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Migration und Handwerk – kurze Geschichte einer langen Verbindung | Migration und Wirtschaft | bpb.de

Migration und Wirtschaft Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Zuwanderung Wie sich Migration auf die Herkunftsländer auswirkt Migrantische Ökonomien in Deutschland Fachkräfteengpässe und Arbeitsmigration nach Deutschland Migration und Handwerk – kurze Geschichte einer langen Verbindung Migration und Handwerk: Fachkräftemangel und integratives Potenzial

Migration und Handwerk – kurze Geschichte einer langen Verbindung

Jochen Oltmer

/ 3 Minuten zu lesen

Migration und Handwerk sind historisch eng miteinander verknüpft. Dies wird etwa an den umfangreichen Gesellenwanderungen ab dem 16. Jahrhundert deutlich. Der Beitrag zeichnet die langen Verbindungslinien nach.

Wandergesellen sind in der Innenstadt von Schwerin unterwegs. Seit Jahrhunderten gehen junge Handwerksgesell/-innen auf Wanderschaft. Bis heute dient diese Form der Migration unter anderem dem Transfer von Wissen und Technologien. (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild | Jens Büttner)

Migrationen waren für das Interner Link: Handwerk lange konstitutiv. Vom 16. bis in das 19. Jahrhundert konnten Handwerksgesellen im deutschsprachigen Europa nur dann selbstständige Meister werden und eine Familie gründen, wenn sie eine mindestens drei- bis fünfjährige Gesellenwanderung (Walz) absolviert hatten.

Die Wanderschaft diente dem Transfer von Wissen und Technologien durch Migration. Zugleich nutzten die Meister den Wanderzwang, um die Beschäftigung der Gesellen möglichst flexibel zu halten. Denn der Arbeitskräftebedarf änderte sich aufgrund von saisonalen Schwankungen permanent und reagierte ausgesprochen sensibel auf Wirtschaftskrisen, Seuchen oder Kriege.

Die Dimension der Gesellenwanderung sollte nicht unterschätzt werden: In den 1830er Jahren kamen zum Beispiel jährlich 140.000–160.000 Handwerksgesellen nach Wien, das als Gewerbezentrum im Deutschen Bund damals um die 350.000 Einwohner:innen zählte. Handwerk war dabei nicht gleich Handwerk: Hochspezialisierte Gewerbezweige (Buchbinder oder Kürschner) gab es nur in den größten Städten, die Gesellen wanderten teilweise europaweit, der Anteil der zugewanderten gegenüber dem der einheimischen Gesellen lag hoch. Bei den wenig spezialisierten Massengewerken (Schuster oder Bäcker) legten die Gesellen hingegen geringere Distanzen zurück.

Die Industrialisierung und der Wandel des Handwerks

Im 19. Jahrhundert veränderten Interner Link: Industrialisierung und zunehmende Verstädterung das Handwerk grundlegend. Viele Gewerke verschwanden angesichts der industriellen Konkurrenz völlig. Andere wandelten sich zu Reparatur- und Installationshandwerken. Wieder andere, wie das Bauhandwerk, expandierten massiv. Regelungen zur Durchsetzung einer Gewerbefreiheit sollten marktwirtschaftlichen Prinzipien zum Durchbruch verhelfen. Sie zerstörten seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Monopole der Zünfte, die Macht der Meister und die ständischen Beschränkungen des Arbeitsmarktzugangs. Zünftige Prinzipien blieben dennoch erhalten: So wurde die Lehrlingsausbildung weiterhin durch die Innungen bzw. Kammern und die hier organisierten Meister kontrolliert. Meister wiederum konnte nur werden, wer über Ortsbürgerrecht und Staatsangehörigkeit verfügte. Schließlich knüpfte die nationalsozialistische Interner Link: Handwerksordnung von 1935 die Ausübung eines Handwerks wieder an den Meisterbrief – eine Regelung, die die Bundesrepublik übernahm. Sie galt faktisch bis zur Novellierung des Handwerksrechts 2003/04, die für diverse Gewerke die Gewerbefreiheit (wieder) einführte.

Barrieren beim Zugang von Eingewanderten zum Handwerk

Eingewanderte fanden in der Bundesrepublik lange kaum Zugang zum Handwerk. Barrieren bildeten insbesondere der Meister- und Innungszwang sowie unzureichende Möglichkeiten, im Ausland erworbene Qualifikationen anerkennen zu lassen. Die bis Ende der 1990er Jahre dominierende Vorstellung, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland und der Aufenthalt Zugewanderter nur temporär, tat ihr Übriges: Eine systematische Förderung von Aus- und Weiterbildungen blieb aus – abgesehen von Bundesprogrammen der 1970er und 1980er Jahre, die darauf abzielten, handwerkliche Qualifikationen unter Zugewanderten zu vermitteln, um ihre Rückkehr ins Herkunftsland vorzubereiten.

Grundlegende Veränderungen setzten erst seit den späten 1990er Jahren ein, als sich die Vorstellung verbreitete, ein Einwanderungsland zu sein, das Teilhabechancen fördern müsse. Dies geschah auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Debatten um den demographischen Wandel, zunehmende Interner Link: Fachkräfteengpässe und die Förderung der Attraktivität der Bundesrepublik als Migrationsziel. Seit 2000 wurde der Interner Link: Zugang zur Staatsangehörigkeit und seit 2012 die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen erleichtert. Hinzu trat eine Interner Link: Vielzahl von Maßnahmen zum Spracherwerb, zur beruflichen Qualifizierung und zur Aufhebung formaler Teilhabebarrieren.

Für weitreichende Veränderungen im Handwerk sorgten außerdem die EU-Regelungen zur Interner Link: Dienstleistungsfreiheit und die Tatsache, dass immer mehr junge Menschen aus der zweiten Eingewandertengeneration mit deutschen Bildungsabschlüssen auf den Arbeitsmarkt strebten. In den 2010er Jahren ließ sich nicht nur ein höherer Anteil von Handwerker:innen unter Eingewanderten als unter Nicht-Migrant:innen ausmachen. Zugleich fand sich im Handwerk auch ein höherer Anteil von Auszubildenden mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit als in anderen Wirtschaftsbereichen.

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Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Professor für Neueste Geschichte und Migrationsgeschichte sowie Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.