Migration und Demokratie stehen in einem Spannungsverhältnis. Migration bedeutet, dass Menschen längerfristig von einem Ort an einen anderen ziehen. Das kann aus freier Entscheidung oder aus Not geschehen, je nachdem ist der Rechtsrahmen ein anderer. Demokratie wiederum bedeutet die Organisation von Herrschaft basierend auf den Prinzipien menschlicher Gleichheit und Freiheit. Staatliche Demokratie ist vorrangig durch Wahlen organisiert: Das Parlament und die Regierung sind durch freie, gleiche Wahlen legitimiert. Im Zusammenspiel zwischen Migration und Demokratie nun ergibt sich ein Spannungsverhältnis: Erstens angesichts der Bedeutung dauerhafter Anwesenheit auf dem Territorium. Zweitens mit Blick auf die Frage, ob und wie Regeln zur Einwanderung selbst demokratisch sein können.
Die Rolle von Territorium in demokratischen Staaten
Zum ersten Aspekt: Demokratie erfordert gemeinsam durch Wahlen legitimierte und kontrollierte Herrschaft. Sie beruht insofern auf Regelungen über Verfahren und darüber, wer zur Teilnahme berechtigt ist, also wer zum demokratischen Volk gehört. Artikel 20 des Grundgesetzes hält dazu fest: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." Und: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Grundsätzlich ist die Idee von Demokratie, dass diejenigen, die dauerhaft Herrschaft unterworfen sind, auch an deren Legitimation und Kontrolle teilhaben können. Unsere demokratischen Institutionen entwickelten sich im Rahmen des Territorialstaats: Er bildet den Raum der Ausübung von Herrschaft und umgekehrt auch den Rahmen demokratischer Bürgerschaft. Auch wenn die Regelungen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft und des Wahlrechts weitere Faktoren einbeziehen, ist die Anwesenheit auf dem Territorium wichtiger Bezugspunkt politischer Gleichheit. Vor diesem Hintergrund scheint es in einem demokratischen Staat unhaltbar, dauerhaft Anwesenden den Zugang zur Bürgerschaft unbegrenzt vorzuenthalten. Wer sich auf dem Staatsgebiet befindet, sollte nach einiger Zeit einen Anspruch haben, gegebenenfalls unter Erfüllung zusätzlicher Bedingungen wie Sprachkenntnisse, zum vollen politischen Mitglied zu werden.
Diese Rolle von Territorium als Rahmen politischer Gleichheit macht Migration für einen demokratischen Staat so bedeutsam. Weil mit Einwanderung nicht nur Anwesenheit, nicht nur Rechte, sondern potenziell politische Gleichstellung verbunden ist, richtet sich der Kontrollanspruch oftmals auf den ersten Zugang zum Territorium. Aufenthalts- und Einbürgerungsrecht sind wohlgemerkt komplex und viele Einwandernde wollen nicht dauerhaft bleiben. Dennoch beeinflusst Migration immer auch den Kreis der zukünftig Mitentscheidenden, das heißt die Zusammensetzung des demokratischen Volkes.
Grenzen und die Frage der Mitentscheidung
Zweitens steht Migration in einem Spannungsverhältnis mit Demokratie hinsichtlich der Rechtfertigung von Grenzen. Wenn Demokratie den Anspruch beinhaltet, dass diejenigen, die Regeln und Herrschaft unterworfen sind, auch Einfluss auf ebendiese haben, dann sind Entscheidungen über Grenzen – d.h. des Zugangs zum Territorium ebenso wie zur Staatsbürgerschaft – eben auch Teil demokratischer Entscheidungen. Auf die Regeln, wer Staatsgrenzen unter welchen Bedingungen passieren darf, haben aber diejenigen keinen Einfluss, die sich noch außerhalb des Staates befinden; die von Regeln der Einbürgerung am stärksten Betroffenen haben kaum politische Mitsprache darüber. Dieses in der politischen Theorie als "boundary problem" diskutierte Thema ist eine Variation der grundlegenden Spannung von Demokratie: Demokratie beruht auf dem Grundsatz menschlicher Interner Link: Gleichheit und Freiheit einerseits und der Notwendigkeit konkreter Institutionen andererseits. Gleiche Freiheit setzt voraus, dass Menschen in gleichem Maße mitbestimmen können und sich gegenseitig als politisch Gleiche anerkennen. Insofern verleihen erst konkrete Institutionen der Idee gleicher Freiheit Wirksamkeit. Zugleich bringen diese Institutionen Abgrenzungen mit sich, die mit der gleichen Freiheit in Konflikt geraten können. Im Kontext von Migration werden diese Abgrenzungen besonders sichtbar. So sind Regeln darüber notwendig, wer wahlberechtigt ist, um demokratische Mitentscheidung nicht willkürlich zu öffnen und den Einfluss unter denjenigen aufzuteilen, die auch tatsächlich anhaltend betroffen und auf dem Territorium anwesend sind. Zugleich schließen beispielsweise Regeln zur Wahlberechtigung neue Einwohner:innen zunächst von der Mitbestimmung aus. Vorgaben, nach wie vielen Aufenthaltsjahren Personen sich einbürgern lassen und so ein Mitbestimmungsrecht erhalten können, sind allgemein getroffen und können für den Einzelfall willkürlich erscheinen. Viele langjährige Einwohner:innen bleiben ohne Wahlberechtigung. So entsteht eine Spannung zwischen den Regelungen und dem Ziel, dass demokratischer Einfluss gerecht aufgeteilt wird.
