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EU-Türkei-Flüchtlingsvereinbarung: Bestandsaufnahme und menschenrechtliche Bewertung | EU-Migrations- und Asylpolitik | bpb.de

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EU-Türkei-Flüchtlingsvereinbarung: Bestandsaufnahme und menschenrechtliche Bewertung

Hendrik Cremer Anna Suerhoff

/ 8 Minuten zu lesen

2016 trafen die EU-Staats- und Regierungschefs mit der Türkei eine Vereinbarung, um irreguläre Einreisen von Asylsuchenden in die EU zu reduzieren. Welche Regelungen beinhaltet sie und wie werden sie aus der Perspektive der Menschenrechte bewertet?

Rettungswesten liegen aufgestapelt in der Nähe des Strands Eftalou auf der griechischen Insel Lesbos. Im März 2016 vereinbarten die Türkei und die EU-Staaten, irreguläre Migration über das ägäische Meer einzudämmen. (Aufnahmedatum: 8. Juli 2018) (© picture-alliance, NurPhoto | Nicolas Economou)

Infolge der Interner Link: umfangreichen Fluchtzuwanderung in den EU-Raum im Jahr 2015 trafen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der damalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu (AKP) am 18. März 2016 eine Externer Link: Vereinbarung: sie sollte dazu führen, dass weniger Menschen Europa erreichen, um hier Asyl beantragen zu können. Welche Regelungen beinhaltet sie im Einzelnen und was sind die Folgen?

Inhalte der Vereinbarung

Die Vereinbarung sieht insbesondere vor, dass Asylsuchende, die die Türkei als Transitland genutzt haben und auf den griechischen Inseln in der Ägäis erstmals das Territorium der EU betreten, wieder in die Türkei abgeschoben werden sollen. Für jede von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschobene Person aus Syrien soll eine andere schutzberechtigte syrische Person aus der Türkei in der EU neu angesiedelt werden (1:1-Mechanismus). Das EU-Recht und das Völkerrecht werden uneingeschränkt gewahrt, heißt es in der Vereinbarung.

Darüber hinaus haben die Interner Link: EU-Mitgliedstaaten zugesichert, schutzbedürftige Personen aus der Interner Link: Türkei aufzunehmen, sofern die irregulären Grenzübertritte zwischen der Türkei und der EU erheblich und nachhaltig zurückgehen. Des Weiteren sagte die EU bis Ende 2018 sechs Milliarden Euro für konkrete Projekte in den Bereichen der Grundversorgung, Gesundheit und Bildung für Personen zu, die in der Türkei vorübergehenden Schutz genießen. Im Juni 2021 kündigte die EU-Kommission an, für den Zeitraum 2021-2023 weitere drei Milliarden Euro für die Versorgung der Geflüchteten, aber auch für die Stärkung des türkischen Grenzschutzes zur Verfügung zu
stellen.

Die im Rahmen des Abkommens zunächst beabsichtigte Visaliberalisierung für türkische Staatsangehörige und die Intensivierung der EU-Beitrittsverhandlungen wurden später zurückgestellt. Hintergrund ist nicht zuletzt die massive Beschneidung von Grundrechten wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit nach dem Interner Link: gescheiterten Putsch-Versuch in der Türkei im Juli 2016.

Folgen der Vereinbarung

Die EU-Türkei-Vereinbarung erfuhr (und erfährt zum Teil immer noch) große Zustimmung. Ihre Befürworter verweisen insbesondere auf die nach ihrem Abschluss deutlich gesunkene Zahl von Menschen, die von der Türkei aus auf den Interner Link: griechischen Inseln angekommen sind. Kamen Interner Link: 2015 rund 857.000 Schutzsuche über die Ägäis nach Griechenland, sank die Zahl 2016 auf knapp 173.500 und lag 2017 bei weniger als 30.000. 2021 erfasste das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) etwas mehr als 4.000 Ankünfte über den Seeweg.

