Nach dem Ende des "Dritten Reiches" wurden
Weithin bekannt ist, dass Argentinien nach 1945 eines der begehrtesten Fluchtziele von Nazis war. Die Diskussion darum, wie diese NS-Flucht vonstattenging, war allerdings bis vor kurzem eher von Fiktion als von Fakten geprägt. Ein Beispiel dafür sind Verschwörungstheorien rund um allmächtige Geheimorganisationen, die SS-Verbrecher nach Argentinien geschleust haben sollen. So gibt es bis heute die Vorstellung, dass sich nach dem Krieg ehemalige SS-Angehörige zur Geheimorganisation "Odessa" zusammenschlossen. Aktuelle Forschungen zeigen, dass die Wirklichkeit weitaus komplizierter war – aber nicht weniger spannend.
Italien als Drehkreuz nach Übersee
Der Großteil der SS-Angehörigen, Belasteten und Kriegsverbrecher wählte den Fluchtweg über Italien, das ab 1946 als Drehkreuz nach Nord- oder Südamerika, Spanien oder in den Mittleren Osten fungierte. Um die damalige Situation in Europa in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu verstehen, muss man sich das
Diese Fluchtroute war damals kein Geheimnis: Italienische, Schweizer und deutsche Zeitungen berichteten etwa um 1948 wiederholt über die NS-Fluchtwege.
Die Rolle des Roten Kreuzes
Internationales Reisen war für Deutsche in den ersten Nachkriegsjahren – und besonders für NS-Belastete – aufgrund alliierter Bestimmungen offiziell nicht möglich. Nazis auf der Flucht scheuten daher den Kontakt mit Behörden. Man konnte sich zwar illegal und ohne Reisepass nach Italien durschlagen, aber für eine Überfahrt per Schiff nach Südamerika war ein gültiges Reisedokument notwendig. Hier schuf das
Fluchthilfe aus dem Vatikan
Die Beschaffung der Reisedokumente des Roten Kreuzes und der Visa für südamerikanische Staaten wurde ergänzt durch Aktivitäten des Vatikans. Noch während des Krieges übertrug Papst Pius XII. die Zuständigkeit für die Gefangenen- und Flüchtlingsfürsorge dem päpstlichen Hilfswerk (Pontificia Commissione Assistenza – PCA). Die Organisation mit Sitz in Rom bestätigte die Identität der Flüchtlinge in einem einfachen Empfehlungsschreiben an das Rote Kreuz, das dann (meist ohne weitere Untersuchung) dem oder der 'Staatenlosen' ein Reisedokument ausstellte. Die Päpstliche Hilfsstelle sah sich christlichen Grundwerten im Sinne des barmherzigen Samariters und daher, ebenso wie das Rote Kreuz, einem neutralem Humanitätsgedanken verpflichtet. Allen Hilfesuchenden sollte geholfen werden – und zwar ohne Rücksicht auf nationale Herkunft, Religion oder politische Überzeugung. Neben einer humanitären Zielsetzung ging es wohl auch darum, den katholischen Einfluss weltweit zu stärken. Denn Voraussetzung für die Hilfe war oft ein Bekenntnis zum katholischen Glauben und der katholischen Kirche. Nicht wenige Nazi-Täter konvertierten oder kehrten nach 1945 wieder zum katholischen Glauben zurück. Die Kirchenführung hatte das Ziel, die ehemaligen Hitler-Anhänger vom "Irrglauben des Nationalsozialismus" zu befreien. Daneben spielte Antikommunismus auch eine wichtige Rolle. Gerade die Ausländerabteilung des Päpstlichen Hilfswerks sah sich dem weltweiten Kampf gegen den "gottlosen" Kommunismus verpflichtet. Sie richtete eine Reihe von Unterkomitees ein, um die hohe Zahl der Schutzsuchenden aus Mittel- und Osteuropa zu bewältigen. Das österreichische Unterkomitee wurde von Bischof Alois Hudal geleitet. Hudal, ein christlicher Antisemit, Antikommunist, Deutschnationaler und katholischer Theologe, verhalf willentlich und wissentlich gesuchten NS-Verbrechern zur Flucht. Die Mehrzahl der Hudal-Schützlinge wollte über Italien nach Argentinien auswandern. Dabei war Hudals Unterkomitee keine Ausnahme. Andere Unterkomitees (besonders das kroatische und ukrainische) arbeiteten in ähnlicher Weise und boten sichere Häfen für Faschisten und NS-Kollaborateure aus ganz Europa.
