Mehr als 108 Millionen Menschen auf der Flucht
Erneut waren Ende 2022 mehr Menschen auf der Flucht als noch im Jahr zuvor. Das zeigt der anlässlich des
Mehr als die Hälfte der insgesamt 34,6 Millionen Flüchtlinge unter UNHCR-Mandat sowie Geflüchteten mit Bedarf an internationalem Schutz (52 Prozent) stammte Ende 2022 aus Syrien, der
Dauerhafte Lösungen für Flüchtlinge zu finden (Rückkehr, Integration im Aufnahmeland, Neuansiedlung in einem Drittland) gelang selten – auch, weil die Lösungsfindung langsamer vonstattenging als neue Fluchtbewegungen: Auf jeden Flüchtling, der im Laufe des Jahres 2022 in sein Herkunftsland zurückkehrte (insgesamt 339.300 Personen) oder durch
EU-Innenminister einigen sich auf Reform der europäischen Asylpolitik
Die Innenminister:innen der EU-Mitgliedstaaten haben sich am 8. Juni auf eine Externer Link: gemeinsame Verhandlungsposition zur
Die Innenminister:innen haben im Rat beschlossen, dass an der EU-Außengrenze Schnellverfahren für Asylsuchende eingerichtet werden sollen, die:
die nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung bedrohen,
aus Ländern mit einer Schutzquote von unter 20 Prozent kommen,
über einen sogenannten sicheren Drittstaat in die EU einreisen oder
die nach Einschätzung der Behörden falsche Angaben machen bzw. Informationen – etwa zur Klärung ihrer Identität – zurückhalten.
In diesen Verfahren wird der Asylantrag auf seine Zulässigkeit, nicht aber inhaltlich geprüft. Die Asylsuchenden in den Schnellverfahren gelten als nicht in die EU eingereist (sogenannte Fiktion der Nicht-Einreise) und müssen unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierten Asylzentren an den EU-Außengrenzen oder anderen Grenzübergängen und Transitzonen (z. B. an Flughäfen) verbleiben. Wird ihr Asylantrag abgelehnt, sollen sie von dort umgehend in ihre Herkunftsländer oder in als sicher eingestufte Drittstaaten zurückgeführt werden, wobei es zukünftig ausreichen soll, wenn einzelne Regionen des Drittstaats als sicher gelten. Die Asyl- und Rückführungsverfahren an den Außengrenzen sollen maximal sechs Monate lang dauern. Ausnahmen von den Grenzverfahren für Familien mit Kindern, wie sie die deutsche Bundesregierung gefordert hatte, wird es nicht geben.
Um die Staaten an den EU-Außengrenzen zu entlasten, sollen jährlich mindestens 30.000 Geflüchtete aus diesen Staaten auf andere Mitgliedstaaten umverteilt werden. Allerdings sind andere EU-Staaten nicht zur Aufnahme verpflichtet. Stattdessen können sie sich am sogenannten Solidaritätsmechanismus durch Ausgleichszahlungen von mindestens 20.000 Euro pro nicht aufgenommene geflüchtete Person oder durch Maßnahmen wie der Entsendung von Personal oder dem Aufbau von Kapazitäten beteiligen. Um zu verhindern, dass Schutzsuchende nach Ersteinreise in einen anderen EU-Mitgliedstaat weiterreisen und dort Asyl beantragen (sogenannte Sekundärmigration), sehen die Beschlüsse der EU-Innenminister:innen die Verlängerung der Fristen vor, innerhalb derer Asylsuchende in den Ersteinreisestaat rücküberstellt werden können.
Die Innenminister:innen der EU-Mitgliedstaaten trafen ihre Entscheidung im Rat nicht einstimmig. Polen und Ungarn votierten dagegen. Beide Staaten stören sich insbesondere an dem verpflichtenden Solidaritätsmechanismus, der durch die Asylreform eingeführt würde. Sie wollen sich weder an der Umverteilung von Schutzsuchenden beteiligen noch Ausgleichszahlungen leisten. Auf einem EU-Gipfel Ende Juni forderten sie, den Beschluss der EU-Innenminister:innen rückgängig zu machen – ohne Erfolg. Die beiden Rechtsakte, auf die sich der Rat geeinigt hat, werden nun mit dem Europäischen Parlament verhandelt. Die Gesetze sollen noch vor der Europawahl im Juni 2024 beschlossen werden.
Reaktionen auf den Asylkompromiss der EU-Mitgliedstaaten
Die Beschlüsse zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems stießen auf ein gemischtes Echo. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach auf dem Kurznachrichtendienst Externer Link: Twitter von einem "historischen Erfolg – für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten". Auch FDP-Fraktion lobte die Einigung und sieht in der "Verschärfung der gemeinsamen europäischen Asylregelungen" einen "Erfolg". Die CDU/CSU-Fraktion in Bundestag Externer Link: bewertete den EU-Asylkompromiss hingegen als "nicht ausreichend" und forderte weitere Schritte, um irreguläre Migration in die EU und nach Deutschland zu reduzieren. Auch die AfD-Fraktion lehnte den Kompromiss aus dieser Perspektive als "ineffektiv" und nicht weitreichend genug ab.
