Politische Präferenzen von Menschen mit Migrationshintergrund
Andreas M. Wüst
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Was ist über politische Präferenzen von Menschen mit Migrationshintergrund bekannt? Gibt es gruppenspezifische Präferenzen und wie verändert sich die Wahl politischer Parteien im Zeitverlauf? Ein Überblick.
Menschen mit Migrationshintergrund präferieren eher Parteien links der Mitte, da diese traditionell offener für Einwanderinnen und Einwanderer sowie deren Anliegen waren und sind. Dieses Muster, das sich in vielen Ländern und für die meisten Gruppen von Migrantinnen und Migranten zeigt, bedarf vor allem im deutschen Kontext der Differenzierung. Deutschland ermöglichte Millionen Interner Link: Deutschstämmigen aus ehemaligen Siedlungsgebieten auf der Grundlage von Artikel 116 des Grundgesetzes und des Bundesvertriebenengesetzes als "deutsche Volkszugehörige" die Einwanderung. Bis in die 1980er Jahre kamen Deutschstämmige vor allem aus Polen und Rumänien, mit dem Fall des Interner Link: Eisernen Vorhangs überwiegend aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Diese aus ethnisch-kulturellen und historischen Gründen privilegierten Einwanderinnen und Einwanderer unterscheiden sich im Hinblick auf parteipolitischen Präferenzen von Menschen, die zur Arbeitsaufnahme oder als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind.
Die ersten bundesweit repräsentativen Interner Link: Wahlstudien zu eingebürgerten Einwandererinnen und Einwanderern zeigten Anfang der 2000er Jahre zum einen, dass sich die Parteipräferenz in Summe kaum von derjenigen Deutscher ohne Migrationshintergrund unterschied. Zum anderen ergaben sie, dass Wahlberechtige aus Aussiedlerländern mehrheitlich die Unionsparteien (Interner Link: CDU und Interner Link: CSU) präferierten (Wahlberechtigte aus der ehemaligen Sowjetunion sogar mit über 70 Prozent), während über 60 Prozent der eingebürgerten Türkinnen und Türken die Interner Link: SPD unterstützten. Diese klaren Muster bestätigten sich auch in ersten Analysen langfristiger Parteibindungen. Nachfolgende Analysen politischer Präferenzen von Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund wiesen vergleichsweise niedrige Fallzahlen auf, so dass lediglich Trendaussagen möglich waren.
Repräsentative Ergebnisse für das Wahlverhalten der beiden größten Einwanderergruppen, Russlanddeutsche und Türkeistämmige, gibt es erst wieder mit der Duisburger Studie IMGES für die Bundestagswahl 2017. Hier kommt die CDU/CSU bei Interner Link: Russlanddeutschen auf nur noch 27 Prozent, die SPD bei Türkeistämmigen auf 35 Prozent. Schwerpunkte nach politischen Lagern bestehen fort, denn lediglich 26 Prozent der Türkeistämmigen wählten Mitte-Rechts-Parteien (CDU/CSU, Interner Link: FDP, Interner Link: AfD, ADD) und 41 Prozent der Russlanddeutschen Parteien links der Mitte (Interner Link: Linke, Interner Link: Grüne, SPD). Im Lichte früherer Befunde, dass jede Gruppe Parteien meidet, die sie als nicht unterstützend wahrnimmt, überraschen diese Ergebnisse kaum. Weitere Studien stellten noch stärkere Verschiebungen der Parteipräferenzen fest, die allerdings für die Bundestagswahl 2021 noch nicht systematisch überprüft werden konnten.
Die festgestellten Veränderungen spiegeln zum einen den allgemeinen Bedeutungsverlust der ehemaligen Volksparteien wider: Union und SPD erhielten bei der Bundestagswahl 2002 unter sämtlichen Wählerinnen und Wählern noch 77 Prozent aller Interner Link: Zweitstimmen, vier Jahre später 53 Prozent und 2021 nur noch knapp 50 Prozent. Unter den Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund konnten sich zwischen 2002 und 2017 alle kleineren Parteien ebenfalls verbessern. Während Die Linke sowohl bei Türkeistämmigen als auch bei Russlanddeutschen 2017 auf zweistellige Ergebnisse kam, war die AfD ausschließlich bei den Russlanddeutschen erfolgreich: Hier erreichte sie Interner Link: überproportionale Anteile (15 Prozent) im Vergleich zu den Wahlberechtigten insgesamt, erfuhr aber weniger Zustimmung als die Linkspartei (21 Prozent), die bei den Wählerinnen und Wählern mit Migrationshintergrund deutlich besser abschnitt als in der Bevölkerung insgesamt.