Argentinien als Fluchtziel
Auch der argentinische Staatschef Juan Domingo Perón förderte in der Nachkriegszeit die Einwanderung von Deutschen und anderen Europäerinnen und Europäern. Argentinien – seit der Kolonialzeit ein
Peróns Diplomaten bedienten sich dabei gerne der Hilfe von Argentiniern deutscher Herkunft. Im Zusammenspiel mit untergetauchten SS-Angehörigen in Italien und Südtiroler SS-Offizieren organisierten diese ein effektives System der Anwerbung. Die SS-Angehörigen besaßen die entsprechenden Kontakte, dabei verfolgten sie oft eigene Interessen. Ihnen ging es neben der Anwerbung von Fachleuten für Perón auch um die Fluchthilfe für Kameraden – schwer belastete Kriegsverbrecher eingeschlossen. Dabei konnten die Nazi-Helfer zunehmend freier agieren, denn das Interesse an Strafverfolgung wurde im Frühen Kalten Krieg immer geringer. Geschätzte 300 bis 800 exponierte Nazis flüchteten ab 1946 nach Argentinien. Ende der 1990er Jahre rekonstruierte die staatlich einberufene argentinische Historikerkommission 180 Biografien von nach Argentinien geflüchteten prominenten NS-Kriegsverbrechern aus Österreich, Deutschland, Belgien, Frankreich und Jugoslawien. Die weit größere Zahl von einfachen SS-Soldaten und Nazi-Kollaborateuren aus ganz Europa, die in Argentinien eine Zuflucht fanden, wurde dabei aber nicht erfasst.
Neustart in Argentinien
Die im Hafen von Buenos Aires von Bord gehenden Neuankömmlinge wurden nicht immer mit offenen Armen empfangen. Die Aufnahmefähigkeit der Wirtschaft war durch den Krieg angeschlagen und die Hilfe des argentinischen Staats konzentrierte sich auf europäische Spitzenkräfte. Die meisten Einwanderer und Einwanderinnen – Nazis ebenso wie Holocaust-Überlebende – gingen mit Schulden in ihr neues Leben und mussten die oft vorgestreckten Kosten der Überfahrt ratenweise abstottern. Außerdem gab es sprachliche und kulturelle Barrieren. Ungeachtet dessen besaßen die meisten von ihnen eine solide Ausbildung und waren durch den Krieg Härten gewohnt. Die deutschsprachige Gemeinschaft mit ihren Clubs, Vereinen und Schulen erleichterte zudem die Integration. Auch deutsche Firmen waren in Argentinien bereits in den späten 1940er Jahren wieder stark präsent. Nazi-Jäger Simon Wiesenthal, ein österreichisch-jüdischer Überlebender des Holocausts, vermerkte dazu, die Firmensitze von Siemens, Krupp und Volkswagen seien in Argentinien "reine Nazinester" gewesen.
Doch erklären diese Seilschaften allein nicht die weitgehende Straffreiheit deutscher Kriegsverbrecher im argentinischen Exil. Solange Präsident Perón seine schützende Hand über die NS-Verbrecher hielt, hatten Nationalsozialisten und Faschisten im Land wenig zu fürchten. Im Juli 1949 erließ Perón sogar eine Generalamnestie für Ausländer, die illegal oder unter Falschnamen eingereist waren. Letztlich war die Einwanderung von Kriegsverbrechern allerdings eher ein toleriertes Nebenprodukt als offizielle Politik Argentiniens. Wiesenthal bezeichnete Argentinien als "Kap der letzten Hoffnung", und das war es auch in vielerlei Hinsicht: Die NS-Verbrecher durften dort auf eine sichere Zuflucht hoffen, und alteingesessene deutsche Siedlerinnen und Siedler behaupteten voller Wunschdenken, dass die Nationalsozialisten keine Verbrecher gewesen seien.