In dieser Hinsicht sind Einwände gegen die doppelte Staatsbürgerschaft oft Ausdruck von Befürchtungen, die mit der Vorstellung einer verstärkten Einbürgerungstendenz verbunden sind. Wie in diesem Abschnitt näher beleuchtet wird, beruhen die diskutierten Bedenken oftmals auf befürchteten Gefahren für die innere Sicherheit des Landes sowie auf angenommenen machtpolitischen Verschiebungen durch eine Veränderung des Wahlvolks. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit diese Bedenken gerechtfertigt sind und ob Argumente gegen eine vermehrte Einbürgerung – sowohl im Allgemeinen als auch im Kontext der doppelten Staatsbürgerschaft – mit demokratischen Grundwerten zu vereinbaren sind. Neben möglichen Risiken für die Gesellschaft müssen vor allem auch die Chancen der Verwandlung von De-facto-Staatsmitgliedern in De-jure-Staatsmitglieder in Betracht gezogen werden.
Innere Sicherheit
Die gegen die Einbürgerung vorgebrachten sicherheitspolitischen Bedenken beziehen sich in erster Linie auf verwirkte Abschiebemöglichkeiten. Dabei ist zutreffend, dass eingebürgerte Menschen nicht mehr ausgewiesen und abgeschoben werden können, wenn sie Straftaten begehen. Den Bedenken lässt sich zumindest teilweise entgegenhalten, dass Ausländer, die strafrechtlich auffällig geworden sind, in der Regel ohnehin nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten
Die Befürchtung, die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft führe zur Einbürgerung von Terroristen
Wandel von Gesellschaft und Politik
Kern vieler Ausschlussbestrebungen sind Bedenken gegen die Stärkung der politischen Macht von Migranten. Oft besteht die Angst, die "einheimische Bevölkerung" könne von einer großen Gruppe Einwanderer dominiert werden, die rein formal Staatsbürgerstatus erworben haben
a) Einbürgerungsquote und doppelte Staatsbürgerschaft
Kritik an der doppelten Staatsbürgerschaft basiert oft auf der angenommenen "Masseneinbürgerung" als Folge ihrer Anerkennung. Es ist schwer vorherzusagen, wie hoch die Einbürgerungsquote allein aufgrund dieses Umstandes tatsächlich steigen würde. Sporadische Untersuchungen hierzu lassen vermuten, dass im Falle der Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft zwar mit einer Steigerung der Einbürgerungen, nicht jedoch mit einer von manchen Kritikern befürchteten "Masseneinbürgerung" zu rechnen wäre
b) Wandel der Politik – politische Resonanzen eines veränderten Wahlvolks
Die Frage, wie die politische Organisation der Neubürger und die Änderungen des politischen Bildes ausfallen würden, lässt sich nicht mit Bestimmtheit beantworten. Eine größere Resonanz der neuen Staatsbürger in der deutschen Politik infolge einer vermehrten Einbürgerung scheint nicht unrealistisch. Dabei erscheint es irreführend, sich die potentiellen Neubürger als homogene Masse vorzustellen, die nunmehr gebündelt ihre Interessen vertreten könnte. Wenngleich Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft die größte einzelne Einwanderergruppe darstellen, machen sie doch lediglich ein Viertel der in Deutschland lebenden Ausländer aus
Ferner wird häufig übersehen, dass neben Ausländern als Personen ohne deutschen Pass weitere acht Millionen Deutsche oder 10% der Wohnbevölkerung einen Migrationshintergrund haben (Abbildung). Fast die Hälfte von ihnen (44%) stellen eingebürgerte Personen dar. 23% gehen auf sogenannte Spätaussiedler zurück
Der demokratische Nutzen der Einbürgerung
Wie erörtert kann die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft zu vermehrter Einbürgerung führen und diese ihrerseits die Möglichkeit zur Abschiebung von Straftätern ausschließen. Daneben könnte es zu einer Machtverschiebung in der Gesellschaft kommen. Wie dargelegt ist jedoch keine der Folgen in extremem Ausmaß zu erwarten. Bedrohungsszenarien einer "Umdefinierung der Gesellschaft" oder von Terroristen, die nicht abgeschoben werden können, entbehren deshalb einer rationalen Grundlage. Die wichtigste Frage besteht darin, in welchem Ausmaß und um welchen Preis ursprüngliche Werte, die in einer Gemeinschaft bestehen, und der Machterhalt derjenigen, die sie innehaben, gegenüber Zuwanderern gesichert werden sollen und können. Dies wiederum führt zum Kern von Migrations-, Integrations- und Demokratiefragen.
