Die Entwicklung Eritreas zum transnationalen politischen Raum
Eritrea ist das zweitjüngste Land auf dem afrikanischen Kontinent. Nach einem 30 Jahre lang andauernden bewaffneten Kampf endete der Unabhängigkeitskrieg 1991 und Eritrea erklärte 1993 seine faktische Interner Link: Unabhängigkeit von Äthiopien. Von 1890 bis 1941 war das Land eine italienische Kolonie. Im Zweiten Weltkrieg fiel es 1941 an Großbritannien und wurde unter britische Militärverwaltung gestellt. 1952 wurde Eritrea mit Äthiopien föderiert und 1962 vom äthiopischen Kaiser Haile Selassie annektiert. Die Anfang der 1960er gegründete muslimisch dominierte Eritreische Befreiungsfront (Eritrean Liberation Front, ELF) leitete einen Unabhängigkeitskrieg ein. Mitte der 1970er Jahre spaltete sich die Eritreische Volksbefreiungsfront (Eritrean People's Liberation Front, EPLF) ab und gewann die Oberhand. Sie verlor dadurch die vorherige Unterstützung der konservativen arabischen Länder. Auch vom Ostblock erfuhr sie keine Hilfe, weil 1974 ein Militärrat (Derg) in Äthiopien Haile Selassie verdrängt und einen sozialistischen politischen Kurs eingeschlagen hatte, was Äthiopien die Unterstützung der Sowjetunion einbrachte. Dadurch hatte die EPLF wenig Rückendeckung und musste sich auf die im Ausland entstehenden Flüchtlingsgemeinschaften verlassen – denn aufgrund von Gräueltaten, die während des Krieges von Äthiopiern begangen wurden, flohen Hunderttausende Eritreerinnen und Eritreer aus ihrem Land und ließen sich in den Nachbarländern sowie in Europa, den USA, Kanada und Australien nieder. Die EPLF gründete Massenorganisationen mit Zweigstellen in Übersee, um die Diasporagemeinschaften zu organisieren und zu kontrollieren oder sie durch Spendenaktionen für die Unterstützung des bewaffneten Kampfes zu mobilisieren.
Unabhängigkeit und die Einführung der Diaspora-Steuer
Mit Erreichen der Unabhängigkeit im Jahr 1993 führte die Übergangsregierung, die aus der EPLF-Führung bestand, eine Rehabilitations- oder Diasporasteuer für alle im Ausland lebenden Eritreerinnen und Eritreer ein. Seitdem müssen sie zwei Prozent ihres Einkommens an die eritreische Regierung abführen und zwar unabhängig davon, ob es sich um Einkommen handelt, das aus Arbeit oder Sozialleistungen erzielt wird. Um die eritreischen Gemeinschaften im Ausland zu organisieren und zu kontrollieren, richtete das Regime ein Netzwerk diplomatischer Vertretungen in allen Ländern ein, in denen die eritreische Interner Link: Diaspora in erheblichem Umfang vertreten ist. Darüber hinaus gründete die Regierung die sogenannten mahbere-koms – angeblich unpolitische Kultur- oder Gemeindeverbände, die 1989 die oben genannten Massenorganisationen ablösten. Eritreerinnen und Eritreer erhalten eine "Clearance" (Bescheinigung), nachdem sie ihre Beiträge entrichtet haben. Sie ist eine Voraussetzung dafür, Pässe oder Geburtsurkunden zu erhalten, Eigentum in Eritrea kaufen oder erben zu dürfen sowie andere Leistungen eritreischer Botschaften und Konsulaten in Anspruch nehmen zu können.
Erneuter Krieg und politische Krise
Die EPLF benannte sich 1994 in Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (People's Front for Democracy and Justice, PFDJ) um und engagierte sich für Wiederaufbau und Entwicklung. Die meisten Eritreerinnen und Eritreer erklärten sich freiwillig zur Zahlung der Steuer bereit, die sie als Beitrag zum Wiederaufbau ihres vom Krieg zerstörten Heimatlandes betrachteten. Doch nur fünf Jahre nach der formellen Unabhängigkeit im Jahr 1993 brach erneut Krieg zwischen Eritrea und Äthiopien aus. Obwohl offiziell um den Verlauf der gemeinsamen Grenze zwischen beiden Staaten gekämpft wurde, lagen dem Krieg persönliche Rivalitäten zwischen den Führungen von Äthiopien und Eritrea sowie wirtschaftliche Streitigkeiten zugrunde. Im Nachhinein kann er nur als tragischer politischer Fehltritt gewertet werden, der bis zu hunderttausend Menschen das Leben kostete. Infolge des Krieges entwickelte sich eine regierungskritische Fraktion innerhalb der Regierungspartei; in einem offenen Brief an die Regierung forderten 15 Parteimitglieder, die sogenannte G15, Reformen und demokratische Wahlen. Doch Präsident Interner Link: Isaias Afewerki brachte die Reformer im September 2001 hinter Gitter. Seitdem hat sich Eritrea zu einer Autokratie ohne Verfassung und Rechtsstaatlichkeit entwickelt , ohne bürgerliche Freiheiten und mit einem unbefristeten "Nationaldienst" . Dieser ist dabei nicht nur auf militärische Aufgaben beschränkt, sondern umfasst auch Arbeiten in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder im öffentlichen Dienst – und dient letztlich dazu, die Politik der EPLF an die nächste Generation zu vermitteln. Der "Nationaldienst" ist der Hauptgrund für die massive Abwanderung von Hunderttausenden Eritreerinnen und Eritreern. Internationale Menschenrechtsorganisationen werfen der eritreischen Regierung vor, Flüchtende via Schießbefehl vom Grenzübertritt abhalten zu wollen.
Eritreas Exodus in Zahlen
In den letzten Jahren haben monatlich bis zu 5.000 Eritreerinnen und Eritreer die Grenzen nach Interner Link: Äthiopien und in den Interner Link: Sudan überquert. Viele von ihnen ließen sich dort allerdings nicht als Interner Link: Flüchtlinge registrieren, sondern haben versucht, nach Europa zu gelangen. Nach Angaben des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) gab es im Jahr 2015 insgesamt 47.020 Asylanträge von eritreischen Staatsangehörigen in EU-Mitgliedsländern; im Jahr 2016 waren es 38.808 Anträge. Derzeit leben 175.000 Eritreerinnen und Eritreer als Flüchtlinge in Äthiopien. Der Sudan beherbergt mehr als 100.000 registrierte Flüchtlinge, aber viele Eritreer leben unregistriert in sudanesischen Großstädten oder haben eine doppelte Staatsangehörigkeit.
Fußnoten
Spaltungen in der Diaspora und Gründung der Young PFDJ
Die Entwicklungen in Eritrea hatten Auswirkungen auf die Diaspora: Neue Oppositionsparteien und zivile Bewegungen entstanden und die Diasporasteuer wurde kontrovers diskutiert. Um die Kontrolle über die Diaspora-Jugend zu verbessern, gründete das eritreische Regime die Young People’s Front for Democracy and Justice (Junge Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit, YPFDJ) als Auslandsjugendabteilung. Sie zielt darauf, junge Eritreerinnen und Eritreer zu indoktrinieren sowie durch Festivals und Spendenaktionen Gelder zu sammeln. Sie wird von internationalen Menschenrechtsorganisationen als verlängerter Arm des Regimes gesehen. Alle Eritreerinnen und Eritreer, einschließlich der in der Diaspora geborenen Jugendlichen, werden von der eritreischen Regierung als Staatsangehörige betrachtet, auch wenn sie eine andere Staatsangehörigkeit angenommen haben. Das ermöglicht es der Regierung mithilfe der Diasporasteuer weiterhin Geld von Auslandseritreerinnen und -eritreern einzufordern. Regierungsgegner wiederum haben damit begonnen, sich aufgrund der Intransparenz und mangelnden Rechenschaftspflicht des Regimes gegen die Steuer einzusetzen.
Sanktionen und die Diasporasteuer
Der Interner Link: UN-Sicherheitsrat verhängte 2009 Sanktionen gegen Eritrea wegen der angeblichen Unterstützung bewaffneter Gruppen am Horn von Afrika, einschließlich der islamistischen Al-Shabaab-Miliz in Interner Link: Somalia. 2011 wurden die Sanktionen verschärft. Die eritreische Regierung war nun verpflichtet, die Anwendung von Zwangsmaßnahmen zur Erhebung der Diasporasteuer einzustellen. Einige demokratische Staaten wie Kanada und die Niederlande erklärten eritreische Diplomaten, die an der Erhebung der Steuer beteiligt waren, zu Personae non gratae (lat. unerwünschte Personen) – ihr Aufenthalt war dort nicht länger erwünscht. Die eritreischen Diasporagemeinschaften blieben gespalten, aber die eritreische Regierung nutzte die Sanktionen, um an das Nationalgefühl der Diasporamitglieder zu appellieren und forderte eine "entschlossene nationale Reaktion". Sie organisierte Demonstrationen, nutzte aber vor allem die Sanktionen, um weltweit noch mehr Spenden von Diasporagemeinschaften zu sammeln, um damit angeblichen ausländischen Verschwörungen entgegenzuwirken. Über die eingenommenen Beträge und ihren Verbleib ist wenig bekannt, da die Regierung keine Informationen über den Staatshaushalt und die Höhe der Steuerzahlungen veröffentlicht, aber Schätzungen zufolge stammt rund ein Drittel des eritreischen Haushalts allein aus der Diasporasteuer. Die Sanktionen wurden im November 2018 nach der Annäherung Eritreas an Äthiopien auf Initiative des äthiopischen Premierministers Interner Link: Abiy Ahmed Ali beendet.
Der lange Arm des Regimes in demokratischen und nicht-demokratischen Ländern
Der lange Arm des eritreischen Regimes ist in Ländern ohne demokratisches System stark zu spüren, in denen Eritreerinnen und Eritreer als Arbeitsmigranten und nicht als politische Flüchtlinge gelten. Beispielsweise leben und arbeiten hunderttausende Eritreerinnen und Eritreer Interner Link: in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar. Sie benötigen gültige Pässe, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten und sind gezwungen, die Diasporasteuer zu zahlen, da sie auf die Dienste der eritreischen diplomatischen Vertretungen angewiesen sind. Sie sind auch gehalten, an von der eritreischen Regierung organisierten politischen Seminaren teilzunehmen und Geld zu spenden. Im Ostsudan fühlen sich viele Eritreerinnen und Eritreer nicht sicher, weil örtliche Beamte mit Agenten des eritreischen Regimes zusammenarbeiten und einige oppositionelle Aktivistinnen und Aktivisten bereits nach Eritrea deportiert wurden.
Transnationale eritreische Institutionen spielen jedoch auch in demokratischen Staaten, einschließlich Interner Link: Deutschland, eine wichtige Rolle. Botschaften und Konsulate, Gemeinschaftsorganisationen (mahbere-koms) und die YPFDJ sind an der Generierung von Spenden aus der Diaspora beteiligt. Diejenigen, die vor der Unterdrückung und dem zeitlich unbegrenzten Nationaldienst geflohen sind und denen in den letzten Jahren Flüchtlingsschutz gewährt wurde, werden ebenfalls von Agentinnen und Agenten des Regimes behelligt. Regierungsunterstützer suchten z.B. Flüchtlingsunterkünfte auf, um die Geflüchteten zur Zahlung der Diasporasteuer aufzufordern. Regierungsfreundliche Dolmetscher haben versucht, Interviews von Flüchtlingen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu manipulieren. Jüngste Feldforschungen der Autorin haben ergeben, dass die Regierung Teile des Klerus von eritreischen orthodoxen Kirchengemeinden in Europa infiltriert hat. Für kirchliche Leistungen wie Taufen und Eheschließungen werden Gebühren erhoben und nach Eritrea überwiesen. Darüber hinaus müssen Flüchtlinge, die sich an die eritreischen diplomatischen Vertretungen wenden, um ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, eine "Erklärung des Bedauerns" unterzeichnen. Mit dieser bekennen sie sich schuldig, gegen ihre nationalen Verpflichtungen verstoßen zu haben. Sie müssen sich bereiterklären, bei einer etwaigen Rückkehr nach Eritrea jedwede Bestrafung zu akzeptieren, die das Regime für angemessen hält. Außerdem erklären sie sich damit einverstanden, künftig die Diasporasteuer zu zahlen.
Eritrea am Scheideweg
Fast dreißig Jahre nach der Unabhängigkeit ist Eritrea zu einem Diaspora-Staat geworden: Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt über die ganze Welt verstreut. Das PFDJ-Regime, das das Land regiert, ohne nationale Wahlen abzuhalten und schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hat, stützt sich auf transnationale politische Strukturen. Sie dienen dazu, die Diaspora zu kontrollieren, einzuschüchtern und auf Linie zu bringen. Viele Diaspora-Eritreerinnen und -Eritreer der zweiten Generation haben die Darstellung der Regierung, Eritrea sei eine von Feinden bedrängte Heldennation, verinnerlicht. Andere wiederum organisieren sich in reformorientierten Bewegungen und weigern sich, mit transnationalen eritreischen Institutionen in Kontakt zu treten. Nach dem Friedensabkommen von 2018 mit Äthiopien befindet sich Eritrea an einem Scheideweg: Während die Regierung noch keine Reformen eingeleitet und keine politischen Gefangenen freigelassen hat, sagen immer mehr Eritreerinnen und Eritreer in einer internationalen Kampagne in den sozialen Medien: "Genug!" ("Yiakl!"). Diese pro-demokratischen Kräfte werden benötigt, um das Land zu demokratisieren und den zeitlich unbegrenzten Nationaldienst zu beenden. Dieser kommt der Einschätzung internationaler Menschenrechtsorganisationen nach Zwangsarbeit gleich und hat immense Fluchtbewegungen ausgelöst, die das soziale Gefüge des Landes zu zerstören drohen.
Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel