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Migrationspolitik – September 2020 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de

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Migrationspolitik – September 2020

Vera Hanewinkel

/ 6 Minuten zu lesen

Was ist in der Migrations- und Asylpolitik im letzten Monat passiert? Wie haben sich die Flucht- und Asylzahlen entwickelt? Wir blicken zurück auf die Situation in Deutschland und Europa.

Flüchtlinge aus dem abgebrannten Flüchtlinglager Moria lagern auf einer Straße in der Nähe. Durch den Brand wurden mehr als 12.000 Bewohnerinnen und Bewohner obdachlos. (© picture-alliance/dpa, Socrates Baltagiannis)

Nettozuwanderung im ersten Halbjahr deutlich unter Vorjahreswert

In den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres sind nach Externer Link: vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes 74.000 Personen mehr nach Deutschland zugezogen als im selben Zeitraum das Land verlassen haben (rund 529.000 Zuzüge und 455.000 Fortzüge). Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum hat sich die Nettozuwanderung damit mehr als halbiert; im 1. Halbjahr 2019 belief sie sich auf 167.000 Personen (748.000 Zuzüge und 581.000 Fortzüge). Der starke Rückgang ist vor allem auf die ab März eingeführten Reisebeschränkungen zur Eindämmung der Interner Link: Corona-Pandemie zurückzuführen. Zudem könnten die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie Menschen dazu bewogen haben, eine geplante Zu- oder Abwanderung zu verschieben. Auch eine verzögerte Erfassung von Zu- und Fortzügen aufgrund des eingeschränkten Publikumsverkehrs in den Einwohnermeldeämtern könnte sich auf die Wanderungsstatistik im ersten Halbjahr ausgewirkt haben. Das ist etwa dann der Fall, wenn tatsächlich zwischen Januar und Juni erfolgte Zu- und Fortzüge erst in späteren Berichtsmonaten ausgewiesen werden. Die meisten Zugewanderten (rund 365.000) kamen im Laufe des ersten Halbjahrs aus dem europäischen Ausland, insbesondere aus anderen EU-Staaten.

Griechenlands größtes Flüchtlingslager abgebrannt

In der ersten Septemberwoche ist das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos fast vollständig abgebrannt. Inzwischen sind vier Männer und zwei Minderjährige aus Afghanistan in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, die Feuer im Lager Moria gelegt zu haben. Durch den Brand wurden mehr als 12.000 Bewohnerinnen und Bewohner obdachlos. Etwa 10.000 von ihnen konnten bis Ende des Monats in einem neuen provisorischen Zeltlager untergebracht werden, das auf dem Gelände eines ehemaligen Militärstützpunkts auf Lesbos errichtet wurde. Viele Geflüchtete weigern sich jedoch, in das neue Lager zu ziehen. Sie fordern, aufs griechische Festland gebracht zu werden. Widerstand gegen das neue Flüchtlingslager gibt es auch von Seiten der lokalen Bevölkerung.

Im Lager Moria war Anfang September ein erster Interner Link: Corona-Infektionsfall aufgetreten. Daraufhin war das Camp abgeriegelt worden. Im neuen provisorischen Zeltlager in Kara Tepe kämpfen Behörden und Hilfsorganisationen weiter gegen die Ausbreitung des Virus. Ende September befanden sich dort fast 250 Menschen in Quarantäne. Um die Situation auf Lesbos zu entspannen, sollen rund 3.000 Geflüchtete aufs griechische Festland gebracht werden. Es handelt sich um Menschen, denen bereits ein Schutzstatus zugesprochen wurde und die als besonders gefährdet gelten – etwa schwangere und alleinstehende Frauen sowie ältere und behinderte Menschen. Voraussetzung für die Verlegung aufs Festland ist zudem ein negatives Corona-Testergebnis.