Die Grünen – als Teil der Regierungskoalition mit SPD und FDP - zeigten sich angesichts der Asylpläne gespalten. Der Parteivorsitzende Omid Nouripour nannte die Zustimmung der Bundesregierung zur Asylreform "einen notwendigen Schritt". Grünen-Co-Vorsitzende Ricarda Lang hatte in einer ersten Reaktion mitgeteilt, die Ampel-Regierung hätte den Asylplänen nicht zustimmen dürfen. Der Europaabgeordnete der Grünen Erik Marquardt kritisierte, dass es im Rat "mit deutscher Zustimmung einen Durchmarsch populistischer Positionen" gegeben habe und warnte vor einer "Abschaffung" des Asylrechts.
Scharfe Kritik an den Asylplänen kommt auch von der Linkspartei, von Jurist:innen, aus der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft. Clara Bünger, Sprecherin der Linken für Flucht- und Rechtspolitik, Externer Link: sprach in einer Pressemitteilung von einem "historischen Versagen der EU und der Ampelregierung". Beide hätten sich mit der Zustimmung zur Asylrechtsreform "von einer an Menschenrechten orientierten Asylpolitik verabschiedet". Die Flüchtlingshilfsorganisation ProAsyl und weitere 60 europäische Nichtregierungsorganisationen nannten die Beschlüsse einenExterner Link: "Frontalangriff auf das europäische Asylrecht". Die Europabeauftragte des Ausschusses Migrationsrecht des Deutschen Anwaltsvereins (DAV), Externer Link: Maria Kalin, kritisierte mit Blick auf die Grenzverfahren vor allem den Bruch mit dem Recht auf eine Einzelfallprüfung von Asylanträgen in angemessenen rechtsstaatlichen Verfahren. Der Rat für Migration (RfM), in dem sich Migrationsforschende zusammengeschlossen haben, wies in einer Externer Link: Stellungnahme darauf hin, dass Pilotprojekte an den EU-Außengrenzen wie etwa Schnellverfahren in den
Hunderte Menschen sterben bei Bootsunglück vor Griechenland
Vor der griechischen Küste nahe der Stadt Pylos starben Mitte Juni mehrere Hundert Migrant:innen, als der Fischkutter, auf dem sie nach Europa gelangen wollten, im Mittelmeer kenterte. An Bord des überfrachteten Schiffs sollen sich Schätzungen zufolge 400 bis 750 Menschen befunden haben, von denen nur 104 gerettet werden konnten. Wie es zu dem tödlichen Unglück kommen konnte, wird derzeit von der griechischen Justiz untersucht.
Einige Überlebende werfen der griechischen Küstenwache vor, nicht schnell genug reagiert zu haben und aufgrund eines fehlerhaften Abschleppmanövers schuld am Kippen des Flüchtlingsbootes zu sein. Die griechische Küstenwache war mit einem Patrouillenboot vor Ort und hat nach eigenen Angaben dem Fischkutter Hilfsangebote gemacht, die zurückgewiesen worden seien. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex gibt an, der griechischen Küstenwache frühzeitig und mehrfach Hinweise auf das überfüllte Schiff und nicht vorhandene Rettungswesten der Passagiere gegeben zu haben. Zudem sollen Notrufe von Passagieren über die Nichtregierungsorganisation "Watch The Med Alarm Phone Project" an die griechische Küstenwache weitergeleitet worden sein. Eine Rettungsaktion wurde bis zum Kentern des Bootes nicht eingeleitet. Nach
Seenotrettungen zu verzögern ist Externer Link: Aktivist:innen und Migrationsforschenden zufolge seit längerem eine Taktik im Streben der EU-Staaten nach einer Reduzierung irregulärer Migration. Behörden reagierten zeitverzögert oder gar nicht auf Notrufe. Bereits im Oktober 2022 hatte dieExterner Link: Internationale Organisation für Migration (IOM) darauf hingewiesen, dass "viele Todesfälle auf den Migrationsrouten in Richtung europäischer Zielländer durch schnelle und wirksame Hilfe für Migrant:innen in Not verhindert werden könnten". Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Externer Link: Dunja Mijatović, zeigte sich in einer Stellungnahme zum Weltflüchtlingstag 2023 auch mit Bezug auf das schwere Bootsunglück vor Pylos entsetzt angesichts des "alarmierenden Ausmaßes an Toleranz gegenüber schweren Verletzungen von Menschenrechten von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migrant:innen, das sich in ganz Europa entwickelt hat".
