Das Krankheitsspektrum der Menschen mit Migrationshintergrund ähnelt in Deutschland weitgehend dem der nicht migrierten Mehrheitsbevölkerung (mit Ausnahme einiger seltener erblicher Stoffwechselerkrankungen bei Migranten). Bestimmte Gesundheitsrisiken treten bei Migranten aber häufiger auf oder führen zu stärker ausgeprägten Krankheitsbildern.
Ausgewählte empirische Ergebnisse zum Gesundheitszustand von Migranten
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Daraus ergibt sich für viele Erkrankungen eine andere Häufigkeitsverteilung als in der nicht migrierten Mehrheitsbevölkerung. Ein aktueller Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes gibt hierzu differenzierte Informationen
Aus dem Gesundheitsbericht wird einerseits eine ausgeprägte gesundheitliche Heterogenität der Menschen mit Migrationshintergrund deutlich; andererseits finden sich Ergebnisse hinsichtlich des Gesundheitsstatus, die zunächst nicht leicht erklärlich sind. Im nachfolgenden Abschnitt diskutieren wir mögliche Erklärungsmodelle, welche die Interpretation der empirischen Befunde unterstützen.
Infektionskrankheiten
Viele Migranten kommen aus ärmeren Herkunftsländern oder einer ungünstigen sozioökonomischen Lage in ihrem Herkunftsland. Sie können daher im Vergleich zur Bevölkerung des Ziellandes der Migration eine erhöhte Krankheitshäufigkeit (Prävalenz) von im Herkunftsland häufigen Infektionskrankheiten aufweisen. Zum Zeitpunkt der Zuwanderung spiegeln übertragbare Erkrankungen bei Migranten daher die epidemiologische Situation im Herkunftsland wider. So haben beispielsweise Zuwanderer aus sogenannten Hochprävalenzländern, vornehmlich afrikanischen Ländern südlich der Sahara, eine höhere HIV-Prävalenz als die Mehrheitsbevölkerung in Deutschland
Müttersterblichkeit
Unter Müttersterblichkeit versteht man Todesfälle im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Zur Berechnung der Müttersterblichkeit werden die mütterlichen Todesfälle in Bezug gesetzt zu jeweils 100.000 Lebendgeborenen. Da mütterliche Todesfälle weitestgehend vermeidbar sind, ist die Müttersterblichkeit ein empfindlicher Indikator für Ungleichheiten hinsichtlich des Zugangs zu und der Nutzung von Gesundheitsdiensten. Die Müttersterblichkeit unter ausländischen Frauen lag bis Mitte der 1990er-Jahre rund 1,5-mal so hoch wie unter deutschen Frauen. Seitdem haben sich die – insgesamt rückläufigen – Werte angeglichen
Kindergesundheit
Die Gesundheit von Kindern wird insbesondere determiniert durch die Lebensweise der Familie, durch ihren sozioökonomischen Status sowie teilweise durch genetische Faktoren. Aus einer unterschiedlichen Ausprägung dieser Determinanten zwischen Bevölkerungsgruppen resultieren jeweils unterschiedliche Häufigkeiten bestimmter Erkrankungen und Risikofaktoren. Der Zugang zu und die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und präventiven Angeboten kann ebenfalls eine große Rolle spielen.
So sind beispielsweise laut den Ergebnissen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) die Durchimpfungsraten gegen Diphtherie und Tetanus bei Kindern mit Migrationshintergrund im Alter von 11-17 Jahren geringer als bei Kindern ohne Migrationshintergrund
Ein Aufwachsen unter hygienisch weniger günstigen Bedingungen kann mit einer geringeren Prävalenz von allergischen Erkrankungen verbunden sein. Tatsächlich sind Kinder mit Migrationshintergrund im Alter unter 18 Jahren weniger stark von Allergien betroffen als Kinder ohne Migrationshintergrund (27,4 % vs. 40,4 %)
Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Die Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere der koronaren Herzkrankheit und des Herzinfarkts, wird durch die Prävalenz von Risikofaktoren wie Übergewicht und Rauchen bestimmt; diese wiederum werden bei Migranten durch Gebräuche im Herkunftsland, Adaptionsprozesse im Zuzugsland sowie durch psychosoziale Belastungen beeinflusst. Entsprechende Unterschiede finden sich in den verfügbaren empirischen Daten. So unterscheidet sich zwar der durchschnittliche Body-Mass-Index (BMI) ausländischer Frauen (24,5 kg/m2) nur geringfügig von dem deutscher Frauen (24,8 kg/m2). Jedoch ist ein deutlich höherer Anteil ausländischer als deutscher Frauen im Alter von 65 Jahren und älter fettleibig (BMI>= 30 kg/m2; 28,1% vs. 17,6 % im Jahr 2005)
Die teilweise höheren Risikofaktor-Prävalenzen unter Migranten lassen eine höhere Inzidenz von Herzinfarkten erwarten; dies lässt sich jedoch empirisch bislang nicht zeigen. Mögliche Erklärungen sind protektive Faktoren (z. B. in der Ernährung), vergleichsweise geringere Mengen an über die Lebenszeit konsumierten Zigaretten sowie Verzerrungen in den Daten.
