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"Geduldet" und "rückgeführt" Schutzsuchende aus den postjugoslawischen Kriegen der 1990er-Jahre in Deutschland

Jochen Oltmer

/ 13 Minuten zu lesen

Als Jugoslawien in einem blutigen Konflikt zerfiel, flohen Hunderttausende u.a. nach Deutschland, erhielten hier aber meist kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Skizze einer unterbelichteten Geschichte.

Mit Transparenten demonstrieren Kriegsflüchtlinge aus Bosnien am 17.10.1996 mit einem Marsch über den Kurfürstendamm zum Amtssitz des Innensenators gegen die Abschiebung aus Deutschland. (© picture-alliance, ZB | Bernd Settnik)

Das deutsche Interner Link: Grundgesetz gewährt ein Interner Link: Grundrecht auf Asyl. Ebenso zählt die Bundesrepublik zu den frühen Unterzeichnerinnen der Interner Link: Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Sowohl das Grundgesetz als auch die Genfer Flüchtlingskonvention verlangen den Nachweis einer individuellen Verfolgung aus politischen Gründen. Eine Flucht vor Krieg oder Bürgerkrieg zählt laut diesen Regelungen nicht als Grund für die Interner Link: Zuerkennung von Flüchtlingsstatus oder Asylberechtigung. Erst 2013 führte Deutschland, EU-Recht folgend, den Interner Link: subsidiären Schutz ein: Droht Schutzsuchenden bei einer Rückführung in das Herkunftsland etwa aufgrund von Krieg oder Bürgerkrieg Lebensgefahr, können sie eine befristete Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik erhalten. Bleibt die Gefahr im Herkunftsland bestehen, können sie nach fünf Jahren Aufenthalt unter Erfüllung weiterer Voraussetzungen (wie z.B. der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts) ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Zahlreiche der Schutzsuchenden, die seit 2013 vor allem aus den von Gewaltkonflikten geprägten Ländern Interner Link: Syrien, dem Interner Link: Irak und Interner Link: Afghanistan die Bundesrepublik erreichten, erhielten aufgrund dieser Regelung ein Bleiberecht.

Bis zur Einführung des subsidiären Schutzes gab es in der Bundesrepublik keinen Rechtsanspruch auf (temporären) Schutz für Menschen, die vor Krieg oder Bürgerkrieg geflohen waren – eine 'Schutzlücke' mit weitreichenden Folgen für Hunderttausende. Dazu zählten auch jene Schutzsuchenden, die vor Krieg und Bürgerkrieg als Ergebnis des Zusammenbruchs Jugoslawiens in den 1990er-Jahren nach Deutschland flohen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, warum ihnen meist nur ein prekärer Schutz gewährt wurde. Ebenso stellt sich die Frage, warum sich, trotz vielfältiger Kritik aus dem In- und Ausland, die Rückkehrförderung bzw. die (Zwangs-)Rückführung zum Hauptelement der deutschen Flüchtlingspolitik entwickelte.

Der Artikel blickt zunächst auf die südosteuropäischen Fluchtverhältnisse und skizziert ihre wesentlichen Hintergründe und Dynamiken (1). Anschließend zeichnet er die Debatte um die Gewährung eines Schutzstatus in Deutschland nach und verweist auf die Folgen der Nicht-Gewährung eines Aufenthaltstitels (2). Schließlich umreißt er die bundesdeutsche Rückkehr- und Rückführungspolitik und ihre Konsequenzen (3).

1. Postjugoslawische (Bürger-)Kriege

In den 1990er-Jahren zerfiel Jugoslawien in einem sehr Interner Link: blutigen Konflikt in die Staaten Interner Link: Bosnien-Herzegowina, Interner Link: Kroatien, Interner Link: Montenegro, Interner Link: Nordmazedonien, Interner Link: Serbien, Interner Link: Slowenien sowie den Interner Link: Kosovo, dessen Status bis heute umstritten ist. Auflösungstendenzen hatten sich bereits in den 1980er-Jahren abgezeichnet. In den anderen Ländern Ost-, Ostmittel- und Interner Link: Südosteuropas zielten oppositionelle Tendenzen und Bewegungen vor allem auf die Überwindung der diktatorischen Ordnung der sozialistischen politischen Systeme. In Jugoslawien trat das Element nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen hinzu. Die komplexen Prozesse der Ablösung des politischen Systems, der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Transformation, des Zerfalls der staatlichen Einheit sowie der Einrichtung postjugoslawischer Staaten führte zu einer spezifischen Konfliktdynamik: Derart schwere kriegerische Gewaltausbrüche, hohe Opferzahlen sowie umfangreiche Vertreibungs- und Fluchtbewegungen hatte es in Europa seit 1949, also dem Ende der unmittelbaren Interner Link: Nachkriegszeit des Interner Link: Zweiten Weltkriegs, nicht mehr gegeben.