In der Praxis ist die EU-Türkei-Vereinbarung vor allem von Interner Link: Griechenland umzusetzen. Bevor sie in Kraft trat, wurden Asylsuchende, die auf den griechischen Inseln eintrafen, vorübergehend in als Interner Link: "Hotspots" bezeichneten Aufnahmeeinrichtungen untergebracht und registriert. Die meisten von ihnen stellten keinen Asylantrag in Griechenland, sondern reisten über den Balkan in west- und nordeuropäische Staaten weiter. Dies änderte sich nach Inkrafttreten der Vereinbarung und Grenzschließungen entlang der Balkanroute. Nicht nur haben seither mehr Schutzsuchende in Griechenland Asyl beantragt, darüber hinaus ähneln die "Hotspots" nunmehr Hafteinrichtungen. Die Menschen sind in der Regel gezwungen, für die Dauer ihres Asylverfahrens und, im Fall einer Ablehnung ihres Asylantrags, bis zur Rückführung ins Herkunftsland bzw. in die Türkei in weitgehend geschlossenen Flüchtlingslagern (Closed Controlled Access Center, CCAC) Interner Link: auf den Inseln zu bleiben.

Die Entwicklung weg von Durchgangstationen hin zu Einrichtungen des längerfristigen Aufenthalts führte dazu, dass die Hotspots auf den griechischen Inseln in der Ägäis trotz rückläufiger Ankunftszahlen zwischenzeitlich Interner Link: weit über ihre Kapazitäten ausgelastet waren. Es herrschten katastrophale Zustände, in denen selbst die elementarsten Bedürfnisse der aufgenommenen Menschen wie sauberes Trinkwasser, Hygiene, eine trockene, warme Unterkunft und medizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet werden konnten. 2020 und 2021 sank die Zahl der Schutzsuchende auf den Inseln wieder; viele Menschen wurden auf das griechische Festland umgesiedelt.

Asylanträge von Menschen aus Syrien, die über die Türkei eingereist sind, werden von den griechischen Asylbehörden seit der Vereinbarung überwiegend als unzulässig abgelehnt, da die Türkei als sicher angesehen wird. Eine Prüfung der individuellen Fluchtgründe findet in diesen Fällen nicht statt. Im Juni 2021 hat Griechenland eine Liste mit Herkunftsländern erlassen, für die die Türkei als "sicherer Drittstaat" eingestuft wird. Neben Syrien, umfasst diese auch Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia.

Von März 2016 bis März 2020 gab es insgesamt 2.140 Rückführungen von den griechischen Inseln in die Türkei. Im März 2020 setzte die türkische Regierung die Rücknahme von Schutzsuchenden von den griechischen Inseln mit Verweis auf die COVID-19-Pandemie ganz aus und hat diese Praxis bislang beibehalten (Stand: Oktober 2022). Demgegenüber wurden mit Stand August 2021 seit März 2016 insgesamt 30.773 Geflüchtete aus der Türkei in der EU aufgenommen. Deutschland hat sich für das laufende Jahr 2022 bereit erklärt, bis zu 500 schutzbedürftige Personen monatlich aus der Türkei aufzunehmen.

Sowohl die EU als auch Deutschland halten weiterhin an der Vereinbarung fest.

Die EU-Türkei-Vereinbarung aus Sicht der Menschenrechte

Aus menschenrechtlicher Sicht kann stark bezweifelt werden, dass die Vereinbarung und ihre Umsetzung mit den flüchtlings- und menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten vereinbar ist.

So ist etwa zweifelhaft, ob sich die Interner Link: pauschale Inhaftierung der Schutz suchenden Menschen nach ihrer Ankunft auf den griechischen Inseln mit dem Interner Link: menschenrechtlich verbrieften Recht auf Freiheit vereinbaren lässt. Die Freiheit der Person ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Im Rahmen des internationalen und europäischen Menschenrechtsschutzsystems wird zwar angenommen, dass den Staaten – unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Einzelfall – das Mittel der Inhaftierung zur Durchsetzung einer Ausreisepflicht einzuräumen ist. Auch die Inhaftierung zum Zweck der Einwanderungskontrolle wird nicht als per se unzulässig erachtet; sie kann in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls zulässig sein. Eine pauschale Festsetzung von Asylsuchenden in geschlossenen Lagern wie auf den griechischen Inseln ist jedoch unzulässig. Darüber hinaus verstößt die Inhaftierung Interner Link: unbegleiteter Minderjähriger, die auf sich allein gestellt ohne elterliche Begleitung Schutz suchen, gegen Garantien der Interner Link: UN-Kinderrechtskonvention, die für diese Minderjährigen ein Recht auf den besonderen Schutz und Beistand der Staaten enthält.