Auch jüngere Analysen der langfristigen Bindung an Parteien (2021) belegen Verschiebungen in den Präferenzen der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, deren Zusammensetzung sich mittlerweile jedoch auch verändert hat. Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) zeigen in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund zwischen 1984 und 2019 moderate Verluste für die CDU/CSU, starke Verluste für die SPD, starke Gewinne für Grüne und Linkspartei sowie moderate Gewinne für FDP und AfD. Die wissenschaftlichen Analysen bestätigen damit die aus den langjährigen Beobachtungen der Wahlforschung bekannten Grundmuster: "Personen, die aus Osteuropa oder der ehemaligen UdSSR kommen, identifizieren sich überproportional häufig mit der CDU/CSU. Personen aus Anwerbeländern, beispielsweise der Türkei oder Südeuropa, identifizieren sich überproportional mit der SPD."
Erklärungsansätze zu Parteipräferenzen
Wie lassen sich diese Grundmuster der Parteipräferenzen und die beobachteten Veränderungen erklären? Zunächst ist festzustellen, dass die gängigen Interner Link: Ansätze zur Erklärung des Wahlverhaltens auch bei Menschen mit Migrationshintergrund greifen: Die Wahlentscheidung fällt auf der Grundlage langfristiger Parteibindungen, der Zuschreibung von Lösungskompetenzen an Parteien für die wichtigsten politischen Probleme, der Präferenz für Kandidatinnen oder Kandidaten und der Bewertung von Leistungen der amtierenden Regierung. Hinzu kommen Einflüsse einiger soziodemografischer Charakteristika wie Alter, Geschlecht, Bildung und Konfession. Und dennoch bleiben Lücken bei der Erklärung der Parteipräferenzen von Menschen mit Migrationshintergrund. Dies hat zum einen damit zu tun, dass bei einer überproportionalen Zahl an Wählerinnen und Wählern mit Migrationshintergrund erklärungskräftige Partei- und Kandidatenorientierungen fehlen. Zum anderen kann die langfristige Parteibindung zwar Parteipräferenzen statistisch erklären, doch werden dadurch die Gründe für die Bindung der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund an einzelne Parteien kaum erhellt.
Erklärungen für Parteipräferenzen sind daher in der Beziehung der Wahlberechtigten zu verschiedenen Parteien zu suchen. Parteien machen Wahlberechtigten unterschiedliche inhaltliche und personelle Angebote und vertreten im Parlament und in Regierungsverantwortung die Interessen verschiedener Wählerinnen und Wähler unterschiedlich stark. Politisch linksgerichtete Parteien sind traditionell offener gegenüber Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion und fördern auch deren Teilhabe und Gleichstellung stark: angefangen von Zuzugsmöglichkeiten, Integrationsangeboten und erleichterter Einbürgerung über Maßnahmen gegen Diskriminierung bis hin zu Interner Link: Nominierungen für Mandate und Ämter. Allgemeine parteipolitische Vorstellungen über die Gesellschaft reichen von einer ethnisch homogenen (Mehrheits-)Gesellschaft mit einheitlicher Kultur bis hin zu einer multiethnischen sowie multikulturellen Gesellschaft mit starken Minderheitenrechten. Daher kann von einer mono-multikulturellen Konfliktlinie gesprochen werden, auf der sich die Parteien unterschiedlich positionieren.
In Abbildung 1 sind die wahrgenommenen Positionen der im Bundestag vertretenen Parteien bei der Bundestagswahl 2021 aus Sicht der Wahlberechtigten zusammengetragen. Dabei werden wirtschaftspolitische Positionen (x-Achse) und gesellschaftliche Positionen (y-Achse) kombiniert. Es ergibt sich eine Aufreihung der Parteien. Sie zeigt beispielsweise, dass die FDP aus Sicht der Wahlberechtigten mehr Zuzugsmöglichkeiten für ausländische Staatsangehörige fordert als etwa die CDU, gleichzeitig aber für weniger Steuern und Abgaben sowie geringere staatliche Leistungen eintritt als die Unionsparteien. Die SPD hingegen steht aus Sicht der Wahlberechtigten einerseits für ein liberaleres Zuwanderungsrecht als die FDP und die Unionsparteien, andererseits für ein Mehr an Steuern und Abgaben sowie staatlichen Leistungen.
In der Mitte der Abbildung sind zudem die eigenen Positionen der Wahlberechtigten ohne Migrationshintergrund (weißer Kreis), mit Migrationshintergrund (schwarzer Kreis, 1.075 Befragte) und weiterer Untergruppen von Zugewanderten (unterschiedliche Markierungen) dargestellt. Dabei zeigt sich zum einen, dass die jeweiligen Positionen nicht so unterschiedlich sind wie möglicherweise erwartet, zum anderen aber auch, dass es klare Muster nach Teilgruppen gibt. So unterscheiden sich sowohl die wirtschaftlichen als auch gesellschaftlichen Positionen der ersten (konservativer) und zweiten Generation signifikant voneinander. Und die deutschstämmigen Wahlberechtigten aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion haben signifikant konservativere wirtschaftspolitische Positionen als die nicht-deutschstämmigen Wahlberechtigten, während die Unterschiede der gesellschaftspolitischen Positionen der beiden Gruppen allenfalls eine Tendenz zur Signifikanz aufweisen. Bei den Türkeistämmigen unterscheiden sich die gesellschaftspolitischen Positionen signifikant von denjenigen der anderen Wahlberechtigten (progressiver), während sich die wirtschaftspolitischen Positionen nicht signifikant von denjenigen der deutschstämmigen Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund unterscheiden.