Freie Wahlen führten 1990 zu Siegen nationaler Parteien, die zum Teil explizit nach einer Auflösung des jugoslawischen Staates strebten. Im Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Das Bemühen um die Niederschlagung der Unabhängigkeitsbestrebungen Sloweniens durch die Jugoslawische Volksarmee scheiterte innerhalb weniger Tage. In Kroatien hingegen kam es zu einem vier Jahre währenden Krieg, der mehr als 10.000 Tote zur Folge hatte sowie zur Flucht und Vertreibung von über 300.000 Menschen führte – überwiegend Kroat:innen, aber auch Zehntausende Serb:innen.

Mit dem Beginn des Krieges in Bosnien-Herzegowina stieg das Ausmaß der Gewalt erheblich an. Die dortige Bevölkerung hatte im März 1992 im Rahmen eines Referendums – das die Serb:innen im Land allerdings boykottierten – mehrheitlich für eine Unabhängigkeit votiert. Bosnische Serb:innen und ab 1993 schließlich auch bosnische Kroat:innen versuchten mit militärischen Mitteln, eine Vereinigung der mehrheitlich von ihnen bewohnten Gebiete mit Serbien bzw. Kroatien herbeizuführen. Für unerwünscht erklärte Teile der Bevölkerung – hier vor allem bosnische Muslim:innen – wurden aus den serbisch bzw. kroatisch beherrschten Gebieten vertrieben oder mussten fliehen. Das geschah nicht zufällig, sondern längerfristig vorbereitet im Rahmen einer militärisch-politischen Strategie und mit bewusst hohem Gewalteinsatz. Voraussetzung und Ergebnis dieser Politik zur Homogenisierung der Bevölkerung war die gezielte propagandistische De-Humanisierung jener Menschen, die nicht als zugehörig verstanden wurden.

Bereits kurz nach Kriegsbeginn hatten die Offensiven bosnisch-serbischer Verbände im Sommer 1992 rund die Hälfte der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas – rund 2,2 Millionen Menschen – in die Flucht getrieben. Die Vertreibungen firmierten in der umfangreichen medialen, politischen und öffentlichen Diskussion in Europa unter dem Begriff der 'ethnischen Säuberung' – eine euphemistische Bezeichnung angesichts der extremen Gewalt, die schließlich nicht nur von serbischen, sondern auch von kroatischen und bosnisch-muslimischen militärischen Verbänden ausging.

Die meisten Schutzsuchenden aus dem Kontext der Kriege um Jugoslawien flohen innerhalb der Region. 1995 waren es nach Angaben des Interner Link: UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) 3,7 Millionen. Dabei stieg mit dem Interner Link: Krieg um Bosnien-Herzegowina 1992–1995 die Zahl der Schutzsuchenden in West- und Mitteleuropa stark an. Dass in diesem Fall die Fluchtbewegungen nicht vornehmlich auf die Region beschränkt blieben, resultierte vor allem aus zwei Faktoren: Erstens war beinahe das gesamte Territorium Bosnien-Herzegowinas von den Kriegshandlungen betroffen, zweitens verfügten die bosnischen Muslim:innen nicht über einen ko-nationalen Staat – anders als Serb:innen und Kroat:innen mit Serbien und Kroatien –, der Unterstützungs- und Rückzugsmöglichkeiten bot.

Von den rund 600.000 Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina, die ein EU-Land erreichten, nahm Deutschland etwa 350.000 auf. Dass das Land innerhalb der EU zum wichtigsten Ziel wurde, ergab sich auch aus der Einwanderungsgeschichte Deutschlands: Denn besonders in der Bundesrepublik lebten Verwandte und Bekannte, die Interner Link: als Arbeitskräfte in den 1960er- und 1970er-Jahren im Rahmen des Anwerbeabkommens mit Jugoslawien eingewandert waren und nun als Anlaufpunkte für Schutzsuchende aus Bosnien-Herzegowina fungierten.

