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Irreguläre Migration: Erkenntnisse über das Phänomen | bpb.de

Irreguläre Migration: Erkenntnisse über das Phänomen

Dr. Dita Vogel Dr. Norbert Cyrus Dita Vogel und Norbert Cyrus

/ 5 Minuten zu lesen

Der Forschungsstand über irreguläre Migration hat sich in den letzten Jahren vor allem durch eine Vielzahl kleinerer Studien verbessert, weist aber noch immer erhebliche Lücken auf. Aus dem aktuellen Stand der Forschung lassen sich folgende Eckdaten über diese Form der Migration zusammenfassen.

Ein Boot voller geretteter Flüchtlinge vor Tripolis, Libyen. Mehrere Boote mit afrikanischen Flüchtlingen kenterten im März 2009 auf dem Weg nach Europa von Tripolis. Libysche Rettungskräfte bargen 100 Leichen. (© picture-alliance/dpa)

Wege in die und aus der Illegalität

Illegaler Aufenthalt kann auf verschiedene Arten entstehen und enden. Die illegale Einreise – zum Beispiel auf dem Seeweg auf die Kanarischen Inseln oder auf dem Landweg von der Ukraine in die Slowakische Republik – ist nur eine Möglichkeit, wie es zu einem illegalen Aufenthalt in der Europäischen Union kommt. Vermutlich häufiger folgt er auf eine legale Einreise, wenn zum Beispiel jemand nach Ablauf eines Touristenvisums ohne Aufenthaltserlaubnis im Land bleibt. In Italien gibt es Hinweise darauf, dass 75 % der irregulären Migranten regulär eingereist sind, 15 % illegal über Landgrenzen und 10 % über Seegrenzen . Es können sich verschiedene Kombinationen von illegaler und legaler Einreise, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit ergeben. Dabei sind auch mehrfache Übergänge zwischen Legalität und Illegalität möglich: Zum Beispiel könnte jemand illegal einreisen, einen legalen Aufenthaltsstatus durch das Stellen eines Asylantrags erlangen, während des legalen Aufenthaltes illegal eine Beschäftigung aufnehmen und nach Ablehnung des Antrags ohne gültige Aufenthaltserlaubnis im Lande bleiben. Ob und wie irreguläre Zuwanderer Wege in die Legalität durch eine individuelle Legalisierung, z. B. über eine Heirat oder Härtefallregelung, oder über ein kollektives Regularisierungsprogramm finden, ist stark länder- und zeitabhängig .

Dauer des Aufenthalts

Bei irregulärer Migration sind sowohl zeitlich befristete und zirkuläre Muster als auch eine Niederlassung auf unbestimmte Zeit vorzufinden. Tendenziell führen strengere Grenzkontrollen zu einer Verlängerung der Aufenthaltsdauer, weil Rückkehr und Pendeln riskant werden . In der Wissenschaft werden derartige Phänomene auch als "Sperrklinkeneffekt" bezeichnet.

Umfang

Irreguläre Migranten vermeiden nach Möglichkeit den Kontakt mit staatlichen Stellen, da ihnen Abschiebung, Inhaftierung und oft auch Geldbußen oder Strafen drohen. Daher können sie statistisch kaum erfasst werden. Der Umfang irregulärer Migration kann somit nur geschätzt werden. Schätzungen zur Zahl der irregulären Migranten in Europa sind bisher weder klar nachzuvollziehen noch zuverlässig, wobei es Anstrengungen gibt, zumindest mehr Transparenz zu schaffen . So ist die Summierung von Schätzungen unterschiedlicher Qualität zu Gesamtzahlen von 4 bis 7 Millionen für die EU allenfalls ein grober Indikator für die Größenordnung des Phänomens. Zu den Staaten mit den höchsten absoluten Aufenthaltszahlen werden Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland, Polen und das Vereinigte Königreich gezählt. Für Deutschland schwanken die genannten Zahlen zwischen 100.000 und eine Million Personen .

Trend

Auch wenn der Umfang nicht genau geschätzt werden kann, so können zumindest verschiedene Indikatoren zur Analyse von Trends herangezogen werden. Aufgrund solcher Analysen wird weltweit üblicherweise seit Ende der 1980er Jahre von einem starken Anstieg der irregulären Migration ausgegangen, wobei es durchaus auch Gebiete mit aktuell rückläufigen Trendeinschätzungen gibt. Zu diesen Gebieten zählt Deutschland. Das deutsche Bundesinnenministerium kommt nach einer Begutachtung verfügbarer Informationen und Indikatoren zu dem Ergebnis, dass seit dem Jahr 1998 "sowohl die Zuwanderung von Illegalen als auch der Bestand an Illegalen zurückgegangen sein dürfte" . Auf EU-Ebene ist die Entwicklung stark durch den Beitritt von zwölf neuen Staaten zur EU seit 2004 beeinflusst, wodurch sich aufenthaltsrechtliche Illegalität einerseits verringert hat – da ein Großteil der irregulären Migration in den EU-15-Ländern aus den Beitrittsstaaten stammte –, andererseits von den alten in die neuen EU-Staaten verlagert haben dürfte.

Herkunft und Motive

Irreguläre Migranten kommen häufig aus nahe gelegenen Staaten mit deutlich niedrigerem Einkommensniveau, aus Staaten mit etablierten historischen oder aktuellen Beziehungen zum Aufnahmestaat sowie Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen oder schlechte ökonomische Zustände Menschen zur Auswanderung veranlassen . Bei irregulären Zuwanderern finden sich die gleichen Zuwanderungsmotive wie unter regulären: Erwerbs- und Bildungsmöglichkeiten, Liebe, Familienverbindungen, Reiselust, und auch die Suche nach Schutz auf der Flucht oder die Angst vor der Rückkehr in ein (ehemaliges) Kriegs- oder Katastrophengebiet, wobei dem Erwerbsmotiv die größte Bedeutung zugeschrieben wird. Typischerweise sind junge Erwachsene überproportional unter irregulären Migranten vertreten.

Soziale Lage

Viele irreguläre Migranten haben eine ausgesprochen unternehmerische Einstellung. Sie können ihren Lebensunterhalt in Märkten selbstständig erwirtschaften und überbrücken materielle Notlagen mit Hilfe von Verwandten, Freunden, Bekannten oder auch Arbeitgebern. Diese Menschen bilden ihr Netzwerk. Die Möglichkeiten zur Aktivierung solcher Netzwerke werden in der Wissenschaft auch als Sozialkapital bezeichnet. In der Anfangsphase haben irreguläre Migranten oft noch keine Netzwerke, sondern nur wenige Kontaktpersonen, und sind von diesen abhängig. Das macht sie verletzlich gegenüber Fehlinformationen, Betrug oder Gewalt. Auch bei längerem Aufenthalt können selbst umfangreiche persönliche Netzwerke an Grenzen kommen, wenn es um erhebliche Probleme geht, z. B. bei Unfällen und gravierenden Gesundheitsproblemen .

Kriminalität

In Deutschland ist der illegale Aufenthalt eine Straftat und damit rechtlich gesehen "kriminell", in anderen Ländern wie z. B. in den Niederlanden nicht. Wenn der Zusammenhang von Illegalität und Kriminalität thematisiert wird, sind aber in der Regel nur solche Straftaten gemeint, die auch die eigenen Bürger begehen können, z. B. Raub, Körperverletzung oder Diebstahl. Während viele Studien Hinweise darauf liefern, dass die meisten irregulären Migranten sich von Kriminalität in diesem Sinne fernhalten, um ihr Aufdeckungsrisiko zu mindern , beobachtet eine neuere Studie bei irregulären Migranten in den Niederlanden einen Anstieg der Kriminalität, der mit einer zunehmenden Einschränkung von Arbeitsmöglichkeiten als Folge schärferer Gesetze erklärt wird . Irreguläre Migranten kommen aber nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer von Kriminalität in Frage, insbesondere als Opfer im Zusammenhang mit Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und der Ausbeutung in Arbeitsverhältnissen .

Beschäftigung

Für Europa ist heute davon auszugehen, dass irreguläre Zuwanderer weitgehend auf informelle Märkte verwiesen sind , was aber keineswegs immer so war und auch nicht überall auf der Welt so ist. So wird zum Beispiel geschätzt, dass in den USA die Mehrheit der irregulären Migranten mit gefälschten oder geliehenen Papieren regulär angemeldete Jobs ausüben . Diese Arbeitsplätze befinden sich oft im Dienstleistungsbereich und sind durch drei Merkmale gekennzeichnet, die typischerweise kombiniert auftreten : geringe Attraktivität für einheimische Arbeitskräfte, Ortsgebundenheit und schlechte Kontrollierbarkeit. Die hauptsächlich betroffenen Sektoren sind – mit unterschiedlichen Schwerpunkten je nach Ländern und Regionen – Landwirtschaft, Bauwirtschaft, Dienstleistungen in Privathaushalten, Hotel- und Gaststättengewerbe. Während Menschen ohne Aufenthaltsrecht ihre Arbeitskraft sektorübergreifend anbieten, werden die Beschäftigungsmöglichkeiten durch die Nachfrage der Arbeitgeber im Inland bestimmt. Über die Beschäftigung sind erwerbstätige Menschen ohne Aufenthaltsrecht typischerweise eng mit der regulären Bevölkerung und Wirtschaft verwoben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. European Migration Network (2005): 17.

  2. Siehe Bruycker (2000).

  3. Siehe Massey (2002).

  4. Das Projekt Clandestino strebt eine Klassifizierung von Schätzungen nach ihrer Qualität sowie eine Verbesserung von Schätzmethoden an. Mehr Informationen auf der Website: Externer Link: http://www.hwwi.org/Irregular_Migration.2409.0.html?&L=0.

  5. Siehe Düvell (2006): 16 mit einer Übersicht, sowie Sinn u. a. (2005): 59 für Deutschland.

  6. Siehe BMI (2007): 18

  7. Siehe Cyrus (2004a).

  8. Siehe Cyrus und Vogel (2006).

  9. Siehe van der Leun (2000).)

  10. Siehe Broeders und Engbersen (2007).).

  11. Siehe Cyrus (2005).15.Siehe LeVoy et al. (2005).

  12. Siehe LeVoy et al. (2005).

  13. Siehe Papademetriou et al. (2004).

  14. Siehe Leerkes, Engbersen et al. (2007): 15.

Dr. Dita Vogel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am HWWI und Leiterin des EU-Projektes CLANDESTINO (Erarbeitung systematischer Verfahren zur quantitativen Schätzung irregulärer Migration in der EU).

Dr. Norbert Cyrus, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg und Leiter des EU-Projektes WinAct (Winning Immigrants as Active Members).