehnten Asylsuchenden, eine stärkere Überwachung der Seegrenzen und mehr Engagement gegen die Schleusung von Migrant:innen.

Der im Juni 2022 ins Leben gerufene freiwillige Solidaritätsmechanismus soll Staaten an der EU-Außengrenze entlasten, indem Asylsuchende auf andere EU-Staaten umverteilt werden. Deutschland hatte die Aufnahme von insgesamt 3.500 Menschen zugesagt. Davon sind bereits rund 1.700 nach Deutschland eingereist, die meisten aus Italien.

EU-Asylreform: Mitgliedstaaten einigen sich auf „Krisenverordnung“

Die EU-Mitgliedstaaten haben sich auf eine gemeinsame Position zu einem Baustein der Reform des Interner Link: Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) Externer Link: geeinigt: die sogenannte Externer Link: Krisenverordnung. Sie erlaubt es, in Zeiten eines tatsächlich oder potenziell auftretenden „Massenzustroms von irregulär in einem Mitgliedstaat eintreffenden Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen“ von den normalerweise geltenden Regelungen im Bereich des Asyl- und Migrationsmanagements abzuweichen. Dies soll einem Interner Link: Ende Juni von der schwedischen Ratspräsidentschaft eingebrachten Kompromissvorschlag zufolge auch möglich sein, wenn „ein Drittstaat oder ein nichtstaatlicher Akteur die Bewegung von Drittstaatsangehörigen an die Außengrenzen oder in einen Mitgliedstaat unterstützt oder erleichtert mit dem Ziel, die Union oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren“ (sogenannte Instrumentalisierung). Die Aktivierung der Krisenverordnung muss im Interner Link: Rat der Europäischen Union von einer Interner Link: qualifizierten Mehrheit der 27 EU-Mitgliedstaaten beschlossen werden. Im Krisenfall soll ein verpflichtender Mechanismus zur Verteilung von Asylsuchenden greifen.

Der Weg zur Einigung auf die Verordnung war freigeworden, nachdem die deutsche Bundesregierung Externer Link: ihre Zustimmung signalisiert hatte. Bislang hatten vor allem die mitregierenden Grünen Bedenken, weil sie ein Absenken von Schutzstandards befürchten: Die Verordnung erlaubt eine deutliche Einschränkung der Rechte von Asylsuchenden und ihre monatelange Festsetzung in geschlossenen Lagern. Kritiker:innen der Verordnung sehen in ihr einen weiteren Schritt weg vom Schutz von Flüchtlingen hin zur Abschottung der EU und Entrechtung von Asylsuchenden. So befürchtet etwa die Flüchtlingshilfsorganisation ProAsyl eine Zunahme von rechtswidrigen Pushbacks durch die zeitweise Aussetzung von Registrierungen, sieht private Seenotrettung im Mittelmeer erschwert und kritisiert die Ausweitung der haftähnlichen Unterbringung von Asylsuchenden an den EU-Außengrenzen.

Ungarn und Polen stimmten dem Verordnungsentwurf nicht zu. Sie sind generell gegen eine verpflichtende Verteilung von Asylsuchenden in der EU. Österreich, Tschechien und die Slowakei enthielten sich.

Im Interner Link: Juni 2023 hatten sich die EU-Mitgliedstaaten bereits auf eine gemeinsame Position zu zwei weiteren zentralen Rechtsakten der Externer Link: EU-Asylreform geeinigt: die Verordnung zum Asyl- und Migrationsmanagement und die Asylverfahrensverordnung. Bevor alle Verordnungen und Rechtsakte der Reform in Kraft treten können, muss noch eine Einigung mit dem EU-Parlament erzielt werden. Dieses betont etwa in seiner Externer Link: Position zur Krisenverordnung stärker die Wahrung der Rechte von Schutzsuchenden.

Zehntausende fliehen aus Bergkarabach

Mehr als 100.000 Menschen sind Externer Link: nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) bis Ende September aus dem südkaukasischen Bergkarabach nach Armenien geflohen. UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi rechnet damit, dass alle rund 120.000 ethnischen Armenier:innen das Gebiet verlassen werden. Hintergrund der Fluchtbewegung ist die Aufgabe der in Aserbaidschan liegenden selbst ernannten, international aber nicht anerkannten Armenier-Republik Bergkarabach, Interner Link: um die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gekämpft wird.