2. Aufnahme in Deutschland: temporär und prekär

Anfänglich beantragten viele Schutzsuchende aus Interner Link: Bosnien-Herzegowina Asyl in Deutschland. Weil die Aussichten auf einen Flüchtlingsstatus aber gering waren, nahm die Zahl schnell ab und erreichte bis 1995 insgesamt nur rund 43.000. Die Bearbeitung der Anträge stellte das zuständige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im Juni 1993 zurück. Erst nach dem Interner Link: Abkommen von Dayton, das im Dezember 1995 den Krieg in Bosnien-Herzegowina beendete, nahm das Bundesamt die Verfahren wieder auf – und beschied sie meist abschlägig. Von Beginn an machten Bund und Landesregierungen deutlich, dass nur in Ausnahmefällen ein Flüchtlingsstatus und damit ein Daueraufenthalt in Deutschland möglich sei. Sie argumentierten mit der voraussichtlich begrenzten Dauer der kriegerischen Handlungen zwischen den post-jugoslawischen Konfliktparteien. Außerdem sei eine Rückkehr der Schutzsuchenden nach einer Stabilisierung der Situation in den Herkunftsgebieten oder einem Friedensschluss erforderlich, um die Bundesrepublik finanziell zu entlasten und den Wiederaufbau in Südosteuropa zu unterstützen.

Diese politische Leitlinie des Umgangs mit den Flüchtenden wurde im Rahmen intensiver und vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Vereinigung sehr selbstbezüglicher Debatten der 1990er-Jahre entwickelt. Die Zuwanderung galt nicht nur wegen einer hohen strukturellen Erwerbslosigkeit als ökonomische und soziale Gefahr, auch kulturell und politisch wurde sie als bedrohlich markiert. Asylverwaltung und Rechtsprechung verwiesen in ihren Begründungen für die Ablehnung eines Flüchtlingsstatus vor allem auf drei Aspekte: Erstens verlange die maßgebliche Genfer Flüchtlingskonvention den Nachweis einer von einem Staat bzw. staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung. Derlei aber lasse sich in Bürgerkriegssituationen, die durch zerfallende oder zerfallene Staaten gekennzeichnet seien, selten ausmachen. Zweitens habe die Verfolgungssituation nur regional bestanden, inländische Fluchtalternativen hätten genutzt werden können. Drittens sei meist ein 'Interner Link: sicherer Drittstaat', wie etwa Österreich, passiert worden. Und die Interner Link: Neuregelung des Asylgrundrechts, die am 1. Juli 1993 in Kraft getreten war, lasse in solchen Fällen eine Berufung auf das bundesdeutsche Asylrecht nicht zu.

Die Schutzsuchenden, die keinen Asylantrag gestellt hatten, wurden nicht entlang der Vorgaben des Interner Link: Königsteiner Schlüssels auf die Bundesländer verteilt. Deshalb ergaben sich Ungleichgewichte: Vor allem Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Hessen nahmen überdurchschnittlich viele Schutzsuchende auf. Tabelle 1 bietet einen Überblick über die Zahl der Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina nach Bundesländern. Sie bildet die Zeit vor Kriegsende 1995 und die Situation wenige Monate nach dem Abschluss des im Dezember 1995 unterzeichneten Friedens von Dayton ab.

Tabelle 1: Schutzsuchende (ohne Asylantrag) aus dem (Bürger-)Krieg in Bosnien-Herzegowina nach deutschen Bundesländern 1995 und 1996

Bundesland19951996
Baden-Württemberg47.94360.000
Bayern58.32371.000
Berlin26.23832.000
Brandenburg2.0392.000
Bremen2.5153.000
Hamburg12.37312.500
Hessen35.79535.000
Mecklenburg-Vorpommern9391.000
Niedersachsen18.10023.000
Nordrhein-Westfalen58.32975.000
Rheinland-Pfalz13.32317.500
Saarland3.7034.000
Sachsen1.7862.000
Sachsen-Anhalt2.0062.000
Schleswig-Holstein3.1004.000
Thüringen1.0251.000
Insgesamt287.528345.000

Quelle: Harald W. Lederer, Migration und Integration in Zahlen. Ein Handbuch, Bonn 1997, S. 312. Die Daten für 1995 entstammen einer Umfrage unter den Bundesländern, jene zu 1996 beziehen sich ebenfalls auf eine Länderumfrage sowie auf Angaben des Auswärtigen Amtes. Nicht enthalten sind die ca. 30.000 Menschen aus Bosnien-Herzegowina, die in der Bundesrepublik einen Asylantrag stellten.

