Große Ballungszentren in den alten Bundesländern weisen nach Angaben der Bundesregierung
Sozialisation in der Einwanderungsgesellschaft
Aus sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ist hinlänglich bekannt, dass unabhängig von kultureller und sozialer Herkunft die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen durch vier zentrale Sozialisationsinstanzen geprägt wird: Familie, Schule, Peergroup und Massenmedien. Diese vier Bezugspunkte stellen Jugendliche mit
Wie unter anderem in PISA-Studien nachgewiesen werden konnte, ist das deutsche Schulsystem kaum in der Lage, soziale Unterschiede auszugleichen. Arbeiterkinder haben es deutlich schwerer als Kinder aus Akademikerfamilien, das Bildungssystem erfolgreich zu durchlaufen und den sozialen Aufstieg zu schaffen. So bestimmt die soziale Herkunft in Deutschland in stärkerem Maß über den Bildungserfolg als in vielen anderen Ländern. Das trifft insbesondere die Nachfolgegenerationen der in den
Eingewanderte, insbesondere der ersten Generation, erwarten von ihren Kindern häufig sowohl Loyalität gegenüber den traditionellen Werten der Herkunftskultur als auch Erfolg in der Schule und später im Arbeitsleben in Deutschland. Dabei können die Eltern den Kindern auf ihrem Bildungsweg aber häufig kaum Hilfestellungen geben – entweder aufgrund ihrer eigenen geringen schulischen Bildung, sprachlichen Schwierigkeiten oder schlicht, weil sie es teilweise aus ihren Herkunftsländern so kennen, dass die Erziehungs- und Bildungsverantwortung vollständig an die Schule abgegeben wird.
In konservativ-traditionellen muslimischen Familien spielen Erziehungsziele wie Respekt vor Autoritäten und Ehrenhaftigkeit spätestens während der Adoleszenz (also der Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter) eine besondere Rolle, insbesondere zwischen den Kindern und dem Vater. Offene Wutausbrüche werden meist weder gegenüber Vätern noch gegenüber anderen Autoritätspersonen, wie z. B. Lehrerinnen und Lehrern, toleriert. In konservativen muslimischen Familien werden die Jugendlichen oft nicht dazu ermutigt selbstbewusst und selbstständig zu sein, vielmehr wird Loyalität und Gehorsam gegenüber den Erziehungsberechtigten gefordert. Dies beinhaltet, dass Kinder und Jugendliche das tun müssen, was Eltern und andere Autoritätspersonen von ihnen verlangen – und zwar ohne Widerrede. Gehorsam wird dabei auch über die Körpersprache signalisiert, indem etwa direkter Blickkontakt vermieden wird. Ein direkter Blickkontakt bedeutet "auf gleicher Augenhöhe" zu sein und wird von den Eltern als Aufsässigkeit und Herausforderung interpretiert.
Wo aber der Blickkontakt nicht als wünschenswert gilt bzw. gefördert wird, führt dies bei Lehrkräften im Umgang mit muslimischen Schülerinnen und Schülern häufig zu Missverständnissen, da ein nach unten gesenkter Blick als Desinteresse aufgefasst wird und nicht als Zeichen des Respekts und der Akzeptanz der Autorität der Lehrkraft.
Insbesondere für junge Männer ergeben sich aus den unterschiedlichen Erwartungen und Werten von Schule und Elternhaus Konflikte, sich gleichermaßen an schulische und familiäre Lebenswelt anzupassen bzw. diese miteinander in Einklang zu bringen. Dieses Problem verschärft sich für in benachteiligten Milieus aufwachsende, konservativ erzogene muslimische Jugendliche bzw. solche, die einen starken Rückbezug zu ihrem Herkunftsland bzw. dem ihrer Eltern vorgelebt bekommen, zusätzlich, denn sie entsprechen weder in Bezug auf ihre soziale noch kulturelle Herkunft dem deutschen Mittelschichtskind, an dem sich das Bildungssystem orientiert. Für sie bestehen keine "vorgeprägten Laufbahnen", an denen sie sich in Schule und Arbeitsmarkt orientieren könnten. Sie fühlen sich häufig weder als Deutsche noch als Türken, Araber oder Kurden. Die widersprüchlichen Erwartungen und Anforderungen, die an sie in Familie und im Erziehungs- und Bildungssystem gestellt werden, können dazu beitragen, dass sie sich in gewisser Hinsicht sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von der eigenen Familie und Herkunftsgruppe distanzieren. Sie suchen nach Orientierungspunkten, die Sicherheit bieten und Identität ermöglichen. Diese finden sie oft in der Peergroup, also unter Gleichaltrigen mit ähnlicher sozialer und kultureller Herkunft. Vor dem Hintergrund der Herausbildung der Hauptschule als "Restschule" – eine Entwicklung, die nicht zuletzt die PISA-Ergebnisse unbeabsichtigt zugespitzt haben
Männlichkeit: Ehre, Virilität und Stärke
Misserfolgserfahrungen in der Schule und fehlende Aussichten auf beruflichen Erfolg tragen dazu bei, dass sich viele männliche Jugendliche aus benachteiligten Milieus, unabhängig von ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft, nicht (mehr) über eine erfolgreiche Schul- und Berufsausbildung definieren. Stattdessen legen sie Wert darauf, einem Männerbild zu entsprechen, das Stärke betont und mit Schwäche und Unsicherheit nicht vereinbar ist.
Bereits im Kindesalter ermutigen und fördern viele traditionelle Eltern Jungen zum Ringen und Raufen, während dies bei Mädchen kategorisch abgelehnt wird. Wenn sich die Jungen beim Spielen verletzen und weinend zur Mutter gehen, wird dem nicht empathisch begegnet; und unter Umständen wird dieses Verhalten gar bestraft, da das Weinen der weiblichen Rolle zugeschrieben und als Ausdruck von Schwäche gesehen wird. Darüber hinaus bringen viele konservativ erzogene muslimische Jugendliche in Interviews die Überzeugung zum Ausdruck, dass Schläge zum Erziehungsauftrag der Eltern gehören, damit aus dem Jungen "ein richtiger Mann" wird.
Im Gegensatz zu Mädchen treten muslimische Jungen häufig sehr dominant und selbstbewusst auf. Sie werden zu diesem Verhalten erzogen und ermuntert. Ein Junge müsse in der Lage sein zu entscheiden, was für die später zu gründende Familie das "Richtige" und "Vorteilhafte" ist. Dies könne er unter anderem unter Beweis stellen, indem er seine Position selbstbewusst verteidigt und auf Meinungen, die von außen an ihn herangetragen werden, keine Rücksicht nimmt. Einlenken und Kompromissbereitschaft könnten ihm als Schwäche ausgelegt werden; ein solches Verhalten sei eher von Frauen zu erwarten.
Dominanz und selbstbewusstes Auftreten werden jedoch nur in bestimmten Grenzen gefördert, wie die obigen Ausführungen zum Respekt gegenüber Erziehungsberechtigten bereits andeuten. Wenn junge Männer nach Erreichen der Volljährigkeit den Wunsch äußern, das Elternhaus zu verlassen, ohne dass sie geheiratet haben, wird dies von konservativ-muslimischen Eltern in der Regel missbilligt.
In diesem Sinne stehen die Werte und Männlichkeitsvorstellungen, die muslimischen Jungen in traditionell-konservativen Elternhäusern vermittelt werden, im Widerspruch zu Verhaltenserwartungen in der Mehrheitsgesellschaft und damit einer
Konsequenzen für die pädagogische Arbeit
Im Jugend- und jungen Erwachsenenalter müssen Individuen verschiedene Herausforderungen bewältigen: Schulabschluss, Berufs- und Partnerwahl und den Abnabelungsprozess vom Elternhaus. Viele Jugendliche fühlen sich damit überfordert und suchen nach Sicherheit und Orientierung. In der Sozialisation muslimischer Jugendlicher haben gruppen- und sozialorientierte Werte wie Gruppenharmonie und die Anpassung an Gruppenziele einen besonderen Stellenwert, während individuelle Lebensvorstellungen eine untergeordnete Rolle spielen. Die Erziehung ist in der Regel auf kollektive Orientierungen ausgerichtet: Übernahme von Geschlechter- und Familienrollen sowie sozialen Normen oder die Vermittlung von Autoritätsbeziehungen. Aufgrund dieser Prägung suchen muslimische Kinder und Jugendliche häufig Kollektive und weisen eine ausgeprägte Neigung zur Gruppenbildung auf. Wenn sie zudem sowohl im familiären Kontext als auch in der Peergroup die Erfahrung machen, dass Konflikte mit Gewalt gelöst werden, kann dies alternativen Konfliktlösungsstrategien, die auf Konsens oder Meinungsaustausch basieren, fundamental im Wege stehen, weil diese als Ausdruck von Schwäche wahrgenommen werden.
Dann hilft es häufig auch nicht, in der pädagogischen Arbeit mit Appellen und Argumenten gegen Disziplinarprobleme oder Gewalt zu intervenieren. Solche Belehrungen prallen an der Oberfläche ab und werden die tief verankerten Verhaltensnormen nicht tangieren. Der allgemein bekannte (pädagogische) Leitsatz in der Arbeit mit Menschen, nämlich sie dort abzuholen, wo sie stehen, wurde und wird in der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen extrem vernachlässigt. Gerade benachteiligte männliche Jugendliche aus (konservativ-)muslimischen Familien erwarten aufgrund ihrer Erziehung und Sozialisation Konfrontation und Entschiedenheit. Der pädagogische Mainstream setzt aber die erzieherische "Vorleistung" einer deutschen Mittelschichtfamilie voraus, in der statt auf Autorität, Kollektivität und Unterordnung heute weitgehend auf Verständigung, Individualität und Selbstbestimmtheit gesetzt wird. Diese Werte sind wichtig, um sich in einer offenen Gesellschaft platzieren und zurechtfinden zu können. Sie stellen sich aber nicht von selbst ein, sondern müssen gelehrt, vorgelebt und selbst erfahren werden. Die Erziehung und das Verhalten der Eltern sind also zentrale Faktoren, die für Erfolg oder Misserfolg von Integration ausschlaggebend sind.
Wer verhaltensauffällige Jugendliche migrationssensibel, also unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Lebensumstände und besonderen Ressourcen, fördern will, damit sie ihr Leben und ihre Zukunft im Sinne einer liberalen Gesellschaft gestalten können, kommt nicht umhin, sich mit den widersprüchlichen Erwartungen von Bildungssystem und familiärer Lebenswelt auseinanderzusetzen und eine Brücke zu schlagen zwischen den migrationsspezifischen Rahmenbedingungen und den Zielen der Institutionen.