Wahlberechtigte, sei es nun ohne oder mit Migrationshintergrund, nehmen die verschiedenen Positionen der Parteien (auch zu weiteren Themen) wahr und vergleichen ihre eigene Position mit derjenigen der Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten. Dabei können migrationsspezifische Aspekte wie Diskriminierungserfahrungen die Wahrnehmung und den Einfluss von Positionsunterschieden auf die Wahlentscheidung verstärken. So hat eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) 2016 ergeben, dass die Präferenz für Parteien links der Mitte im Fall erlebter Diskriminierung um 14 Prozentpunkte anstieg, während im Gegenzug die Präferenz für die CDU/CSU um 16 Prozentpunkte sank (siehe Abbildung 2).
Ein anderer migrationsspezifischer Faktor ist die jahrzehntelange Offenheit der Unionsparteien für einen Zuzug Deutschstämmiger aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Zumindest für die erste Generation der Interner Link: (Spät-)Aussiedlerinnen und Aussiedler spielte bisher die Dankbarkeit für den Einsatz der CDU/CSU und insbesondere des ehemaligen Bundeskanzlers Interner Link: Helmut Kohl (CDU), der die Aussiedlung ab den späten 1980er Jahren nachdrücklich unterstützte, als Wahlmotiv eine Rolle. Darüber hinaus sind Wertorientierungen und Gesellschaftsvorstellungen von (Spät-)Aussiedlerinnen und Aussiedlern der ersten Generation häufig konservativ. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 kam es allerdings vor allem in der zweiten Generation Russlanddeutscher zu Differenzen mit der Politik der CDU/CSU, denn die Interner Link: Flüchtlingspolitik der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wurde aus verschiedenen Gründen sehr kritisch gesehen. Etliche (Spät-)Aussiedlerinnen und Spätaussiedler zeigten sich nun offen für eine Interner Link: Unterstützung der AfD.
Veränderungen der Parteipräferenzen seit 2017
Analysen zu Veränderungen der Parteipräferenzen seit 2017 gibt es bislang wenige. Gewinne von Grünen und Linkspartei sind teilweise das Ergebnis von Verschiebungen innerhalb des linken politischen Lagers zulasten der Sozialdemokraten. Sozialpolitische Schwerpunktsetzungen der Linkspartei dürften für einen Teil der Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund attraktiv gewesen sein. Bei den Wahlberechtigten, die aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stammen, hängen hohe Bildung und ein niedriger sozioökonomischer Status mit einer höheren Präferenz für die Linkspartei zusammen. Die AfD wurde in der gleichen Gruppe eher von Niedriggebildeten und weit überwiegend von Männern präferiert. Schließlich gibt es Indizien, dass ein Teil der Unterstützung für Linkspartei und AfD auch auf russlandfreundliche Positionen beider Parteien zurückzuführen ist.
Ausblick
Für das künftige Wahlverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund ist kein einheitlicher Trend zu erwarten. Erstens werden mit einem höheren Anteil an in Deutschland aufgewachsenen und sozialisierten Wahlberechtigten migrationsspezifische Einflüsse auf das Wahlverhalten abnehmen. Zweitens nehmen mit höherem Integrationsgrad auch Konflikte um Ressourcen und Macht zu, so dass insbesondere Fragen der Benachteiligung und Gleichstellung von Bürgerinnen und Bürgern anderer Herkunft einen Einfluss auf Parteipräferenzen zumindest behalten dürften. Drittens ist mit Blick auf jüngere Gruppen von Einwanderinnen und Einwanderern – seien es Arbeitskräfte aus Osteuropa oder Geflüchtete aus dem Mittleren Osten oder der Ukraine – zu erwarten, dass Prägungen in diesen Herkunftsländern, Erfahrungen in Deutschland von Aufnahme bis Einbürgerung, aber auch mit Parteien, Einfluss auf politische Präferenzen dieser Gruppen haben werden.
Parteien werden möglicherweise verstärkt um die wachsende, aber sehr heterogene Gruppe Wahlberechtigter mit Migrationshintergrund werben. Bei jeder Wahl erhalten sie eine neue Chance, Wahlberechtigte von ihren Themenschwerpunkten und Lösungsansätzen zu überzeugen. Einige Parteien können durch ihr Handeln in Regierungsverantwortung zeigen, inwieweit sie Versprechen und Erwartungen – ganz generell, aber auch für Menschen mit Migrationshintergrund – erfüllen. Diese Erfahrungen fließen dann wieder in eine neue Wahlentscheidung ein, und sie gewinnen aufgrund des allgemeinen Trends abnehmender Parteibindungen auch an Bedeutung.
ist Professor für Politikwissenschaft, Hochschule München University of Applied Sciences. Seine Forschungsschwerpunkte sind die empirische Wahl- und Repräsentationsforschung.
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