Dabei wäre es durchaus möglich gewesen, Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen einen temporären Aufenthaltsstatus zu gewähren: Im Zuge der Änderung des Asylgrundrechts, die zum 1. Juli 1993 in Kraft trat, war im Ausländergesetz (§ 32) ein Status für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge jenseits des Asylrechts geschaffen worden: Einigten sich Bund und Länder darauf, dass Schutzsuchende aus einer spezifischen Kriegs- und Bürgerkriegssituation temporären Schutz erhalten sollten, wurde ihnen ohne individuelle asylrechtliche Prüfung eine Aufenthaltsbefugnis für zwei Jahre erteilt. Der Status konnte verlängert werden, solange der Konflikt währte, der zu ihrer Flucht geführt hatte. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit war möglich. Im Falle der Schutzsuchenden aus Südosteuropa wurde diese Neuregelung des Ausländergesetzes allerdings nicht angewendet: Bund und Ländern gelang es nicht, eine Grundsatzeinigung über die Verteilung der Kosten herbeizuführen.

Weil der politische Wille fehlte, das Instrument der Gewährung temporären Schutzes zu aktivieren, blieben Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien überwiegend ohne Aufenthaltsstatus. Sie wurden 'geduldet'. Die Bundesregierung teilte mit, dass von den am 31. März 1995 registrierten rund 288.000 Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina 226.000, also ca. 80 Prozent, über eine Interner Link: Duldung verfügten.

Die mit dem ersten bundesdeutschen Ausländergesetz von 1965 geschaffene 'Duldung' bietet ausdrücklich keinen Aufenthaltsstatus. Nach § 54 handelt es sich vielmehr um ein vorübergehendes Aussetzen einer Abschiebung, also der Rückführung unter Zwang von Personen, die von den Ausländerbehörden als ausreisepflichtig eingestuft werden. Bald nach Beginn des Bosnien-Krieges vereinbarten die Innenministerien von Bund und Ländern im Mai 1992 einen Abschiebestopp für Schutzsuchende aus der Konfliktregion. Er galt zunächst für drei Monate und wurde bis Anfang 1996 immer wieder für in der Regel jeweils drei Monate verlängert. Die dadurch erzeugte große Unsicherheit der Bleibeperspektiven wurde von den Betroffenen häufig als sehr belastend empfunden.

Rund ein Sechstel der Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina hatte deshalb temporäre Aufnahme in der Bundesrepublik finden können, weil in Deutschland lebende Verwandte und Bekannte sowie nicht-migrantische Familien Verpflichtungserklärungen nach § 84 des Ausländergesetzes unterschrieben. Sie garantierten damit, alle mit dem Aufenthalt der Schutzsuchenden verbundenen Kosten zu tragen und keine Leistungen des deutschen Sozialsystems in Anspruch zu nehmen. Die Aufnahme einer Arbeit war für Geduldete zwar nicht verboten, die Hürden allerdings blieben erheblich: Die Arbeitsämter mussten die Beschäftigung genehmigen. Wie eine wissenschaftliche Befragung von Unternehmen in Dortmund deutlich machte , griffen allerdings häufig die Regelungen des Inländervorrangs, sodass in diesen Fällen den Schutzsuchenden die Arbeitserlaubnis verweigert wurde. Wegen der Beschränkung der Duldung auf meist drei Monate blieb auch das Interesse von Ausbildungsbetrieben oder Arbeitgebern gering, zumal die Weiterbeschäftigung nach dem Ende der dreimonatigen Duldung immer wieder neu beantragt und genehmigt werden musste. Der Befragung in Dortmund zufolge wurde diese Praxis "von allen Beteiligten, auch den befragten Unternehmen, als Schikane wahrgenommen", ebenso wollten sich viele Unternehmen "auf den verordneten bürokratischen Zusatzaufwand nicht einlassen".

Weitere Barrieren für den Zugang zu regulären Beschäftigungen kamen sowohl in Dortmund als auch andernorts hinzu: Eine Vermittlung durch die Arbeitsverwaltung war ausgeschlossen, Unterstützung für berufsbezogene Qualifizierungen oder Sprachkurse gab es nicht. Jugendlichen, die die Schule abgeschlossen hatten, blieb der Zugang zu Maßnahmen der Arbeitsmarktintegration verwehrt. Und auch jenseits des Arbeitsmarkts erwiesen sich Perspektiven der Teilhabe als ausgesprochen beschränkt.