Krebserkrankungen
Die Häufigkeit vieler Krebserkrankungen hängt zumindest teilweise von Ernährung, Rauchverhalten und anderen Lebensstilfaktoren ab, bei Gebärmutterhalskrebs zusätzlich von der Häufigkeit der sexuell übertragenen Infektionen mit dem Human-Papilloma-Virus (HPV). Bei Brustkrebs und Gebärmutterhalskrebs spielt auch die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen eine Rolle. Die Krebssterblichkeit wird zudem durch Zugangsmöglichkeiten zu bzw. die Nutzung von Gesundheitsdiensten beeinflusst. Angesichts des multifaktoriellen Ursachenspektrums von Krebserkrankungen sind Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen nicht leicht zu interpretieren.
Deskriptive Studien über türkische Migranten in Deutschland sowie (Spät-)Aussiedler aus der ehemaligen UdSSR zeigen im Vergleich zur deutschen Bevölkerung insgesamt eher niedrigere Krebsrisiken, die mit der Zeit und mit steigender Aufenthaltsdauer in Deutschland ansteigen. Für einzelne Krebsarten wie Magenkrebs sind die Risiken unter den Migranten teilweise erhöht. Dies erklärt sich aus ungünstigeren hygienischen Bedingungen in der Kindheit; sie fördern die Übertragung des "Magenkeims" Helicobacter pylori, der im späteren Leben Magenkrebs hervorrufen kann. Bei Brustkrebs dagegen haben türkische Frauen und Aussiedlerinnen eine niedrigere Inzidenz und Sterblichkeit als deutsche Frauen
Bei Lungenkrebs zeigen sich unter türkischen Staatsangehörigen im Vergleich zu Deutschen niedrigere, aber seit Beobachtungsbeginn in den 1980er-Jahren deutlich ansteigende Sterberaten. Unter den männlichen Aussiedlern ist die Lungenkrebssterblichkeit bereits höher als die der deutschen Allgemeinbevölkerung. Dies steht im Einklang mit der weiter oben angestellten Überlegung, dass nicht nur der Anteil der Raucher in der Bevölkerung eine Rolle spielt, sondern auch die Menge der in der Vergangenheit gerauchten Zigaretten (die wiederum von der wirtschaftlichen Entwicklung des Herkunftslandes abhängt, da dem Raucher durch das Rauchen Kosten entstehen).
Gesundheit am Arbeitsplatz
Indikatoren wie Unfall-, Kranken- und Schwerbehindertenquoten können Hinweise u. a. auf die Arbeitssituation geben. Bei Vergleichen der Unfallhäufigkeit zwischen Migranten und der nicht migrierten Mehrheitsbevölkerung ist beispielsweise zu beachten, dass Migranten häufiger körperliche Arbeiten mit einem erhöhten Unfallrisiko durchführen. Sinnvoller wäre daher ein Vergleich innerhalb von Tätigkeitsgruppen.