Die deutsche Bundesregierung kündigte an, Familien mit Kindern aufnehmen zu wollen, die in Griechenland bereits als schutzbedürftig anerkannt worden sind. Insgesamt sollen so Externer Link: 1.553 Geflüchtete von den griechischen Inseln nach Deutschland kommen. Hinzu kommen Externer Link: 243 behandlungsbedürftige Kinder und ihre Kernfamilien, deren Aufnahme bereits im März beschlossen worden war, sowie bis zu 150 unbegleitete Minderjährige. Einige dieser Geflüchteten sind bereits in Deutschland eingetroffen. Auch andere EU-Staaten erklärten sich bereit, einige Hundert Geflüchtete aus Moria aufzunehmen, vor allem unbegleitete Minderjährige. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) forderte die europäischen Staaten auf, den Menschen auf Lesbos umgehend zu helfen. Die Verhältnisse in Moria seien skandalös und das Camp selbst eine "Schande für Europa" gewesen. In dem für rund 2.800 Menschen ausgelegten Lager waren zuletzt mehr als 12.000 Geflüchtete untergebracht.

EU-Kommission will gemeinsames Asylrecht reformieren

Die EU-Kommission hat einen Externer Link: Vorschlag für ein neues Migrations- und Asylpaket vorgelegt, der die Interner Link: seit Jahren festgefahrene Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union neu regeln soll. Er beruht auf Externer Link: zwei zentralen Säulen:

Erstens sollen Asylverfahren beschleunigt werden. Dazu soll im Rahmen eines Verfahrens an den EU-Außengrenzen (border procedure) zunächst die Identität und Herkunft von Asylsuchenden festgestellt und mögliche Sicherheits- und Gesundheitsrisiken geprüft sowie Fingerabdrücke in der EURODAC-Datenbank gespeichert werden (Screening). Zudem soll über Asylanträge von Menschen, die aus Ländern mit niedrigen Anerkennungsquoten stammen (z.B. Tunesien oder Marokko), im Eilverfahren entschieden werden. Wird ihr Asylantrag abgelehnt, soll umgehend eine Rückführung erfolgen.

Zweitens sehen die Vorschläge der EU-Kommission einen Solidaritätsmechanismus vor, in den sich die Mitgliedstaaten in Zeiten hoher Schutzsuchendenzahlen einbringen müssen. Dies können sie allerdings auf unterschiedliche Weise tun: So können sie sich im Wesentlichen entweder an der Verteilung und Aufnahme von Geflüchteten beteiligen, die nicht aus sicheren Herkunftsstaaten kommen und Aussichten auf einen Schutzstatus haben, oder andere EU-Staaten bei der Interner Link: Abschiebung ausreisepflichtiger Personen unterstützen. Kann eine Interner Link: Abschiebung nicht innerhalb von acht Monaten durchgeführt werden, sind die Staaten, die eine sogenannte "Rückkehrpatenschaft" (return sponsorship) übernommen haben, verpflichtet, die ausreisepflichtigen Drittstaatsangehörigen selbst aufzunehmen. Zur besseren Koordinierung der Rückführungen soll ein Rückkehrkoordinator (Return Coordinator) eingesetzt werden.

Zudem strebt die EU-Kommission eine verstärkte Interner Link: Kooperation mit Drittstaaten an, um irreguläre Einreisen zu unterbinden, Interner Link: Schlepperei zu bekämpfen sowie Rückführungen und Reintegration zu erleichtern. Darüber hinaus sollen sogenannte Fachkräftepartnerschaften (Talent Partnerships) für bessere Jobchancen in den Herkunftsländern und für legale Wege in die EU sorgen. Mit Blick auf die Verteilung von aus Seenot geretteten Geflüchteten, an deren Aufnahme sich die Mitgliedstaaten weiterhin freiwillig beteiligen können, hat die EU-Kommission noch keine konkreten Vorschläge für ein koordiniertes Vorgehen vorgelegt, will das aber nachholen. Bei der Frage, welcher EU-Staat im Rahmen des Interner Link: Dublin-Verfahrens für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, sollen zukünftig stärker soziale Kriterien berücksichtigt werden, etwa, ob in einem EU-Mitgliedstaat bereits Geschwister leben oder dort in der Vergangenheit ein Bildungsabschluss erworben wurde. Bislang ist in der Regel derjenige EU-Staat für die Durchführung des Asylverfahrens verantwortlich, in den eine geflüchtete Person als erstes eingereist ist.