Dabei gab es durchaus Unterstützung durch Hilfsorganisationen und einer großen Zahl von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die bemüht waren, den Schutzsuchenden im Alltag auf den verschiedensten Feldern beizustehen. Dennoch blieb "der Lebensrhythmus der bloß Geduldeten […] bestimmt von einer Mischung aus Abwarten und Angst. Abwarten, wann endlich das Verfahren zum Abschluss kommt, Angst, dass dann die (auch zwangsweise) Rückführung in das Herkunftsland anstehen kann." Hinzu traten eine jahrelange Abhängigkeit von Gastgebenden oder Sozialleistungen, Untätigkeit und Perspektivlosigkeit. Diese Politik "perpetuierter Marginalisierung", die eine Regularisierung des Aufenthalts verweigerte, wurde als "entwürdigende Erfahrung" wahrgenommen. Dies ließ den britischen Migrationsforscher Khalid Koser danach fragen, ob es der deutschen Politik um "Schutz von Flüchtlingen oder Schutz vor Flüchtlingen" ("protection for refugees or protection from refugees") gegangen sei.

3. Remigrationspolitik

Um einer Abschiebung nach Bosnien zu entgehen, zogen nach Angaben des Bundesinnenministeriums rund 50.600 Schutzsuchende aus Bosnien-Herzegowina, die zwischenzeitlich in Deutschland Aufnahme gefunden hatten, in andere Staaten weiter. Mindestens 20.000 migrierten in die USA, jeweils mehrere Tausend nach Kanada, Australien, Neuseeland oder in andere EU-Staaten.

Der Friedensvertrag von Dayton umfasste einen umfangreichen Katalog von Regelungen für die Rückkehr bzw. Rückführung der Schutzsuchenden, auch weil sie vor allem von deutscher Seite gefordert worden waren. Die Konferenz der Innenministerien von Bund und Ländern beschloss im Dezember 1995 und Januar 1996 – also im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Friedensabkommen – die Rückkehr der Schutzsuchenden des Bosnien-Krieges zu forcieren. Der Abschiebestopp sollte nur noch bis zum 31. März 1996 gelten, die Duldungen also auslaufen. Ein Stufenplan gab die Rahmenbedingungen für die Rückkehr vor: Ab Juli 1996 sollten zunächst Unverheiratete, kinderlose Ehepaare sowie Menschen, deren Familien überwiegend in Bosnien-Herzegowina lebten, nach Südosteuropa zurückkehren. Als Ende dieser ersten Phase wurde der 1. Juli 1997angestrebt. Ab dem 1. Mai 1997 sollte dann die Rückkehr von Familien mit Kindern folgen, aber auch von Traumatisierten und Älteren, die nicht über Angehörige in Bosnien-Herzegowina verfügten.

Das Abkommen von Dayton legte fest, dass Schutzsuchende, die nach Bosnien-Herzegowina zurückkehrten, sich wieder in ihren Heimatorten ansiedeln durften. Ziel war es, die multiethnische und multireligiöse Ordnung der Vorkriegszeit wiederherzustellen. Das aber erwies sich in überschaubarer Zeit als nicht realisierbar: Obgleich mit dem Daytoner Vertrag die Waffen schwiegen und die militärischen Verbände zum Teil aufgelöst wurden, bedeutete Frieden zunächst nur die Abwesenheit von Krieg – und in nur sehr beschränktem Maße den Wiederaufbau bzw. Neuaufbau von administrativen Strukturen, des Verkehrssystems, von Wohnhäusern oder Arbeitsstätten. Die Erwerbslosigkeit blieb sehr hoch, eine zureichende medizinische Versorgung konnte nicht gewährleistet werden. Eine rasche Umsetzung der Remigrationspolitik scheiterte aber auch am Misstrauen der Schutzsuchenden. Angesichts der Gewaltexzesse des Krieges, der Dehumanisierung der als unerwünscht geltenden Minderheiten und der Vertreibungspolitik waren sie besorgt über ihre persönliche Sicherheit und die Möglichkeiten des konfliktfreien Zusammenlebens.