Das vor Pylos verunglückte Boot war von der lybischen Küste nahe der Stadt Tobruk in Richtung Europa gestartet. Neun der 104 Überlebenden wurden festgenommen. Sie sollen als Schleuser agiert haben und Teil eines großen Schleuserrings sein, dessen Hintermänner in Italien und Ägypten vermutet werden. Die griechischen Behörden wollen nun gemeinsam mit der europäischen Polizeibehörde Europol gegen dieses Netzwerk vorgehen. Die Überlebenden des Schiffsunglücks berichteten, pro Kopf zwischen 5.000 und 6.000 Euro für einen Platz auf dem Schiff bezahlt zu haben. Nach Externer Link: Angaben der IOM sind seit 2014 mehr als 27.600 (Flucht-)Migrant:innen beim Versuch der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen, davon fast 1.900 in den ersten sechs Monaten des Jahres 2023.
Bundestag beschließt reformiertes Fachkräfteeinwanderungsgesetz
Nachdem am 23. Juni der Bundestag einer Reform des
Das neue Gesetz senkt zudem die Schwelle für das zu erwirtschaftende Mindestjahresgehalt bei akademisch ausgebildeten Fachkräften, die mit einer
Das reformierte Fachkräfteeinwanderungsgesetz reagiert auf den demografisch bedingt wachsenden
Nettozuwanderung in die Bundesrepublik 2022 so hoch wie nie zuvor
Die Nettozuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland war 2022 so hoch wie nie zuvor seit der Einführung der entsprechenden Statistik im Jahr 1950. DasExterner Link: teilte das Statistische Bundesamt mit. Demnach wurden im Laufe des Jahres rund 2,7 Millionen Zuzüge nach Deutschland und 1,2 Millionen Fortzüge ins Ausland registriert, woraus sich eine Nettozuwanderung von knapp 1,5 Millionen ergibt. Zum Vergleich: 2021 waren netto 329.000 Menschen nach Deutschland zugewandert. Die rekordhohe Nettozuwanderung 2022 ist dabei vor allem auf die
Mit Blick auf deutsche Staatsangehörige fiel die Nettomigration negativ aus: Es wanderten 83.000 Menschen mehr ab als im gleichen Zeitraum nach Deutschland zuwanderten. Die Hauptzielländer von deutschen Auswandernden waren dabei wie in den Vorjahren die Schweiz (20.000 Fortzüge von Deutschen), Österreich (12.000) und die USA (10.000).
Infolge der hohen Nettozuwanderung wuchs die Bevölkerung Deutschlands 2022 um 1,3 Prozent auf Externer Link: 84,4 Millionen Menschen – auch das ist der höchste Wert seit Beginn der Zeitreihe 1950.
Was vom Monat übrig blieb…
Die Zahl der Angriffe auf Unterkünfte von Asylsuchenden ist nach vorläufigen Angaben des Bundesinnenministeriums gestiegen, wie eine Externer Link: Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ergab. Im ersten Quartal 2023 wurden 45 politisch motivierte Angriffe auf Asylbewerber:innenunterkünfte registriert – mehr als doppelt so viele wie im ersten Quartal 2022. 42 dieser Straftaten entfielen auf Tatverdächtige, bei denen eine rechtsextremistische Motivation vermutet wird. Insgesamt stieg im Jahr 2022 laut dem im Juni 2023 vorgelegten Verfassungsschutzbericht die Zahl der Personen, die in Deutschland als rechtsextrem eingestuft werden. Der Anstieg ist auch darauf zurückzuführen, dass die AfD vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als rechtsextremistischer Verdachtsfall geführt wird. Das BfV geht von rund 10.200 AfD-Mitgliedern mit Rechtsextremismuspotential aus.
Externer Link: Die EU stellt Tunesien mehr als eine Milliarde Euro für die wirtschaftliche Stabilisierung und die Eindämmung von Migration in Richtung Europa in Aussicht. Davon sollen 105 Millionen Euro direkt in Maßnahmen zur Reduzierung irregulärer Migration fließen, etwa das Grenzmanagement, die Bekämpfung von Schleuserkriminalität und Rückführungen. Tunesien ist eines der Haupttransitländer in Nordafrika von Menschen, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Es wird von Präsident Kais Saied zunehmend autoritär regiert. Zuletzt nahm im Kontext einer massiven Wirtschaftskrise und rassistischer Äußerungen Saids die Gewalt gegen Migrant:innen aus Subsahara-Afrika stark zu.
Ein britisches Berufungsgericht hat entschieden, dass der von der Regierung des Vereinigten Königreichs geplante
Interner Link: Transfer von Asylsuchenden nach Ruanda gesetzeswidrig ist. Ruanda sei kein sicherer Drittstaat, weil es Asylsuchenden keinen ausreichenden Schutz vor einer Abschiebung in ihr Herkunftsland biete, wo ihnen Verfolgung oder unmenschliche Behandlung drohe. Das Berufungsgericht kippte damit eine imInterner Link: Dezember 2022 vom High Court getroffene Entscheidung, wonach die Abschiebung nach Ruanda rechtens sei. Das Urteil kann noch vor dem Obersten Gerichtshof angefochten werden.