Seit 1977 wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) regelmäßig das Externer Link: „Wort des Jahres“. 1991 trat das Externer Link: „Unwort des Jahres“
Wörter des Jahres
1979 findet sich ein erster migrationsbezogener Begriff in der langen Reihe erst-, zweit- und drittplatzierter „Wörter des Jahres“: „Boat people“ erreichte im Kontext der
Ab der Jahrtausendwende nahm die Frequenz migrationsbezogener „Wörter des Jahres“ dann zu: Im Jahr 2000 erreichte die von der damaligen rot-grünen Bundesregierung zur Erleichterung der Arbeitskräftezuwanderung eingeführte „
Bei einer ähnlich starken Präsenz migrationsbezogener Begriffe blieb es in den 2010er Jahren: Die in gesellschaftlichen Debatten als Externer Link: „Armutseinwanderung“ bezeichnete Zuwanderung von EU-Bürger:innen aus Rumänien und Bulgarien erreichte 2013 den dritten Platz. Im Kontext der umfangreichen Fluchtzuwanderung insbesondere aus dem Bürgerkriegsland Syrien
Unwörter des Jahres
Bei den „Unwörtern des Jahres“ ist der Anteil migrations- und diversitätsbezogener Begriffe noch höher. Das zeigt sich allein schon beim Blick auf die Begriffe, die jeweils den ersten Platz belegten: Die frühen 1990er Jahre boten zunächst eine erste Phase der Verdichtung im Hinblick auf die Wahl solcher Worte: Das erste „Unwort“ überhaupt war 1991 „ausländerfrei“, es folgten unmittelbar „
Mitte des ersten Jahrzehnts der 2000er Jahre bis Mitte der 2010er Jahre folgte ein zweiter Schwerpunkt migrationsbezogener Unwörter: 2006 wurde „freiwillige Ausreise“ abgelehnter Asylsuchender gewählt, 2011 traten die „
Einen dritten, deutlich ausgeprägteren Schwerpunkt bildeten die späten 2010er und frühen 2020er Jahre: Unwort des Jahres 2018 war der durch den CSU-Politiker Alexander Dobrindt geprägte Begriff „Anti-Abschiebeindustrie“, der die rechtliche Unterstützung von abgelehnten Asylbewerber:innen delegitimierte. 2020 folgten die von der EU-Kommission als migrationspolitisches Instrument vorgeschlagenen „Rückführungspatenschaften“ – ein beschönigender Begriff für die Übernahme von Verantwortung für
Rückschlüsse
Was aber lässt sich nun aus der Wahl dieser Begriffe und aus ihrer spezifischen Verwendung schließen? Sechs Aspekte seien hervorgehoben:
1) Die Bundesrepublik der vergangenen drei, vier Jahrzehnte kann als Migrationsgesellschaft charakterisiert werden. Zwar kennt jedes Kollektiv Wanderungsbewegungen, weil menschheitsgeschichtlich Migration ein universaler Normalfall ist.
2) Der Blick auf die Liste der (Un-)Wörter des Jahres macht deutlich: Eine Vielzahl von umkämpften Begriffen kennzeichnet das Sprechen und Schreiben über Migration und die auf unterschiedliche Weise bezeichneten und kategorisierten Phänomene und Menschen: „Einwanderung“ oder „Zuwanderung“? „Flüchtling“ oder „Geflüchtete“? „Illegale“ oder „irreguläre Migrant:innen“? „Mobilität“ oder „Migration“? Solche Kategorisierungen und Kategorien verweisen auf Vorstellungen über gesellschaftliche Hierarchien und (Nicht-)Zugehörigkeit, die sich beispielsweise an Erwartungen über Nützlichkeit (Stichwort: Fachkräftemangel) und Hilfsbedürftigkeit (Stichwort: kriegsbedingte Flucht) von Eingewanderten orientieren. Solche Begriffe sind weit mehr als nur eine Anzahl von Schriftzeichen. Denn mit Bedeutungen aufgeladen, beeinflussen sie die Wahrnehmung von Menschen in Bewegung und den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen.
Jede Gesellschaft
3) Wissenschaftlich erweist es sich als ausgesprochen schwierig, die Dynamik und die Funktionen solcher Aushandlungen, ihre Mechanismen und die Entstehung sowie Entwicklung der Deutungskonflikte zu verstehen. Der Blick auf die (Un-)Wörter des Jahres verdeutlicht, dass – wenig überraschend – die Wahl immer dann auf migrationsbezogene Begriffe fiel, wenn die bundesdeutsche Gesellschaft besonders intensiv über Migration stritt: Phasen weit ausgreifender Migrationsdebatten finden sich in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ebenso wie in den frühen 1990er und frühen 2000er Jahren sowie ab Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Warum sich in einer Gesellschaft Debatten über Migration aufheizen, Tendenzen der Öffnung oder der Schließung gegenüber Zuwanderung ergeben oder warum etwa in der EU in der einen Gesellschaft eine Tendenz zur Schließung gegenüber Zuwanderung auszumachen ist, während in anderen – benachbarten – zeitgleich eine Perspektive der Öffnung, ist schwer zu erklären.
