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Die parlamentarische Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte im Bundestag

Aimie Bouju

/ 7 Minuten zu lesen

Menschen mit Migrationsgeschichte sind im Bundestag unterrepräsentiert. Dies liegt auch an innerparteilichen Selektionsprozessen, die darüber entscheiden, wer überhaupt für eine Bundestagskandidatur nominiert wird.

Blick in den Plenarsaal im Reichstag in Berlin. Hier kommen alle vom Volk gewählten Bundestagsabgeordneten zusammen, um die Demokratie zu gestalten. Menschen mit Migrationsgeschichte sind im Bundestag bislang unterrepräsentiert. (© picture-alliance, EPA | CLEMENS BILAN)

Deutschland wird immer vielfältiger und so auch der Bundestag. Aktuell haben mindestens 11,3 Prozent aller Bundestagsabgeordneten einen sogenannten Interner Link: Migrationshintergrund. Statistisch wird einer Person ein Migrationshintergrund zugewiesen, wenn sie nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist oder mindestens ein Elternteil hat, auf das dies zutrifft. 2017 hatten 8,2 Prozent der Mitglieder des Bundestags eine Migrationsgeschichte. 2013 lag der Anteil bei 5,9 Prozent.

Zwar ist die Zahl der Bundestagsabgeordneten mit Migrationsgeschichte von Legislaturperiode zu Legislaturperiode gewachsen, was sich statistisch aber erst seit der Einführung de Kategorie "Migrationshintergrund" 2005 erfassen lässt. Dennoch sind Migrant*innen und ihre Nachkommen im aktuellen Bundestag weiterhin deskriptiv unterrepräsentiert , d.h. der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung weicht von ihrem Anteil im Parlament ab. 2020 hatten 26,7 Prozent der Bevölkerung Deutschlands einen Migrationshintergrund (knapp 21,9 Millionen). Bei der Bundestagswahl 2021 waren rund 7,9 Millionen Personen mit Migrationshintergrund wahlberechtigt. Damit stammten 13 Prozent aller Wahlberechtigten aus Einwander*innenfamilien oder waren selbst zugewandert. 41 Prozent (3,2 Millionen) der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund wurden in Deutschland geboren.

Deskriptive Unterrepräsentation in der postmigrantischen Gesellschaft

Je nachdem, ob der Anteil in der Gesamtbevölkerung oder unter den Wahlberechtigten betrachtet wird, fällt die parlamentarische Repräsentationslücke von Menschen mit Migrationsgeschichte unterschiedlich groß aus. Aus Interner Link: postmigrantischer Sicht geht es dennoch nicht nur um Zahlen, sondern um die Bedeutung, die die Präsenz von Menschen mit Migrationsgeschichte im Parlament hat. Die deskriptive Unterrepräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte führt, so die Argumentation von Repräsentationstheoretiker*innen, zum Vertrauensverlust gegenüber demokratischen Institutionen und stellt ihre Legitimität in Frage. Ein weiteres Argument lautet, dass politische Anliegen und die Perspektive von Bevölkerungsgruppen besser oder sogar überhaupt nur dann vertreten werden würden, wenn die Betroffenen im Bundestag präsent sind. Ein Mehr an Präsenz führt in dieser Perspektive zu einem Mehr an Repräsentation.

Die Rolle von Parteien

Die Unterrepräsentation von bestimmten Bevölkerungsgruppen im Bundestag hat aus politikwissenschaftlicher Sicht mehrere Ursachen. So entscheiden bei den Bundestagswahlen die Wähler*innen mit ihrer Stimme darüber, welche Kandidat*innen in den Bundestag einziehen und die Bevölkerung (bzw. "Interner Link: das Volk" wie es im Grundgesetz heißt) repräsentieren werden. Die Wähler*innen sind aber nur zum Teil für die Zusammensetzung des Parlaments verantwortlich, denn es sind die Parteien, die bestimmen, welche Politiker*innen überhaupt als Kandidat*innen zur Wahl stehen. Das Innenleben der Parteien und die Art und Weise, wie sie Bundestagskandidat*innen auswählen, kann daher zum Teil die Präsenz oder Abwesenheit von bestimmten Gruppen im Parlament erklären.

Auswahlverfahren für eine Bundestagskandidatur

Es gibt zwei Wege, um als Kandidat*in für die Bundestagswahl aufgestellt zu werden:

  1. Bewerber*innen um einen Sitz im Bundestag können in ihrem Interner Link: Wahlkreis als Interner Link: Direktkandidat*innen aufgestellt werden. Dazu müssen sie von ihrem Orts- und Kreisverband nominiert werden. Sie müssen also zunächst die Mehrheit der lokalen Verbandsmitglieder oder Delegierten davon überzeugen, sie als Kandidat*in für die Wahl in den Bundestag vorzuschlagen.

  2. Eine Aufstellung zur Wahl kann auch über die Interner Link: Landesliste erfolgen. Direktkandidat*innen bewerben sich häufig sowohl im Wahlkreis als auch auf der Landesliste ihrer Partei, um ihre Chancen auf den Einzug in den Bundestag zu verbessern. Es gibt aber auch Kandidat*innen, die sich ausschließlich über die Landeslisten bewerben, ohne in ihrem Wahlkreis die Kandidatur für ein Direktmandat anzustreben. Diese Listenkandidat*innen werden tendenziell auf weniger aussichtreichen Positionen aufgestellt.

Das Auswahlverfahren von Bundestagskandidat*innen folgt parteienübergreifend einem ähnlichen Muster. Bei Direktkandidaturen ist die "Hausmacht" der Kandidat*innen wichtig, also die Frage, wie viele Unterstützer*innen sie innerhalb ihrer Partei bzw. den jeweiligen Kreis- und Ortsverbänden haben. Hier zählt also, wie gut es ihnen gelingt, sich zu vernetzen und sich machtvolle Positionen innerhalb der Parteien zu erarbeiten.

Für Politiker*innen mit Migrationsgeschichte scheint es schwieriger zu sein, in diesem Selektionsprozess überhaupt in die Position zu kommen, als Direktkandidat*in nominiert bzw. auf einem aussichtsreichen Platz auf der Landesliste aufgestellt zu werden. Für das politische Engagement sind bestimmte Interner Link: Ressourcen von Vorteil, z.B. langjährige Erfahrungen auf dem politischen Parkett (u.a. durch Mitarbeit in Jugendorganisationen der Parteien oder politische Ämter), breites politisches Wissen, eine (akademische) Ausbildung, Zeit für ehrenamtliche Gremienarbeit, Geld, um Wahlkampfkosten zu tragen, machtvolle Parteifreunde, Redegewandtheit (und damit sehr gute Deutschkenntnisse) und Überzeugungstalent. Insbesondere (selbst zugewanderte) junge Politiker*innen mit Migrationsgeschichte verfügen oft (noch) nicht über ausreichende politische Ressourcen, um sich in den parteiinternen Auswahlprozessen gegen Parteimitglieder ohne Migrationsgeschichte durchsetzen und eine Bundestagswahlkandidatur anstreben zu können.

Welche Rolle spielt die Migrationsgeschichte im parteiinternen Selektionsprozess?

Wahllisten sind ein komplexes Gebilde, wo verschiedene Kategorien, wie das Geschlecht, der Kreis- oder Bezirksverband, die Art der Kandidatur (direkt oder auf Listen) und der politische Status (bspw. als Bundestagsabgeordnete) eine Rolle spielen. Zum Beispiel bringt die Frauenquote einen Vorteil für Bewerberinnen, wenn sich vergleichsweise weniger Frauen als Männer für einen Listenplatz bewerben. Politiker*innen aus mitgliederstarken Verbänden werden mit dem sogenannten Regionalproporz auf aussichtreicheren Positionen platziert als Politiker*innen aus mitgliederschwachen Verbänden. Eine feste Quote für Migrant*innen gibt es nicht. Bisherige Erkenntnisse zeigen allerdings, dass die Migrationsgeschichte bei den meisten Kandidat*innen kaum oder keine Rolle dafür spielt, ob sie für einen Listenplatz nominiert werden.

Die Folgen: Politiker*innen mit (und ohne) Migrationsgeschichte, die aus einem großen Verband kommen, als Direktkandidat*in nominiert wurden, gut vernetzt sind und von einer (Geschlechter-)Quote gefördert werden, haben bessere Voraussetzungen, einen aussichtsreichen Listenplatz zu erreichen. Jüngere, aus kleineren Verbänden kommende und zum ersten Mal antretende Politiker*innen haben im Gegensatz dazu weniger Chancen auf einen aussichtsreichen Listenplatz. Innerhalb ihrer ohnehin schon defizitären Ausgangslage spielt die Migrationsgeschichte, wenn überhaupt, nur eine marginale Rolle.

Fazit

Ein kurzer Blick auf das Selektionsverfahren von Parteien zeigt: Solange die Migrationsgeschichte innerhalb der Parteien nicht als gleichwertiger Vorteil wie z.B. die Mitgliederstärke des jeweiligen Verbands oder das Geschlecht wahrgenommen wird und es dadurch mehr Politiker*innen mit Migrationsgeschichte verstärkt gelingt, überhaupt für den Bundestag zu kandidieren, wird sich die Zusammensetzung des Parlaments wahrscheinlich nur sehr langsam ändern. Wandel ist in diesem Sinne nur mit Zeit, großen Anstrengungen und 'guten' Wahlergebnissen möglich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zuweilen wird kritisiert, dass der Begriff 'Migrationshintergrund' als ausgrenzend und diskriminierend wahrgenommen werden kann. Denn im deutschsprachigen Alltags-, medialen und politischen Kontext werden bestimmte Gruppen als 'Mensch mit Migrationshintergrund' wahrgenommen, obwohl sie nicht in diese statistische Kategorie fallen. Sie werden in dem Sinne "migrantisiert", oder mit anderen Worten, als 'Migrantin' bzw. als 'Migrant' kategorisiert (Bouju 2022: 41f). 'Migrationshintergrund' wird in diesem Text daher nur als statistische Kategorie verwendet. Ansonsten wird hier der Begriff der "Migrationsgeschichte" präferiert. Dieser Begriff verweist auf die familiäre Geschichte einer Person, wodurch auch Menschen umfasst werden, die statistisch gesehen keinen 'Migrationshintergrund' haben. Vertiefende Literatur dazu: Will, Anne-Kathrin (2019): The German statistical category "migration background": Historical roots, revisions and shortcomings. Ethnicities 19(3); Ahyoud, Nasiha et. al (2018): Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung, Externer Link: https://www.kiwit.org/media/material-downloads/antidiskriminierungs_-_gleichstellungsdaten_-_einfuehrung.pdf (Zugriff: 16.06.2022).