Insgesamt sind die Unfallquoten in Deutschland rückläufig. Deutsche und nichtdeutsche Männer weisen ähnliche (und in beiden Gruppen rückläufige) Unfallquoten auf. Arbeitsunfälle, auch solche mit tödlichem Ausgang, sind unter türkischen Staatsangehörigen – vermutlich aufgrund häufiger ausgeübter gefährlicher körperlicher Arbeit und nicht ausreichender Sicherheitsunterweisung – aber rund 1,5-mal so häufig wie unter deutschen Staatsangehörigen
Die Krankenquote ist von den drei Indikatoren am schwierigsten zu interpretieren, da sie nicht nur vom Gesundheitszustand, sondern auch von der Sorge um den eigenen Arbeitsplatz (und damit mittelbar auch von der konjunkturellen Lage) abhängt. Unter ausländischen Männern und Frauen liegt die Krankenquote mit 9,7 % und 10,2 % insgesamt niedriger als unter deutschen Staatsangehörigen (11,6 % und 13,1 %). Eine Ausnahme ist die wirtschaftlich aktive mittlere Altersgruppe 40-64 Jahre, dort liegt sie – teilweise aufgrund häufiger ausgeübter schwerer körperlicher Arbeit auf Baustellen oder "unter Tage" – unter Ausländern höher
Gesundheitszufriedenheit
Die Zufriedenheit mit der eigenen Gesundheit ist zwar ein subjektives Maß; sie bildet den Gesundheitszustand aber recht gut ab. Die Gesundheitszufriedenheit sinkt mit dem Alter. Dieser Rückgang verläuft in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich schnell und gibt damit Hinweise auf Unterschiede in den Gesundheitschancen und gesundheitlichen Belastungen.
Auswertungen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) zeigen, dass unter türkischen Zuwanderern die Abnahme der Gesundheitszufriedenheit mit steigendem Alter stärker ausgeprägt ist als bei Deutschen
Psychische Erkrankungen
Weniger gut dokumentiert und schwer zu quantifizieren sind Erkrankungen durch psychosoziale Belastungen in Zusammenhang mit der Trennung von der Familie oder politischer Verfolgung im Herkunftsland. Personen ohne rechtlich gesicherten Aufenthaltsstatus sind besonders verletzbar und damit anfällig insbesondere für psychische Erkrankungen. Über ihre gesundheitliche Situation liegen aber kaum belastbare Daten vor.
Migrationserfahrung kann nicht pauschal mit psychischen Belastungen gleichgesetzt werden. Jedoch können eine Reihe psychischer Störungen in Verbindung mit Migration auftreten. Dazu zählen Depressionen, psychosomatische Beschwerden, Somatisierung und posttraumatische Belastung
Gründe für ein vermehrtes Auftreten können sein:
Migration als kritisches Lebensereignis, das die bis dahin erworbenen Anpassungsfähigkeiten, Bewältigungs- und Problemlösungsstrategien überlasten kann
Stress durch die risikoreiche Reise in das Zielland, der sich u. a. in Angstzuständen oder depressiven oder dissoziativen Symptomen äußern kann
Stress durch Entwurzelung, Trennung von Familie, Partner und traditionellen Werten
Stress durch den Akkulturationsprozess (Unsicherheiten hinsichtlich der Lebensbedingungen, Wohnverhältnisse, Stigmatisierung etc.)
Stress durch besondere wirtschaftliche und berufliche Belastungen
Stress durch soziale Isolation (demgegenüber stellen daher Familien- und Freundesnetzwerke eine wichtige Ressource zur Bewältigung des Stresses dar)
Stress durch Störungen des Eltern-Kind-Verhältnisses, wenn die Aufrechterhaltung kultureller Traditionen "erzwungen" wird
Die vorhandenen Erkenntnisse legen nahe, dass Migranten kurz nach der Einwanderung besonders gefährdet sind, psychisch zu erkranken. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer und damit zunehmendem Einleben in die neue Lebenssituation nehmen die Belastungen häufig ab.
Sozialstatus und Gesundheit
In den meisten Routinedatensätzen fehlen detaillierte Informationen zum sozioökonomischen Status der registrierten Fälle. Das erschwert es, die Ursachen möglicher gesundheitlicher Benachteiligungen zu analysieren und Strategien zu deren Überwindung aufzuzeigen. Wenn Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt einen schlechteren gesundheitlichen Status aufweisen als die Mehrheitsbevölkerung, dann könnte dem eine Benachteiligung dieser Gruppe zugrunde liegen. Es könnte aber auch sein, dass es sich um die gesundheitlichen Folgen einer im Mittel ungünstigeren sozialen Lage handelt, wie das innerhalb der nicht migrierten deutschen Bevölkerung in ähnlicher Weise zu beobachten ist
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers
Prof. Dr. med. Oliver Razum leitet die AG 3 – Epidemiologie & International Public Health in der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.
Jacob Spallek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.
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