Wie umstritten, ja umkämpft Sprache und das Sprechen über sich und andere ist, lässt sich täglich beobachten.
Das gilt in besonderer Weise für das Sprechen über migrationsbezogene Fragen. Der Blick auf die 'Unworte des Jahres' etwa – von 'ausländerfrei' und 'Überfremdung' Anfang der 1990er Jahre bis zu 'Anti-Abschiebe-Industrie', 'Rückführungspatenschaften' und 'Pushback' in den Jahren 2018, 2020 und 2021
Nachzuvollziehen, mit welcher Sprache in Politik und Medien, Wissenschaft und Aktivismus über Migration und über Gruppen mit tatsächlicher oder zugeschriebener Migrationserfahrung gesprochen und gestritten wird, hilft zu verstehen, wie Migration gesellschaftlich bewertet wird. Es hilft, Trennlinien innerhalb der heutigen Migrationsgesellschaft zu ergründen und deren Genese als einen konflikthaften Prozess der Selbstverständigung und der Arbeit von Gesellschaft an sich selbst zu begreifen.
Reflexive Migrationsforschung
Verfolgt man migrationsbezogene Begriffe auf ihrem Weg durch unterschiedliche gesellschaftliche Felder, rückt häufig das Wechselverhältnis von geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung, Politik und Medien in den Blick. Dieses Wechselverhältnis ist in der Migrationsforschung in den letzten Jahren vermehrt zum Gegenstand reger Debatten geworden, in denen die Forschung versucht, sich über ihre gesellschaftliche Rolle zu verständigen.
Auch deshalb beschäftigen sich immer mehr Migrationsforschende mit der Frage, wie sich die politischen Verwobenheiten und materiellen Bedingungen der Migrationsforschung auf die Begriffe, Kategorien und Annahmen auswirken, mit denen sie operieren. Sie richten ihren Blick auf die Diskurse, Technologien, Datenpraktiken, Begriffe und Kategorisierungen, die Migration als 'soziale Tatsache' konstituieren.
Begriffsgeschichte
Migration und Migrant:innen werden nicht allein durch staatliche Grenzen, Formen des Othering
Begriffsgeschichtliche Ansätze setzen sich mit der Herkunft und dem Bedeutungswandel von Begriffen auseinander. Ein Wort wird zum Begriff, so Reinhart Koselleck, Historiker und Mitherausgeber des achtbändigen Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe, "wenn die Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhangs, in dem und für den ein Wort gebraucht wird, insgesamt in das eine Wort eingeht".
Es geht der Begriffsgeschichte also einerseits darum, vergangene Konflikte "im Medium ihrer damaligen begrifflichen Abgrenzung und im Selbstverständnis des vergangenen Sprachgebrauchs" aufzuschlüsseln.
Diskursanalyse
Begriffe in ihrer Geschichtlichkeit zu 'begreifen', dadurch den gesellschaftlichen Raum auszumessen, der in ihren verschiedenen Bedeutungsebenen sichtbar wird, öffnet den Blick dafür, inwiefern Begriffe in einem Sinn- und Deutungshorizont stehen, der das Denken, Sprechen und Schreiben einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt prägt. Für die Auseinandersetzung mit Sprache, Macht und Migration sind deshalb Untersuchungen zur Entstehung und Beschaffenheit gesellschaftlicher Diskurse im Anschluss an den Philosophen Michel Foucault ebenfalls von Bedeutung. Die Diskursanalyse ist eine Beschreibung der Regeln, "die in einer bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft die Grenzen und Formen der Sagbarkeit definieren".
Begriffshistorische und diskursanalytische Verfahren können einander ergänzen, wenn Begriffe beispielsweise als Ausgangspunkt für Diskursanalysen dienen. So zeigt der Historiker Kijan Espahangizi in seiner diskursanalytischen Untersuchung des "Migration-Integration-Komplexes", dass das Aufkommen des Begriffs Migration in den 1980er Jahren in der Schweiz "Ausdruck tektonischer Verschiebungen bzw. eines tiefergehenden Wandels im Umgang mit menschlicher Mobilität im globalen Zusammenhang, und damit verbunden: unserer Wahrnehmung von Gesellschaft" war.