Ob das EU-Parlament und der Europäische Rat den Vorschlägen der Kommission zustimmen werden, ist ungewiss. Ungarn, Tschechien und Polen haben bereits ihre Ablehnung signalisiert. Die Ministerpräsidenten dieser drei Länder kündigten aber an, sich dennoch an den Verhandlungen über eine Asylreform beteiligen zu wollen.

Schweizer stimmen gegen Begrenzung der Zuwanderung aus der EU

In der Schweiz ist die von der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) angestoßene "Volksinitiative für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)" Externer Link: abgelehnt worden. Rund 62 Prozent der teilnehmenden Stimmberechtigten sprachen sich in einer Volksabstimmung gegen die Initiative aus. Sie sah u.a. ein Ende der seit dem Jahr 2002 bestehenden Externer Link: Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU vor. Die Abstimmung war eine Interner Link: von mehreren in den letzten Jahren durch die SVP initiierten Volksbegehren zur Begrenzung von Einwanderung. Die SVP argumentiert, dass in der Schweiz eine Masseneinwanderung herrsche, die den Wohlstand des Landes mindere, Umwelt und Infrastruktur belaste und die Freiheit und Sicherheit der Schweizerinnen und Schweizer gefährde. In der Schweiz leben ca. Externer Link: 8,6 Millionen Menschen, darunter rund 2,1 Millionen ausländische Staatsangehörige, von denen wiederum etwa 1,5 Millionen aus der EU, dem europäischen Wirtschaftsraum bzw. dem Vereinigten Königreich stammen (Externer Link: Stand: 31.08.2020). Die meisten Ausländerinnen und Ausländer kommen Externer Link: aus Italien (14,8 Prozent), Deutschland (14,1 Prozent) und Portugal (12,0 Prozent).

Was vom Monat übrig blieb...

Der Bundesrechnungshof hat in einer Externer Link: Stellungnahme für den Haushaltsausschuss des Bundestages festgestellt, dass Kommunen für die Unterbringung von Geflüchteten vom Bund häufig Mieten verlangen, die weit über den ortsüblichen Vergleichsmieten liegen. Zudem sei nicht ausreichend geprüft worden, ob die geltend gemachten Gebühren angemessen sind. Voraussetzung für eine weitere Aufstockung des Bundesanteils an den Unterbringungskosten sei daher eine wirksamere Kontrolle der Mittelverwendung.

Das Bundesinnenministerium hat Anfang September die Corona-bedingten Einreisebeschränkungen auch für jüdische Zuwanderer/-innen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion Externer Link: aufgehoben, sofern die Einreise aus humanitären Gründen erfolgt. Damit reagierte die Behörde auf öffentliche Kritik, da entsprechende Ausnahmen zuvor nur für Spätaussiedler/-innen galten. Zwischen 1993 und 2018 sind aus der ehemaligen Sowjetunion 209.134 jüdische Menschen einschließlich ihrer Familienangehörigen nach Deutschland Externer Link: zugewandert.

Das Seenotrettungsschiff "Alan Kurdi" der Hilfsorganisation Sea-Eye musste in der zweiten Septemberhälfte mehrere Tage auf See verbringen, bis ihm die Einfahrt in den Hafen von Olbia auf der italienischen Insel Sardinien gestattet wurde. Die Crew hatte vor der libyschen Küste 133 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Der Großteil der Geretteten soll auf andere EU-Staaten verteilt werden.

Fussnoten

Vera Hanewinkel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
E-Mail: E-Mail Link: vera.hanewinkel@uni-osnabrueck.de