Feststellen lässt sich, dass die Wahrnehmung der jeweiligen politischen, sozialen und ökonomischen Situation der eigenen Gesellschaft und insbesondere die gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen in hohem Maße belangvoll für die Einordnung von Zuwanderungen und ihre Aufladung mit Bedeutungen sind: Werden Migrant:innen als wertvolle Ergänzung des Arbeitsmarkts verstanden, weil Fachkräfte fehlen? Oder gelten sie als Konkurrenz in einer Situation, in der Gesellschaften als Ort des Verteilungskampfes um knappe Güter wie Arbeit oder Sozialleistungen eingeordnet werden? Dominiert die Wahrnehmung, dass von Geflüchteten Gefahren für die innere Sicherheit ausgehen? Oder die Perspektive, sie vornehmlich als Opfer von Gewalt zu sehen, denen Hilfe zuteilwerden muss? Werden Zugewanderte als zugehörig verstanden – als Angehörige des gleichen nationalen Kollektivs, der gleichen sozialen Gruppe, einer ähnlichen „Kultur“? Oder werden vor allem Unterschiede und Distanzen betont, weil sie als Menschen gelten, die aus einer für nicht anpassungsbereit erachteten „fremden Kultur“ oder für nicht anpassungsfähig gehaltenen sozialen Schicht kommen?
4) Der Blick auf die (Un-)Wörter des Jahres und die Begründungen für deren Vergabe offenbaren überwiegend Tendenzen der gesellschaftlichen Schließung: negative Konnotationen, Abwehrhaltungen gegenüber Migration, die Markierung als ein unnormales, außergewöhnliches Phänomen, das im Modus des Beseitigens zu bearbeiten ist – diese Schließungstendenzen fallen in Phasen, in denen sich eher negative Zukunftsvorstellungen in der bundesdeutschen Gesellschaft ausgeprägt hatten. Auf Kontexte von (relativer) Öffnung beziehen sich faktisch nur vier Begriffe: „Boat people“ (1979), „Reisefreiheit“ (1989), „Greencard“ (2000) und „Flüchtlinge“ (2015), alle anderen lassen in der Regel recht eindeutige Abwehrhaltungen erkennen: vom „Asylanten“ (1980) über den „Fremdenhass“ (1992) und die „Parallelgesellschaft“ (2004) bis hin zur „Remigration“ (2023).
5) Die (Un-)Wörter des Jahres verweisen allerdings nicht nur auf den Umfang der je spezifischen gesellschaftlichen Aushandlungen um Migration und Diversität sowie Tendenzen der Öffnung oder Schließung von Gesellschaften. Gestritten wird immer auch über das jeweils für korrekt erachtete Schreiben und Sprechen. Das machen Gegenbegriffe zu den (Un-)Wörtern des Jahres deutlich, die zwar nicht den Siegespreis einheimsen konnten – und deren gesellschaftliche Bearbeitung von nicht allzu großer Dringlichkeit schien –, aber in den jeweiligen gesellschaftlichen Diskussionen alles andere als unbedeutend waren: Zum „Asylanten“ der Debatten des Jahres 1980 gehört der Gegenbegriff des „Flüchtlings“.
Welche Begriffe gelten für welche Bewegungen und für welche Phänomene als angemessen? Sollte ein soziales Phänomen wie Migration so bezeichnet werden, dass sich Potentiale oder Probleme herausstellen lassen? Was sagen die Begriffe über die Schärfe der Debatte, über Tendenzen gesellschaftlicher Spannungen und Spaltung? Nie handelt es sich um bloße Buchstabenfolgen, immer geht es um ambivalente Konnotationen, das Aufladen mit Bedeutungen, um das Deuten und Kategorisieren – also um Praktiken, die für die so Bezeichneten Folgen für Mobilitätsoptionen und Lebenschancen mit sich bringen; stets geht es um politische Macht, ringt die Gesellschaft mit sich selbst, werden Gesellschafts- und Zukunftsvorstellungen entworfen und verworfen.
6) Begriffsverschiebungen und Umdeutungen verbinden sich mit veränderten Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Dass die GfdS 2015 den Begriff Externer Link: „Flüchtlinge“ zum „Wort des Jahres“ wählte, galt nicht als Überraschung angesichts der überaus intensiven gesellschaftlichen Debatten um die
Tatsächlich gewann die Rede von den „Geflüchteten“ seit Anfang der 2010er Jahre an Gewicht und konkurriert seither in der öffentlichen Diskussion mit dem Begriff des Flüchtlings. Dessen Bedeutungsverlust und die Karriere von Alternativbenennungen (etwa „Schutzsuchende“) ist noch nicht zureichend erklärt worden, zumal Forschungsergebnisse aus den Sprachwissenschaften deutlich machen, dass nach der Wirkung des Suffix „-ling“ befragte Personen mit ihm keineswegs überwiegend eine negative Konnotation verbinden.
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