Aktuelle Beispiele
Sprach- und begriffsanalytische Perspektiven mit starker Foucault'scher Prägung sind in der interdisziplinären Migrations- und Rassismusforschung in den letzten Jahren auf fruchtbaren Boden gefallen. Zum einen haben sie populärwissenschaftliche Studien inspiriert, die der Frage nachgehen, wie bestimmte Sprachgebräuche beispielsweise zum Othering migrantisierter Personen beitragen. So beschreibt die Autorin und politische Aktivistin Kübra Gümüşay in Sprache und Sein, wie der Macht, etwas benennen zu können, die Ohnmacht gegenübersteht, benannt und damit gleichzeitig inspiziert und kategorisiert zu werden. Über Fragen der Mehrsprachigkeit und Übersetzung/Übersetzbarkeit, der Sprachlosigkeit und Sprachgewalt – z.B. hinsichtlich der Frage nach Gewalt, die im kolonialen Vermächtnis von Sprache fortwirkt – begibt sich Gümüşay auf die Suche nach neuen Sprachräumen, die ein anderes, ein verständigeres Sprechen über Migrations- und Rassismuserfahrungen ermöglichen sollen.
Zum anderen haben die oben skizzierten begriffs- und diskursanalytischen Ansätze wissenschaftliche Arbeiten hervorgebracht, die explizit auf eine Verschiebung von Diskursen oder auf die Produktion von Gegendiskursen im Bereich Migration zielen. So formulierte das New Keywords Collective im Jahr 2016 das Ziel, den dominanten Diskurs um die sogenannte Flüchtlingskrise in Europa zu 'kapern'.
Das Inventar der Migrationsbegriffe
Das Inventar der Migrationsbegriffe (Externer Link: www.migrationsbegriffe.de) ist ein interdisziplinäres, stetig wachsendes Online-Nachschlagewerk, das sich mit zentralen Begriffen der aktuellen und historischen Debatten über Migration beschäftigt. Es lenkt den Blick darauf, wie migrationsbezogene Begriffe hergestellt worden sind, wie sie zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zirkulieren und wie sich ihre Bedeutungen dabei ändern. Das Inventar gibt damit einen Einblick in gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse und hilft, die Konflikte zu verstehen, die sich am Sprechen über Migration und Gesellschaft immer wieder entzünden – auch, um seine Leser:innen zu motivieren, sich informiert und reflektierend in Diskussionen über Migration einzumischen. 21 Beiträge zu Begriffen wie "Ausländer", "Integration" oder "Willkommenskultur" sowie eine programmatische Einleitung sind zudem als Buch erschienen: Inken Bartels / Isabella Löhr / Christiane Reinecke / Philipp Schäfer / Laura Stielike (Hg.) (2023): Umkämpfte Begriffe der Migration. Ein Inventar. Bielefeld: Transcript.
Fazit
Sprach- und begriffsanalytische Perspektiven haben das Repertoire der Migrationsforschung in den letzten Jahren grundsätzlich erweitert. Sie verstehen die Sprache und mit ihr die Art und Weise wie Menschen über Migration im Alltag, in der medialen Berichterstattung, in politischen Debatten und in der Wissenschaft reden, als konstitutive, gesellschaftliche Wirklichkeit bildende Kraft. Ein sorgsamer, reflektierter Umgang mit Begriffen bietet daher auch die Möglichkeit, die Ausgrenzung und Diskriminierung von migrantisierten Menschen sichtbar zu machen – ebenso wie sie ermächtigende Gegendiskurse initiieren kann. Für die Migrationsforschung als wissenschaftliches Feld ist mit dieser Erkenntnis eine besondere Herausforderung verbunden: Sie kann sich nicht länger auf einen Modus der vermeintlich unbeteiligten Beschreibung und Analyse von migrationsbezogenen Phänomenen zurückziehen. Sie ist vielmehr Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit und somit von den herrschenden Machtverhältnissen, Normalitätsvorstellungen und Sagbarkeitsregeln geprägt, auf die sie ihrerseits einwirkt.