Demokratie als Prozess fortwährender Aushandlung
Demokratien stehen in einer fortwährenden Spannung zwischen Institutionen und immer wieder neu formulierten Ansprüchen der Inklusion. Diese Spannung von Institutionen und Inklusion ist dabei kein schroffes Gegenüber, sondern eine vielschichtige Dynamik. Wer an politischen Prozessen teilnimmt – und in diesem Sinne Teil des demokratischen Volkes ist –, lässt sich nicht vorab klar sagen. Stattdessen wird fortwährend neu ausgehandelt, wer zum Demos gehört, wie zum Beispiel die Entwicklungen zum Interner Link: Frauenwahlrecht zeigen. Staatsbürgerschaft und Wahlrecht sind wichtige Instrumente demokratischer Teilhabe, aber nicht die einzigen. Zur Demokratie gehören beispielsweise auch öffentliche Demonstrationen, wodurch sich Menschen ebenfalls an der Politik beteiligen und ihre Sichtweisen einbringen können. Diese Dimension von Demokratie ist besonders wichtig für diejenigen, die keine institutionalisierten Möglichkeiten politischer Mitsprache haben. Weil demokratische Teilhabe in vielen Graustufen stattfindet, ist die Entscheidung über Grenzen und Zugang kein demokratisches Paradox, wohl aber unterliegt sie einer demokratischen Asymmetrie. Das Recht spielt auch für die nicht institutionalisierten Formen von Politik eine erhebliche Rolle, sei es schützend oder begrenzend. Zentral sind dafür insbesondere die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit sowie die spezifische Ausgestaltung von Versammlungs- und Vereinigungsrecht.
Darüber hinaus wird die Spannung von Institutionalisierung und Inklusion an verschiedenen Toren des demokratischen Staates verhandelt: bei Einreise, bei Wahlrechten, bei Bedingungen der Einbürgerung. Erheblich Interner Link: gestritten etwa wird seit langem über das "Ausländerwahlrecht", also über ein Wahlrecht für langjährige Einwohner:innen ohne deutschen Pass. Wahlberechtigt sind in Deutschland nur Staatsbürger:innen sowie hier lebende Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedsländer (Unionsbürger:innen) auf kommunaler Ebene. 1990 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden (BVerfGE 83, 37), dass Bundesländer keine Regelungen treffen dürfen, darüberhinausgehende Wahlrechte einräumen. Die Entscheidung betraf ein Gesetz aus Schleswig-Holstein. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass das "Volk", von dem laut Artikel 20 Grundgesetz alle Staatsgewalt ausgeht, nur deutsche Staatsangehörige sein können. Dieses Urteil erging noch vor der Einführung des Kommunalwahlrechts für Interner Link: Unionsbürger:innen durch Unionsrecht. Gegen diese Auslegung das "Volk" betreffend wird eingewendet, es sei kaum mit dem Grundgedanken der Demokratie vereinbar, wenn ein erheblicher Anteil der Bevölkerung an einem Ort keine demokratischen Mitspracherechte habe.
Wie sich Migration und Demokratie zueinander verhalten, ist also eine Frage mit Facetten: Migration prägt und verändert die Gesellschaft, das spiegelt sich auch in kollektiven Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen der Demokratie. Umgekehrt bildet Demokratie die zentrale Legitimationsquelle für Recht: Wie Migration gestaltet wird, hängt letztlich an demokratischen Entscheidungen.