Mitte September hatte Aserbaidschan erneut eine militärische Offensive gestartet, woraufhin die Machthaber Bergkarabachs kapitulierten und die Auflösung der Republik zum 1. Januar 2024 ankündigten. Aserbaidschan versicherte, die Rechte der dort lebenden ethnischen Armenier:innen wahren zu wollen. Die meisten Einwohner:innen sind jedoch aus Sorge vor Unterdrückung und Gewalt nach Armenien geflohen. Bereits Monate vor Beginn der militärischen Offensive hatte Aserbaidschan damit begonnen, Lieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten und Benzin über den sogenannten Latschin-Korridor – die einzige Straße von Armenien nach Bergkarabach – zu blockieren. In Bergkarabach löste dies eine humanitäre Krise aus.

Ab 1923 war Bergkarabach ein autonomes Gebiet in der Sowjetrepublik Aserbaidschan. Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 erklärte sich Bergkarabach unabhängig. Darüber kam es zum Krieg: 1992 bis 1994 kämpfen Aserbaidschan und Armenien um das mehrheitlich von ethnischen Armenier:innen bewohnte Gebiet. Ein Waffenstillstand fror die militärische Auseinandersetzung zwar ein, löste den Streit um Bergkarabach jedoch nicht auf. Im Herbst 2020 kam es erneut zu wochenlangen Gefechten, durch die rund 4.000 Menschen ums Leben kamen und Tausende vertrieben wurden. Russland, das sich traditionell als Schutzmacht Armeniens versteht, Interner Link: vermittelte schließlich eine Waffenruhe. Große Teile Bergkarabachs fielen an Aserbaidschan. Zum Schutz der übrigen Gebiete wurden russische Truppen in der Region stationiert.

Was vom Monat übrig blieb…

Die EU-Mitgliedstaaten haben sich darauf verständigt, Externer Link: den vorübergehenden Schutz für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bis zum 4. März 2025 zu verlängern. Dieser war nur wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf das gesamte Gebiet der Ukraine am 24. Februar 2022 aktiviert worden. Flüchtlinge aus der Ukraine müssen keinen Asylantrag stellen, sondern können unbürokratisch ein befristetes Aufenthaltsrecht erhalten, welches ihnen auch Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung und Sozialhilfe ermöglicht. Rund Externer Link: 4,15 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine lebten Ende August 2023 mit einem temporären Schutzstatus in der EU, die meisten in Deutschland (1,18 Millionen) und Polen (961.000).

In den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 sind Externer Link: in der EU, Norwegen und der Schweiz rund 519.000 Asylanträge gestellt worden. Das entspricht einem Anstieg um 28 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum und ist der höchste Wert seit der hohen Fluchtzuwanderung 2015/16. Die meisten Asylantragstellenden kamen aus Syrien, Afghanistan und Venezuela. Hauptaufnahmeländer waren Deutschland, Spanien und Frankreich.

Costa Ricas Präsident Rodrigo Chaves hat Ende September wegen wachsender irregulärer Migration den Ausnahmezustand verhängt. Immer mehr Menschen reisen von Südamerika über den Landweg nach Costa Rica, um von dort weiter in die USA zu gelangen. Dabei müssen sie den Dschungel (Darien Gap) durchqueren, der sich von Kolumbien bis Panama erstreckt und zu den gefährlichsten Migrationsrouten der Welt zählt. Nach Behördenangaben sind von Januar 2023 bis Ende September 2023 rund 386.000 Menschen über diesen Weg nach Costa Rica gelangt. Dort drohen die Behörden einerseits mit Abschiebung, andererseits transportieren sie Migrant:innen aber auch direkt zur Grenze mit Nicaragua, damit sie ihren Weg fortsetzen können. Zudem gibt es in Costa Rica seit Juni 2023 auf Initiative der US-Regierung sogenannte Safe Mobility Offices (SMOs). Dort können sich Migrant:innen registrieren und ihre Möglichkeiten der legalen Einreise in die USA prüfen lassen.

Weitere Inhalte

Vera Hanewinkel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
E-Mail: E-Mail Link: vera.hanewinkel@uni-osnabrueck.de