  2. Hoffmann, Lea; Pross, Jennifer; Ataman, Ferda (2013): Vielfalt im Bundestag: Mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund. Mediendienst Integration, 23. September. Externer Link: https://mediendienst-integration.de/artikel/mehr-abgeordnete-mit-migrationshintergrund.html (Zugriff: 16.06.2022).

  3. Öffentlich verfügbare Daten dazu gibt es erst seit der Bundestagswahl 2009. Da weder Parteien noch Statistische Ämter den Migrationshintergrund von Politiker*innen erheben, sind solche Recherchen mühselig. Als Quelle fungieren z.B. Biografien auf Websites, Reden, Interviews, Berichte und Anfragen. Bei den Statistiken handelt es sich aus diesem Grund stets um eine Schätzung.

  4. Politikwissenschaftler*innen unterscheiden zwischen mehreren Repräsentationsformen. Bei der deskriptiven Repräsentation wird nur auf statistische, sozial relevante Kategorien wie z.B. das Geschlecht, die Herkunft oder das Alter geachtet.

  5. Statistisches Bundesamt (2021): Bundestagswahl 2021: Jede dritte Person mit Migrationshintergrund war wahlberechtigt. Pressemitteilung Nr. 463 vom 1. Oktober. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/10/PD21_463_125.html (Zugriff: 16.06.2022).

  6. Die Repräsentationslücke fällt größer aus, wenn der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der Gesamtbevölkerung (26,7 Prozent) betrachtet wird, als wenn nur Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund in den Blick genommen werden (13 Prozent aller Wahlberechtigen haben einen Migrationshintergrund).

  7. Als "postmigrantisch" werden Einwanderungsgesellschaften (unter anderem Deutschland) bezeichnet, in denen gesellschaftliche Aushandlungsprozesse nach der Migration erfolgen und diese von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit als unumgänglich anerkannt worden ist, etwa darüber, wie das gesellschaftliche Zusammenleben gestaltet werden soll. Anhand der Migrationsfrage werden etwa Verteilungsgerechtigkeit, kulturelle Selbstbeschreibung, aber auch die demokratische Verfasstheit fortwährend verhandelt. Foroutan, Naika (2019): Die postmigrantische Gesellschaft: ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: Transcript Verlag.

  8. Williams, Melissa (1998): Voice, Trust, and Memory: Marginalized Groups and the Failings of Liberal Representation. Princeton: Princeton University Press.

  9. Mansbridge, Jane (1999): Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women? A Contingent "Yes". The Journal of Politics 61(3), 628–657; Philipps, Anne (1995): The Politics of Presence: The Political Representation of Gender, Ethnicity, and Race. Oxford: Oxford University Press.

  10. Die Argumente, die für die deskriptive Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte gelten, werden auch für die parlamentarische Repräsentation weiterer Gruppen vorgebracht (Frauen, Arbeiter*innen, junge Wähler*innen, etc.).

  11. Bouju, Aimie (2022): Parlamentarische Repräsentation in der Einwanderungsgesellschaft: Innerparteiliche Selektionsprozesse von Bundestagskandidatinnen und -kandidaten mit Migrationsgeschichte. Promotion. Universität Duisburg-Essen. Online unter: Externer Link: 10.17185/duepublico/75202

  12. Höhne, Benjamin (2013): Rekrutierung von Abgeordneten des Europäischen Parlaments: Organisation, Akteure und Entscheidungen in Parteien. Opladen: Barbara Budrich; Reiser, Marion (2014): The Universe of Group Representation in Germany: Analysing Formal and Informal Party Rules and Quotas in the Process of Candidate Selection. International Political Science Review 35(1): 55–66.

  13. Bouju (2022).

  14. Wahlergebnisse, mit denen Parteien möglichst viele Mandate im Bundestag gewinnen können.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Aimie Bouju für bpb.de

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Weitere Inhalte

ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet aktuell als Referentin für Forschungsvernetzung und Management der Forschungsgemeinschaft am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Sie hat zum Thema "Parlamentarische Repräsentation in der Einwanderungsgesellschaft: Innerparteiliche Selektionsprozesse von Bundestagskandidatinnen und -kandidaten mit Migrationsgeschichte" promoviert. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die politische Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte.