Der Interner Link: Mangel an Pflegekräften ist deutschlandweit allgegenwärtig. Mit Blick auf die Externer Link: demografische Entwicklung der nächsten Jahre und Jahrzehnte ist eine Entspannung nicht absehbar: In Deutschland leben immer mehr alte Menschen, Interner Link: wodurch der Pflegebedarf tendenziell steigt; es gibt aber nicht genug (junge) Interessent*innen, die sich zu Pflegekräften ausbilden lassen und langfristig in diesem Bereich arbeiten (wollen). Im Jahr 2022 standen im Jahresdurchschnitt jeweils 100 bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Stellen für examinierte Pflegefachkräfte nur 33 Arbeitslose gegenüber. Bis zum Jahr 2035 könnte die Versorgungslücke auf knapp 500.000 Fachkräfte anwachsen.
Dabei verschärft die Ökonomisierung des Gesundheits- und Pflegewesens den Mangel an Pflegekräften. Die Pflege soll wirtschaftlich sein, der Pflegesektor sich also an Prinzipien der freien Marktwirtschaft ausrichten. Dies hat Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen. So steigt beispielsweise der Zeitdruck, weil immer mehr Tätigkeiten innerhalb kurzer Fristen erledigt werden müssen – oft in Schichtarbeit. Dabei schwinden Gestaltungsspielräume und Möglichkeiten der Beziehungsarbeit mit den zu pflegenden Menschen. Gepaart mit einer häufig nicht als angemessen empfundenen finanziellen wie gesellschaftlichen Anerkennung der Pflegarbeit führt dies zu Unzufriedenheit, erhöhtem Stresserleben, hoher Mitarbeiter*innenfluktuation und hohen Krankenständen. Die Pflegebranche erscheint daher nicht als attraktives Arbeitsfeld.
Zuwanderung als Antwort auf den Pflegenotstand
Die Interner Link: Politik sucht nach Strategien, um dem Mangel an Pflegefachkräften entgegenzuwirken. Dabei spielt auch die Interner Link: Zuwanderung aus dem Ausland eine immer wichtigere Rolle. So sind in den vergangenen Jahren Zuwanderungs- und Beschäftigungshürden nach und nach gesenkt worden, etwa durch die seit 2016 geltende Interner Link: Westbalkanregelung. Sie ermöglicht es Arbeitskräften aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, und Serbien nach Deutschland zuzuwandern und eine Beschäftigung jeglichen Qualifikationsniveaus aufzunehmen, sofern die Bundesagentur für Arbeit ihre Zustimmung erteilt. Zudem werden seit dem Jahr 2013 im Rahmen des Programms „Triple Win“ Pfleger*innen aus Nicht-EU-Staaten angeworben: Dies gilt zum einen für bereits ausgebildete Pflegefachkräfte aus Ländern mit einem ‚Fachkräfteüberschuss‘, aktuell aus Bosnien-Herzegowina, den Philippinen, Jordanien, Indien (Kerala), Indonesien und Tunesien (Stand 2023); zum anderen werden junge Menschen aus Vietnam mit Vorerfahrungen in der Pflege angeworben, um eine dreijährige Pflegeausbildung zu durchlaufen und anschließend in Deutschland weiterbeschäftigt werden zu können. (Zugriff: 03.12.2023). Auch in der umfangreichen Fluchtzuwanderung der letzten Jahre – mit ihren Höhepunkten 2015/16 und 2022 – wird unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten eine Chance gesehen, Pflegekräfte zu gewinnen.
Die Anstrengungen zeigen Wirkung: Im Jahr 2022 belief sich die Zahl der Staatsangehörigen der vom Triple-Win-Programm adressierten Länder – inklusive der vietnamesischen Auszubildenden – auf rund 23.000. Dabei wurden von 2010 bis zum Frühjahr 2023 über das Triple-Win-Programm 4.162 ausgebildete Pflegekräfte angeworben (Stand: Mai 2023). Zudem waren 2022 etwa 43.000 Beschäftigte aus den Westbalkanstaaten in der Pflege tätig, womit sich ihre Zahl innerhalb von fünf Jahren nahezu verdoppelt hatte. Im gleichen Zeitraum stieg auch die Zahl der freizügigkeitsberechtigten zugewanderten Pflegekräfte aus anderen EU-Staaten um 25.000 auf 91.000. Und während vor 2015 weniger als 2.000 Menschen aus den acht zuzugsstärksten außereuropäischen Asylherkunftsländern – Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien – in der Pflege tätig waren, hat sich diese Zahl bis Juni 2022 auf gut 20.000 erhöht. Insgesamt ist der Anteil ausländischer Beschäftigter an allen Beschäftigten in der Pflegebranche zwischen 2017 und 2022 von acht auf 14 Prozent gestiegen. Dabei sind sie im Vergleich zu Pflegekräften mit deutscher Staatsangehörigkeit überproportional in Helfer*innenpositionen beschäftigt. Das hängt auch mit den Herausforderungen zusammen, mit denen zugewanderte Pflegekräfte im deutschen Pflegealltag konfrontiert sind.
Herausforderungen migrierter und als migrantisch gelesener Pflegekräfte im pflegerischen Alltag
Zugewanderte Pflegekräfte treffen in der deutschen Pflegebranche – neben den bereits skizzierten Arbeitsbedingungen – häufig auf Arbeitskulturen, die sich von denen in ihren Herkunftsländern unterscheiden. Das schließt etwa unterschiedliche berufliche Selbstverständnisse (z. B. der Stellenwert von Emotionen in oder die gesellschaftliche Wertschätzung der Pflegearbeit) und Fachkompetenzen ein. Als herausfordernd erweisen sich zudem die Anerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse, Anforderungen an Kenntnisse der deutschen Sprache und alltagsrassistische Erfahrungen.
Herausforderung Arbeitskultur
Häufig haben ausländische Pflegekräfte eine andere fachliche Sozialisation durchlaufen, die mit unterschiedlichen Kompetenzen und Erwartungen an den beruflichen Alltag einhergeht. So treffen sie in Deutschland auf Berufsnormen, die mit deutlich geringeren Autonomiespielräumen einhergehen, einer hohen Abhängigkeit von ärztlichen Anordnungen sowie einer auf das Nötigste reduzierten Pflegepraxis, die kaum Ressourcen für Beziehungs- und emotionale Arbeit zulässt. Von den zugewanderten Pflegekräften wird eine Übernahme dieser in Deutschland vorherrschenden beruflichen Identität erwartet, die von den etablierten Pfleger*innen im hoch verdichteten Arbeitsalltag nur selten hinterfragt bzw. problematisiert wird. Aufgrund der Ökonomisierung der Pflege wird beispielsweise von den migrierten Pflegekräften erwartet, den zeitlichen Aufwand für die Beziehungsarbeit mit den Pflegebedürftigen zu minimieren, obwohl die Pflegekräfte selbst die Beziehungspflege vielleicht für sehr wichtig erachten und diese intensivieren möchten. Zudem werden ihnen ihre Fähigkeiten zur Übernahme medizinnaher Anteile (z.B. das Injizieren bestimmter Spritzen oder das Legen eines peripheren Venenkatheters/Flexüle) abgesprochen, auch wenn diese aufgrund der Ausbildungsinhalte im Herkunftsland häufig vorhanden sind – was von den migrierten Pflegekräften als Abwertung ihrer Fachkompetenz erlebt wird.
Herausforderung Qualifikationsanerkennung
Bei im Ausland erworbenen Qualifikationen und Berufsabschlüssen muss in Deutschland die Gleichwertigkeit des Abschlusses anerkannt werden. Dies ist u.a. deshalb problematisch, weil die zugewanderten Pflegekräfte häufig eine akademische, medizinnahe Ausbildung durchlaufen haben, die sich zum Teil deutlich von der Pflegausbildung in Deutschland unterscheidet. Werden die im Ausland erworbenen Abschlüsse und Qualifikationen nicht oder nicht im vollen Umfang anerkannt, kommt es nicht nur zu gefühlten, sondern auch zu faktischen formellen Abwertungen, kurz: zu Dequalifizierung. Häufig müssen die zugewanderten Pflegekräfte Weiterbildungen, Anpassungslehrgänge oder Prüfungen ablegen, damit ihre Abschlüsse in Deutschland voll anerkannt werden. Außerdem werden für die Anerkennung als Fachkraft Deutschkenntnisse auf B2-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens verlangt. Bis sie dieses Sprachniveau formal nachweisen können, dürfen sie nur in Helfer*innenpositionen arbeiten.
Herausforderung Deutschkenntnisse
Der Erwerb von Deutschkenntnissen soll zu mehr Handlungsfähigkeit im Pflegealltag beitragen. Jedoch gaben zugewanderte Pflegekräfte in einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung in biographisch-narrativen Interviews an, dass die geforderte Sprachkompetenz auch durchaus als Unterscheidungs-, Hierarchisierungs- und Ausschlussmittel instrumentalisiert werden kann: Unvollständige Deutschkenntnisse dienen dann dazu, den migrantischen Pflegekräften Außenseiter-Positionen zuzuweisen und so etablierte Machtstrukturen aufrecht zu erhalten. Haben sie tatsächlich Sprachschwierigkeiten, erhalten die zugewanderten Pflegekräfte auch nicht immer angemessene Unterstützung, die ihnen das Gefühl geben könnte, ein gleichberechtigtes, wertgeschätztes Mitglied im Pflegeteam zu sein. Denn im Kontext von hoher Arbeitsbelastung und Zeitdruck empfinden etablierte Teammitglieder sprachsensible Anleitungen und eine gute Einarbeitung migrierter Pflegekräfte teilweise als zusätzliche Belastung und damit als „Verlustgeschäft“; sie werden dann oft anderen Aufgaben untergeordnet. Zudem führen die ökonomisierten Arbeitsbedingungen dazu, dass innerhalb der Arbeitszeit immer mehr Aufgaben erledigt werden müssen, was wiederum ein hohes Ungerechtigkeitserleben auslösen sowie zum – zumeist unbefriedigten – Wunsch nach mehr Macht und Gestaltungsmöglichkeiten im Pflegealltag beitragen kann. In diesem Zusammenhang wurden in der bereits erwähnten Studie Beispiele genannt, in denen etablierte Pflegekräfte Informationen auch bewusst zurückhielten, um z.B. das eigene Gefühl, den Ansprüchen nicht zu genügen, zu kompensieren. Über eine solche Praxis wird die Position anderer Pflegekräfte geschwächt. Zugleich werden außerordentlich hohe Erwartungen, die von den etablierten Pflegekräften an die migrierten bzw. als migrantisch gelesenen Pflegekräfte gestellt werden, beobachtet. In solchen Fällen bedingt beides, dass Pflegekräfte mit Migrationsgeschichte den an sie gerichteten Ansprüchen kaum genügen können und die von ihnen verrichtete Arbeit von den etablierten Pflegekräften selten als zufriedenstellend bewertet wird.
Herausforderung Alltagsrassismus
Hierarchisierungen im Pflegeteam (Außenseiter- und Etablierten-Rollen) und Ausschlusserleben auf Seiten der migrierten Pflegekräfte können sich auch durch Kulturalisierungen und Essentialisierungen ergeben. Dabei wird den (vermeintlich) zugewanderten Pflegekräften eine (unveränderliche) Wesenshaftigkeit – eine Essenz – zugeschrieben, die auf ihrer ‚anderen Kultur‘ gründe. So gibt es Beispiele, in denen als männlich und ‚arabisch’ bzw. ‚muslimisch‘ gelesene Pflegekräfte kriminalisiert werden, indem unterstellt wird, dass ihre ‚Kultur‘ oder auch Religion per se gefährlich sei; sie hätten „das Messer hinter dem Rücken“. Denken und Handeln eines Individuums werden also als durch die ‚Kultur‘ bestimmt verstanden, gewissermaßen vorhergesagt und individuelle Persönlichkeitsmerkmale sowie die gesellschaftlich wirksamen Dynamiken eines ‚Rassismus ohne Rassen‘ ausgeblendet. Auch seit dem Kolonialismus bestehende (historisch gewachsene), globale asymmetrische Machtverhältnisse, die ebenjene Stereotypen perpetuieren, werden so de-thematisiert.
Wenn Menschen aufgrund ihrer – zumeist an Äußerlichkeiten wie Hautfarbe, religiöse Kleidung oder Akzent, festgemachten – Herkunft, ‚Kultur‘ oder Religion kategorisiert, abgewertet und schlechter gestellt bzw. ausgeschlossen werden, wird dies als Interner Link: Rassismus bezeichnet. Rassismus bildet also kein Phänomen des gesellschaftlich rechten Randes allein, wie häufig angenommen wird; er operiert auch im Bereich des Alltäglichen (Interner Link: Alltagsrassismus), etwa im Arbeitskontext. Dort kann er sich in subtilen wie offenen Abwertungen gegenüber migrierten oder als solche gelesenen Pflegekräften äußern.
Subtile Abwertungen bzw. Hierarchisierungen spiegeln sich zum Beispiel in Aussagen von ambulant gepflegten Personen, wenn sie überrascht sind, dass „die Pflegerin aus Afrika pünktlich“ erschienen oder „doch fleißig“ gewesen sei. Sie finden sich aber auch in – zumeist nett gemeinten – infantilisierenden Bezeichnungen wie „die kleine Vietnamesin“ oder in romantisierten Vorstellungen von einer liebevollen Pflege durch Pflegekräfte aus Osteuropa, „wo Oma wirklich noch so Oma“ sei.
Offene Abwertungen und Ausschlüsse finden zum Beispiel dann statt, wenn Patient*innen die Pflege durch „schwarze Hände“ verweigern oder nicht-weiße Menschen aus ihrem Patient*innenzimmer oder ihrer Wohnung verweisen. Sie zeigen sich aber auch, wenn Kolleginnen (die große Mehrheit der Pflegenden sind weiblich) die Einarbeitung von Pflegern mit (vermeintlicher) Migrationsgeschichte ablehnen, weil sie unterstellen, dass von ihnen sexualisierte Gewalt ausgehen könnte.
Gerade letzteres Beispiel eröffnet einen Einblick in die lebensweltlichen Ausprägungen (kolonial-)rassistischer Kontinuitäten und Fantasien: in ein vermeintlich gesichertes Wissen über ein gesteigertes sexuelles Verlangen (Hypersexualität) von als Schwarz und muslimisch gelesenen Männern. Dass derartige soziale Imaginationen gesellschaftlich (re-)produziert werden, wurde jüngst in einer vom Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor durchgeführten Studie sichtbar. Demnach glaubt fast die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands (49 Prozent) noch immer an ein koloniales Phantasma: an die Existenz menschlicher ‚Rassen‘. Bemerkenswert ist, dass dieser Glaube insbesondere von älteren Menschen (über 65 Jahre) geteilt wird (rund 61 Prozent), die wiederum im Pflegekontext überproportional vertreten sind. Obschon der Frauenanteil in den Pflegeberufen überdurchschnittlich hoch ist – vier von fünf Pflegekräften sind Frauen – zeigt sich gerade bei Beschäftigten mit Fluchterfahrung aus den o.g. acht zuzugsstärksten außereuropäischen Asylherkunftsländern ein erhöhter Anteil an männlichen Beschäftigten (2022 waren 59 Prozent aller Pflegekräfte aus den zuzugsstärksten außereuropäischen Asylherkunftsländern männlich). Zugleich sind gegenwärtig in Deutschland die Mehrheit der rund fünf Millionen Pflegebedürftigen weiblich (2021: 61,9 Prozent). Gerade in der häuslichen Altenpflege ist ein deutliches Unbehagen (nicht nur aber insbesondere) bei weiblichen Pflegebedürftigen gegenüber männlichen Pflegekräften spürbar. Dieses grundsätzliche Unbehagen verstärkt sich gegenüber als Schwarz und/oder muslimisch gelesenen Pflegern, wenn diese mit rassistischen Zuschreibungen wie einer vermeintlichen Kriminalitätsneigung oder Hypersexualität belegt werden. Geschlechtsspezifisch-rassifizierende Zuschreibungen können die Pflegebeziehung also zusätzlich beschweren.
Solch wiederkehrende subtile und/oder offene Erfahrungen, als andersartig wahrgenommen und/oder herabgewürdigt zu werden, ziehen ein (permanentes) Stresserleben, eine Beschädigung des mentalen Gesundheitsempfindens nach sich. Sie können sich als psychische Erkrankungen (z.B. Angststörungen, Depressionen) mit traumatischer Qualität manifestieren. Nicht zuletzt bewirken sie auch den Ausstieg aus der Pflegebranche.
Ausblick
Die hier skizzierten Herausforderungen verdeutlichen: Es reicht nicht, Arbeitskräfte aus dem Ausland für die Pflege zu gewinnen. Sie müssen auch nachhaltig in der Pflegebranche gehalten werden. Dazu bedarf es einerseits betrieblicher Unterstützung während der Verfahren zur Anerkennung der im Ausland erworbenen Qualifikationen und Berufsabschlüsse sowie Hilfe beim Spracherwerb. Andererseits müssen aber auch Organisationsentwicklungsmaßnahmen angestoßen werden, die eine Reflexion und einen Abbau von Kulturalisierungen, Alltagsrassismen und unhinterfragt praktizierten hegemonialen Arbeitsnormen auf Seiten der etablierten – häufig weiß und deutsch positionierten – Belegschaft anregen. Gleichsam müssen auf betrieblicher und struktureller Ebene die gesamte Branche betreffende Fragen nach ‚guter Arbeit‘ und ‚guter Pflege‘ neu gestellt werden.