Ende 2007 lebten 1,3 Millionen Menschen in Deutschland, die zwar im Land geboren wurden, die aber keinen deutschen Pass besaßen; knapp die Hälfte hiervon war über achtzehn Jahre alt. Ein Fünftel aller Ausländer und ein Drittel aller Menschen mit türkischem Pass sind in Deutschland geboren (Abbildung). Auch leben über 2,5 Millionen Menschen ausländischer Staatsangehörigkeit seit über 20 Jahren in Deutschland, 1,5 Millionen bereits seit über 30 Jahren. Es erscheint deshalb gerechtfertigt, die Migranten in Deutschland zu einem Großteil als Einwanderer im engen Sinne zu bezeichnen, die dauerhaft im Land bleiben werden. Trotz dieser Faktenlage hat das lange vorherrschende Leitmotiv, Deutschland sei kein Einwanderungsland, dazu geführt, dass über einen langen Zeitraum keine fundierte Bestandsaufnahme der Situation von Zuwanderern in Deutschland gemacht und keine darauf aufbauende kohärente Integrationspolitik entwickelt wurde. Dies hat dazu geführt, dass Menschen auch noch in der zweiten und dritten Einwanderergeneration nicht als "Einheimische" angesehen werden
Dabei sind Einbürgerungsdiskussionen von besonderer Bedeutung, denn solange zugezogene Menschen nicht eingebürgert sind, solange keine unlösbare Schicksalsgemeinschaft besteht, lässt sich für manche Menschen die Vorstellung aufrechterhalten, Rückkehrmigration löse eines Tages das Nebeneinander der Kulturen auf deutschem Boden. Diese Exklusionstendenz ist problematisch, weil sie nicht dazu beiträgt, sich mit dem Verhältnis zu den in Deutschland lebenden Menschen ausländischer Herkunft auseinanderzusetzen.
Die Einbürgerung von Langzeiteinwanderern ist eine demokratische Notwendigkeit, denn nur so spiegelt das Wahlvolk die tatsächliche Bevölkerung wider. Andernfalls ist Demokratie defizitär
Die Geschichte ist reich an derartigen Exklusionsbestrebungen und deren Überwindung. Und jede neue Einsicht, die zunächst auf eigene Kosten zu gehen schien, hat zu dem hohen freiheitlichen Status geführt, den viele moderne Gesellschaften bereits erlangt haben. Der Kampf um die Zuerkennung voller Staatsbürgerschaft von Indianern und Afro-Amerikanern in den USA, die Anerkennung des Wahlrechts für Frauen sowie die Achtung der Menschenrechte – all diese Statuswechsel waren stets von großen Vorbehalten derjenigen begleitet, die glaubten, hierdurch Wohlstand, Macht und Einfluss zu verlieren. Nunmehr gilt all dies in modernen Demokratien als unumstößlicher demokratischer Standard. Dabei beruhen die entscheidenden Argumente für eine Inklusion nicht lediglich auf altruistischen Motiven. Vielmehr ist eine inklusive Gesellschaft stärker und verbessert auch die Lebensumstände derjenigen, die anfangs mit scheinbaren oder realen Machtverlusten zu rechnen haben.