Außerdem hatten viele Schutzsuchende trotz aller Erschwernisse soziale Bindungen in Deutschland aufgebaut, die sie nun angesichts einer ungewissen Zukunft in Bosnien-Herzegowina nicht aufgeben wollten. Eine Studie stellte aufgrund von Interviews mit Schutzsuchenden beispielsweise fest: "Sie leiden unter der Angst, ins Bodenlose einer Existenz in Armut und Abhängigkeit abzugleiten und den eigenen Kindern keine Zukunft eröffnen zu können." Zu der geringen Rückkehrneigung trug auch bei, dass, anders als der Vertrag von Dayton festschrieb, nur wenige Schutzsuchende in ihre Herkunftsorte zurückzukehren konnten. So ermittelte der UNHCR, dass von den bis zum 31. November 1999 aus anderen Staaten zurückgekehrten ca. 347.000 Schutzsuchenden nur rund 17.000 die Orte wieder aufsuchen konnten, die sie in der Vorkriegszeit bewohnt hatten. Das waren fünf Prozent.

Tabelle 2 dokumentiert die Zahl der Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina in verschiedenen Ländern der Europäischen Union Anfang 1997. Sie macht deutlich, dass ausschließlich Deutschland die Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina massiv forcierte. 95 Prozent aller Menschen, die im Laufe des Jahres 1997 nach Bosnien-Herzegowina zurückkehrten, kamen aus der Bundesrepublik. Zwar nahm in den beiden folgenden Jahren der Anteil der aus anderen Ländern zurückgekehrten Schutzsuchenden zu. Von den bis Jahresende 1999 nach Bosnien-Herzegowina zurückgekehrten Schutzsuchenden hatten aber immer noch über 80 Prozent zuvor in Deutschland gelebt.

Tabelle 2: Schutzsuchende aus Bosnien-Herzegowina in den EU-Ländern 1997

LandGeschätzte Zahl der Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina, Anfang 1997Zurückkehrende nach Bosnien-Herzegowina bis Ende 1997Zahl der Schutzsuchenden pro 1.000 Einwohner, 1996
Österreich88.6091.60111,0
Belgien6.0001043,5
Dänemark21.45888612,4
Finnland1.35092,2
Frankreich15.0001802,5
Deutschland342.50070.00015,4
Griechenland4.00030,5
Irland886870,0
Italien8.8274941,1
Luxemburg1.81601,6
Niederlande25.0001186,4
Portugalk.A.70,0
Spanien1.900160,1
Schweden60.67128521,6
Großbritannien6.0004601,7
Gesamt584.01774.250

Quelle: Tabellenanhang, in: Joanne van Selm (Hg.), Kosovo's Refugees in the European Union, London/New York 2000, S. 229.

Ein kleinerer Teil der Schutzsuchenden wurde abgeschoben. Ein größerer Teil sah sich aufgrund des fehlenden Aufenthaltsstatus und der unmittelbaren Bedrohung durch eine Abschiebung genötigt, 'freiwillig' auszureisen. Viele hatten Verwaltungsgerichte angerufen, um diesen Schritt verhindern zu können. Der Rechtsweg bot aber selten Bleibeperspektiven. Auch Proteste aus der Zivilgesellschaft zeitigten keinen Erfolg.

Bis Ende des Jahres 2002 nahmen über 200.000 Schutzsuchende in Deutschland Leistungen aus den Remigrationsprogrammen in Anspruch. Diese wurden im Auftrag von Bund und Ländern von der Interner Link: Internationalen Organisation für Migration (IOM) durchgeführt. Die Programme gewährten vor allem Reisekosten und eine Starthilfe nach der Rückkehr. Die Bundesrepublik blieb das einzige EU-Land, das eine Rückkehrpflicht beschloss und sie durchsetzte. Tabelle 3 dokumentiert den Rückgang der Zahl der Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina 1996–2000. Von den 37.000 Menschen, die sich im Mai 2000 noch in der Bundesrepublik aufhielten, verfügte niemand über ein Bleiberecht. Zu diesem Zeitpunkt hatte die USA 140.000 Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina einen Daueraufenthaltstitel gewährt, Österreich 66.000, Schweden 53.000, Kanada 35.000, Dänemark 27.000 und die Niederlande 24.000.

