Die Bundesregierung hat im Juli 2022 eine Interner Link: Ausweitung der Bleiberechtsregelungen für Geduldete beschlossen. Damit greift sie auch Forderungen auf, die auf zivilgesellschaftlicher Ebene von migrantischen Selbstorganisierungen artikuliert werden, die sich schon länger für Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus einsetzen. Ein Beispiel, auf das in diesem Beitrag näher eingegangen wird, ist die Gruppe Jugendliche ohne Grenzen, die sich seit über 15 Jahren für ein "Bleiberecht für alle" engagiert. Ihr Engagement zeigt, dass geflüchtete Jugendliche eine Stimme haben können, obwohl sie in Deutschland formell nicht zum Kreis der Bürger:innen gezählt werden. Dabei leisten migrantische Selbstorganisierungen einen wichtigen Beitrag zur Demokratie – und durchaus auch zu ihrer Erneuerung –, insofern als sie die Grenzen etablierter Institutionen neu aushandeln und demokratische Prinzipien artikulieren.
Der Grundsatz: Betroffene haben eine eigene Stimme
Gruppen wie The Voice Refugee Forum, Women in Exile, oder Lampedusa in Hamburg Interner Link: engagieren sich teils seit Jahrzehnten für die Rechte von Geflüchteten. Sie können als Form politischer Selbstorganisierung begriffen werden, in denen die maßgeblich handelnden Akteur:innen aufgrund der von ihnen unmittelbar erfahrenen Diskriminierung aktiv werden. So geht etwa die Gruppe Jugendliche ohne Grenzen (JoG) von dem Grundsatz aus, "dass Betroffene eine eigene Stimme haben und keine 'stellvertretende Betroffenen-Politik' benötigen". Um ihrer Forderung nach einer umfassenden Bleiberechtsregelung und gleichberechtigter Teilhabe Gehör zu verschaffen, organisiert der bundesweite Zusammenschluss von jugendlichen Geflüchteten seit 2005 Kampagnen, Demonstrationen, politisches Theater und jedes Jahr eine Protestkonferenz zum Treffen der deutschen Innenminister:innen.
Trotz ihrer gesellschaftlich marginalisierten Stellung gelingt es den Jugendlichen, sich politisch zu positionieren. So fordert Deniz, ein Mitgründer von JoG: "Nehmt uns als Subjekte wahr und nicht nur als Objekte, über die gesprochen wird!" Ausgehend von ihrer gelebten Erfahrung sprechen sie Missstände an, drücken Bedürfnisse und Forderungen aus und bestimmen ihre politische Agenda selbst. Bevor sie als geflüchtete Jugendliche aber überhaupt Forderungen stellen können, müssen sie darum kämpfen, in einer sprechenden Rolle wahrgenommen zu werden. In diesem Sinne seien nicht Inhalte wie die Forderung nach einem Bleiberecht das Besondere, erzählt JoG-Mitglied Omar, sondern die Art, wie diese Inhalte vermittelt werden: durch die Jugendlichen selbst, ihr persönliches Auftreten und ihre Geschichten. Es ist folglich nicht nur Ausgangspunkt, sondern Ziel von JoG, dass geflüchtete Jugendliche als politische Akteur:innen wahrgenommen werden, "dass die Leute anfangen, überhaupt mit den Betroffenen zu sprechen".
Empowerment und politische Intervention: ein umfassendes Partizipationsverständnis
Migrantische Selbstorganisationen wie JoG zeigen, wie sichtbare Politiken der Intervention in die Migrationspolitik auf relativ unsichtbare Politiken des Austauschs, der Selbsthilfe und des Empowerments angewiesen sind. So lebt JoG von dem dort geschaffenen Raum von und für geflüchtete Jugendliche. Während sie in der deutschen Gesellschaft Diskriminierung erleben und sich rechtfertigen müssen, erfahren sie in der Selbstorganisierung das Gegenteil: Sie gehören selbstverständlich dazu. Zudem erfahren sie im Austausch untereinander, dass sie mit ihren Diskriminierungserfahrungen nicht alleine sind, sondern dass es anderen ebenso geht, sodass eine gemeinsame Perspektive bzw. ein gemeinsames Bewusstsein für die eigene Stellung in der Gesellschaft sowie die damit einhergehenden Hürden entsteht. Dieses Empowerment in der Gruppe ist schon eine Form der politischen Praxis. Zudem ist es eine Basis, die die Jugendlichen bestärkt, öffentlich für die eigenen Anliegen einzutreten.
Bei öffentlichen Auftritten von JoG ist es zentral, dass die Jugendlichen sich selbst vertreten und ausgehend von der eigenen Erfahrung Missstände ansprechen und Forderungen zur Sprache bringen. Indem sie ihre persönlichen Geschichten erzählen, können sie Mitgefühl anregen, aber auch eine empörende Einsicht erzeugen. Dadurch wird eine andere Sichtweise eröffnet: Nicht mehr Migrant:innen erscheinen als Problem, sondern Probleme der deutschen Migrationspolitik werden sichtbar gemacht. Auf diese Weise soll auch auf einen weiteren Zusammenhang hingewiesen werden: dass sie nicht die Einzigen sind und es viele Jugendliche in einer ähnlich schlechten Lage gibt. Es ist ein Problem, für das die gesamte Gesellschaft verantwortlich ist und nicht sie allein.
Einsatz für die eigenen Rechte als Aktualisierung der Demokratie für alle
Anhand von Zusammenschlüssen wie JoG wird die Bedeutung politischer Selbstorganisierung für die Demokratie deutlich, denn sie stehen im Gegensatz zum häufig defizitären Blick auf Migration in Politik, Medien und Wissenschaft. Sie ermöglichen es Betroffenen, am politischen Prozess teilzuhaben, sich für ihre Mitbestimmung im Allgemeinen und ihre politischen Anliegen im Besonderen einzusetzen. JoG und andere Selbstorganisierungen zeigen zudem, dass Demokratie nicht allein nationalstaatlich gedacht werden muss, denn: die Jugendlichen kämpfen nicht nur für ihre eigenen Rechte, sondern – von universalistischen Prinzipien getrieben – zugleich für die Rechte von allen, indem sie demokratische Prinzipien von Interner Link: Gleichheit und Freiheit aktualisieren. Und schließlich zeigen migrantische Selbstorganisierungen wie JoG, dass Demokratie als eine Praxis von unten begriffen werden kann, an der wir uns alle beteiligen können.