Interner Link: Griechenland hat die Türkei als "Interner Link: sicheren Drittstaat" eingestuft. Vor dem Hintergrund der rechtlichen und tatsächlichen Interner Link: Situation in der Türkei gibt es jedoch zahlreiche Anhaltspunkte, dass die Türkei nicht als "sicher" angesehen werden kann. Problematisch an der türkischen Rechtsordnung ist bereits, dass die Interner Link: Genfer Flüchtlingskonvention in der Türkei nur für europäische Flüchtlinge gilt. Insbesondere ist der Schutz der Menschen vor Abschiebungen aus der Türkei in Länder, in denen ihnen Verfolgung und massive Menschenrechtsverstöße drohen können – etwa nach Interner Link: Syrien oder Interner Link: Afghanistan –, nicht ausreichend gesichert. Hinzu kommt, dass die Aufnahmebedingungen in der Türkei für Schutz suchende Menschen aus menschenrechtlicher Sicht gravierende und systematische Defizite aufweisen, etwa beim Zugang für Kinder zur Schule, beim Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Sozialleistungen oder zur Gesundheitsversorgung.

Dass die Türkei seit dem Frühjahr 2020 keine Schutzsuchenden aus Griechenland mehr zurücknimmt (Stand: Oktober 2022), hat dazu geführt, dass viele Menschen auf unbestimmte Zeit in den Aufnahmezentren auf den Inseln oder in Abschiebehafteinrichtungen festsitzen: Sie können einerseits nicht abgeschoben werden, andererseits werden ihre Asylanträge aber auch nicht inhaltlich geprüft. Die EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson hat diese Praxis im Dezember 2021 kritisiert und Griechenland aufgefordert, die Asylanträge zu prüfen.

Pushbacks

Der Rückgang der Ankunftszahlen auf den griechischen Inseln ist unter anderem auch auf systematische sogenannte Interner Link: Pushbacks zurückzuführen, von denen in den vergangenen Jahren zunehmend berichtet wird. Schutzsuchende werden demnach von der griechischen Küstenwache bereits auf dem offenen Meer oder nach der Landung zurück Richtung Türkei gedrängt, ohne einen Asylantrag stellen zu können. Ein solches Vorgehen verstößt gegen das Interner Link: Non-Refoulement-Gebot (Gebot der Nichtzurückweisung) sowie das daraus resultierende Recht auf Zugang zu einem individuellen Asylverfahren und ist europa- und völkerrechtswidrig. Eine Arbeitsgruppe des Europäischen Parlaments hat der Interner Link: Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (kurz: Frontex), die Griechenland bei der Grenzsicherung unterstützt, ein bewusstes Wegschauen Interner Link: vorgeworfen.

Mit Blick auf den Schutz von Menschenrechten sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass die menschenrechtswidrige Interner Link: Situation der Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln und auf dem Mittelmeer beendet wird. Für Abschiebungen in die Türkei sollte sichergestellt werden, dass die Türkei sich an das Interner Link: Non-Refoulement-Gebot hält und allen Schutzsuchenden Zugang zu einem fairen und individuellen Asylverfahren gewährt. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten funktionierende und solidarische Mechanismen zur Aufnahme Schutz suchender Menschen entwickeln, die der gegenwärtigen Situation von kriegerischen Auseinandersetzungen, Verfolgung und Gewalt vor den Toren Europas gerecht werden. Zudem erscheint ein umfassendes, unabhängiges Monitoring von Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen notwendig. Im Interner Link: September 2020 hat die Europäische Kommission einen Entwurf zur Reform des Interner Link: Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) vorgelegt. Eines der Kernelemente der Reformvorschläge sind beschleunigte Asylverfahren in Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen. Damit drohen allerdings eine Ausweitung und Institutionalisierung geschlossener Lager und Interner Link: Grenzasylverfahren nach griechischem Vorbild.

Weitere Inhalte

Dr. jur., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte, Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem das Recht auf Asyl und Rechte in der Migration.

ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte mit den Arbeitsschwerpunkten Flucht, Asyl und Migration