Tabelle 3: Zahl der Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina in Deutschland 1996–2000

JahrAnzahl
1996345.000
1997245.000
1998100.000
199950.000
200030.000

Quelle: Annegret Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und die Europäische Integration. Eine Analyse ausgewählter Politikfelder, Wiesbaden 2004, S. 83. Die Angaben beruhen auf Daten des Bundesinnenministeriums und beziehen sich jeweils auf den 31. Dezember des genannten Jahres.

Eine Veränderung trat erst Ende 2000/Anfang 2001 ein. Die immer lauter werdende Kritik an der Remigrationspolitik führte schließlich dazu, dass die Innenministerien von Bund und Ländern Bleiberegelungen beschlossen – wenngleich mit sehr engen Grenzen: Sie galten erstens für schwer Traumatisierte sowie ihre engeren Familienangehörigen, zweitens für Menschen über 65 Jahre, die Angehörige mit Daueraufenthaltsrecht in Deutschland haben mussten und bei denen sichergestellt war, dass sie zukünftig keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen würden. Hinzu kamen drittens auf dem deutschen Arbeitsmarkt benötigte Arbeitskräfte, sofern sie seit mehr als zwei Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, sowie ihre Familienangehörigen. Die Regelungen wurden in Kraft gesetzt, als sich noch etwa 20.000 Schutzsuchende aus Bosnien-Herzegowina in der Bundesrepublik aufgehalten haben sollen. Wie viele von ihnen schließlich in Deutschland bleiben konnten, ist nicht bekannt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Artikel 16, Absatz 2, Satz 2.

  2. Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU. Vom 28. August 2013, Bundesgesetzblatt, 2013, I, S. 3474.

  3. Pascal Goeke, Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in Europa seit 1991, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 578–585, hier S. 578–580; Erich Rathfelder, Das Jahr der Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina, in: Franz-Josef Hutter/Anja Mihr/Carsten Tessmer (Hg.), Menschen auf der Flucht, Opladen 1999, S. 185–194, hier S. 185.

  4. Marie-Janie Calic, Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region, Bonn 2017, S. 571f.

  5. Philipp-Asmus Riecken, Die Duldung als Verfassungsproblem. Unrechtmäßiger, nicht sanktionierter Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2006, S. 209f.

  6. Philipp Wittmann, Vom migrationspolitischen Mindeststandard zum "Bleiberecht im Duldungsgewand" – Entwicklungslinien der deutschen Migrations- und Integrationsgesetzgebung im Bereich der Duldung, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 40. 2020, S. 183–191, hier S. 185.

  7. Riecken, Die Duldung als Verfassungsproblem, S. 213f.

  8. Harald W. Lederer, Migration und Integration in Zahlen. Ein Handbuch, Bonn 1997, S. 309.

  9. Peter Kühne/Harald Rüßler, Die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Deutschland, Frankfurt a.M. 2000, S. 585.

  10. Ebd.

  11. Ebd., S. 99, 586, 588.

  12. Ebd., S. 602.

  13. Andreas Deimann, Die Duldung der Duldung. Ein empirischer Beitrag zur Rekonstruktion unerwünschter Migration und Integration, Bonn 2012, S. 39–40.

  14. Nada Bodiroga-Vukobrat, Bosnische Flüchtlinge in Deutschland – Auflagen, Alltag und Rückkehr, in: Hutter/Mihr/Tessmer (Hg.), Menschen auf der Flucht, S. 247–255, hier S. 249.

  15. Khalid Koser, Germany: Protection for Refugees or Protection from Refugees?, in: Joanne van Selm (Hg.), Kosovo’s Refugees in the European Union, London/New York 2000, S. 24–42.

  16. Annegret Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und die Europäische Integration. Eine Analyse ausgewählter Politikfelder, Wiesbaden 2004, S. 83.

  17. Rathfelder, Das Jahr der Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina, S. 187f.; Vera Cinzia Volckens, Die Aufnahme und Rückführung von Bürgerkriegsflüchtlingen anhand des Beispiels der Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, Berlin 2005, S. 73–78.

  18. Kühne/Rüßler, Die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Deutschland, S. 602.

  19. Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, S. 79f.

  20. Ebd.

  21. Kühne/Rüßler, Die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Deutschland, S. 141.

  22. Riecken, Die Duldung als Verfassungsproblem, S. 214f.

  23. Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, S. 80.

  24. Volckens, Die Aufnahme und Rückführung von Bürgerkriegsflüchtlingen, S. 77f.

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Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Professor für Neueste Geschichte und Migrationsgeschichte sowie Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.