Die ägäischen Inseln: von Räumen des Transits zu Räumen der Immobilisierung
Beeke Wattenberg
/ 17 Minuten zu lesen
Link kopieren
Die überfüllten Hotspot-Lager für Geflüchtete auf den griechischen Inseln in der Ägäis sind zum Symbol einer gescheiterten europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik geworden. Wie ist es dazu gekommen? Eine Skizze.
Wenige Bilder standen in den letzten Jahren so für eine misslungene europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik wie die der unmenschlichen Zustände für geflüchtete Menschen auf den griechischen Inseln in der östlichen Ägäis. Sie stehen in Kontrast zu europäischen Werten wie Humanität, Menschenrechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit und können schon lange nicht mehr als 'humanitäre Krise' beschrieben werden, wie es im Jahr 2015 der Fall war. Vielmehr ist das Leid Schutzsuchender in Griechenland und an vielen weiteren Orten an den Grenzen der EU das direkte Resultat politischer Entscheidungen und einer europäischen Politik, die die Verantwortung für den Schutz flüchtender Menschen primär den Staaten an den EU-Außengrenzen überlässt.
Hintergrund: Fluchtbewegungen nach Europa 2015 und 2016
In den Jahren 2015 und 2016 kam es zu Interner Link: Flucht- und Migrationsbewegungen in die Europäische Union, wie es sie seit den Interner Link: postjugoslawischen Kriegen nicht mehr gegeben hatte. Täglich gelangten mehrere Hundert bis Tausend schutzsuchende Menschen mit Booten auf die griechischen Inseln in der östlichen Ägäis, um von dort aus in west- und nordeuropäische EU-Mitgliedsstaaten weiterzureisen und hier Asyl zu beantragen. Insgesamt haben allein im Jahr 2015 über 850.000 Flüchtende die Europäische Union über diesen Weg erreicht und weitere 170.000 im Jahr 2016. Mehr als 1.200 Menschen starben in diesem Zeitraum auf der Flucht über die Interner Link: östliche Mittelmeerroute zwischen der Türkei und Griechenland oder gelten seither als vermisst. Die meisten Schutzsuchenden kamen aus Syrien, Interner Link: Afghanistan und dem Irak. Die Fluchtbewegungen können als eine Auswirkung der niedergeschlagenen Aufstände des sogenannten Interner Link: Arabischen Frühlings, der weltweiten Eskalation in Kriegs- und Krisenregionen sowie einer unzureichenden materiellen Versorgung Geflüchteter in Erstaufnahmestaaten wie Jordanien, Libanon oder der Türkei gesehen werden.
Der Begriff der "Flüchtlingskrise"
Die Bezeichnung der umfangreichen Migrations- und Fluchtbewegungen nach Europa in den Jahren 2015 und 2016 als sogenannte Flüchtlingskrise ist seit Mitte 2015 in der deutschen Asyldebatte allgegenwärtig. Damit wird weniger eine Krise geflüchteter Menschen im humanitären Sinne beschrieben, als vielmehr eine wegen geflüchteter Menschen hervorgerufene Krise betont. Die Verantwortung für die Überforderung deutscher und europäischer Behörden im Umgang mit der Fluchtmigration wird stärker den Schutzsuchenden selbst zugewiesen, als sie beispielsweise in politischen Entscheidungen und Strukturen zu suchen. Es könnte stattdessen besser von einer Krise der Asylpolitik sowie der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik, oder einfach von umfangreicher Fluchtmigration oder Fluchtbewegungen gesprochen werden. In der Migrationsforschung werden teilweise auch die Begriffe "langer Sommer der Migration" oder "Sommer der offenen Grenzen" genutzt, um die Ereignisse rund um die Fluchtbewegungen in Europa und ihre Dynamik vor allem im Sommer und Herbst 2015 zu beschreiben. Auch der Begriff der "Krise der Infrastrukturen" wird verwendet, um darauf hinzuweisen, dass es keine Krise wegen geflüchteter Menschen gab, sondern sie durch den Zusammenbruch etablierter Strukturen der Externalisierung, Außengrenzsicherung und Kooperation ausgelöst wurde. So hatten etwa die Revolutionen des "Arabischen Frühlings" dazu geführt, dass Transitstaaten in Nordafrika bei der Unterbindung von Migrationsbewegungen nur noch eingeschränkt mit der EU kooperierten oder aufgrund von Bürgerkriegssituationen (bspw. in Interner Link: Libyen) dazu gar nicht mehr in der Lage waren. Zudem hatte die Finanz- und Wirtschaftskrise Griechenland und Italien hart getroffen. Beide Staaten fühlten sich mit der Bewältigung steigender Asylsuchendenzahlen von den anderen EU-Staaten allein gelassen. Sie begannen stillschweigend, ihren Verpflichtungen aus den Interner Link: Dublin-Verträgen zur Registrierung von Schutzsuchenden in EU-Datenbanken wie Interner Link: EURODAC nicht mehr nachzukommen und ermöglichten auch so eine Weiterwanderung Asylsuchender nach Mittel-, West- und Nordeuropa.
Sabine Hess, Bernd Kasparek, Stefanie Kron, Mathias Rodatz, Maria Schwertl & Simon Sontowski (Hg.) (2016): Der lange Sommer der Migration. Krise, Rekonstruktion und ungewisse Zukunft des europäischen Grenzregimes. Grenzregime III. Assoziation A, S. 6-24.
Jochen Oltmer (2022): Die Fluchtbewegungen "2015" im Jahrhundert der Externalisierung. Journal of Modern European History, Jg. 20, Nr. 1, S. 8-16.
Im Sommer 2015 wirkten sich die vielen Ankünfte Schutzsuchender auf den griechischen Inseln noch kaum auf das griechische Asylsystem aus. Für die große Mehrheit der ankommenden Menschen war Griechenland ein Transitland, das sie schnell durchquerten, um durch Südosteuropa nach West- und Nordeuropa zu gelangen. Die Zahl der in Interner Link: Griechenland gestellten Asylanträge blieb gering. Auf den griechischen Inseln etablierten sich zahlreiche zivilgesellschaftliche Unterstützungsstrukturen, die sich in der humanitären Aufnahme und Versorgung der Schutzsuchenden engagierten. Gleichzeitig entstand entlang der zuvor klandestin – oft mithilfe von 'Interner Link: Schlepper:innen' – bereisten sogenannten Balkanroute ein "formalisierter Korridor" der staatlich organisierten Fluchthilfe: Staaten wie Mazedonien und Serbien legalisierten den Transit mit 72-Stunden-Transitvisa, Sonderzüge und Busshuttle wurden für die Weiterreise von Serbien nach Kroatien, Kroatien nach Slowenien und weiter nach Österreich und Deutschland bereitgestellt. Statt die Durchreise zu verhindern, wurde sie durch staatliche Unterstützung für einen kurzen Zeitraum professionalisiert und beschleunigt. Ab November 2015 und besonders im März 2016 wurden die Migrations- und Fluchtbewegungen dann durch politische Maßnahmen und Interventionen zunehmend wieder eingeschränkt und die staatlich organisierte Transitmigration beendet. Neben der Schließung von Grenzen zunächst für Schutzsuchende aus bestimmten Herkunftsländern und später für alle asylsuchenden Menschen sowie dem Interner Link: Bau von Zäunen an Staatsgrenzen, trug besonders die Verabschiedung der Interner Link: EU-Türkei-Erklärung und die Implementierung des sogenannten Hotspot-Ansatzes dazu bei, dass Griechenland und insbesondere die ägäischen Inseln Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos nicht mehr vornehmlich Orte der Durchreise waren. Die Migrationsforscherin Valeria Hänsel kritisiert, dass die griechischen Hotspot-Inseln vor der türkischen Küste in 'Sonderrechtszonen' und 'Freiluftgefängnisse' verwandelt worden seien.
Im September 2015 erreicht ein Schlauchboot aus der Türkei - im Hintergrund gut sichtbar - die Nordküste der griechischen Insel Lesbos. In dem
Schlauchboot sitzen vor allem Geflüchtete aus Syrien und dem Irak. Helfer ziehen das Boot an die Küste. Eine Zeitlang erreichten teilweise Hunderte
Personen jeden Tag eine der Ägäis-Inseln.
Flüchtlinge warten im Lager Moria auf ihre Registrierung. Ohne eine gültige Registrierung darf niemand am Hafen ein Ticket für die Fähre nach
Athen kaufen. Als der EU-Türkei Deal im März 2016 in Kraft tritt, darf dann niemand mehr Lesbos verlassen. Moria wird dafür bekannt, dass es
hoffnungslos überbelegt ist und im Winter sogar Menschen erfrieren. Kritiker werfen der EU vor, mit den Zuständen in Moria gezielt Flüchtlinge vor
der Überfahrt nach Lesbos abschrecken zu wollen.
Ein Schweißer schließt Ende Februar 2016 das Grenztor von Griechenland nach Makedonien, nachdem dieses kurz zuvor von verzweifelten Flüchtenden
aufgebrochen worden war. Das Tor wird in den Wochen und Monaten danach nicht mehr geöffnet, da die Regierung Makedoniens fürchtet, dass alle
Geflüchteten im Land verbleiben könnten.
Flüchtlinge brechen am 20.9.15 in Tovarnik (Kroatien) in Panik aus, als der letzte Waggon eines Zuges voll ist, der sie in ein Auffanglager bringen
soll. Da Kroatien völlig mit der Anzahl an Flüchtlingen überfordert war, mussten Tausende von ihnen im Grenzort Tovarnik mehrere Tage auf eine
Möglichkeit zur Weiterreise warten.
Kinder bitten am Freitag, dem 18.9.2015, am Bahnhof von Tovarnik in Kroatien in einem überfüllten Zug nach Zagreb um Hilfe. Als nach Tagen des
Wartens endlich ein Zug eintrifft, bricht Panik aus, da viele in diesem Zug die einzige Möglichkeit einer Weiterreise vermuten. In dem Zug ist die
Luft so stickig, dass über die beschlagene Fensterscheibe ein Mangel an Sauerstoff mitgeteilt wird.
Am Sonntag, dem 13.9.2015, erreichten etwa 700 Flüchtlinge den Bahnhof Berlin-Schönefeld mit einem Sonderzug aus München. Für viele Flüchtlinge
sind deutsche Großstädte das Ende einer teilweise wochenlangen Reise. Für einige werden noch viele Jahre vergehen, bis sie offiziell als
Flüchtlinge in Deutschland anerkannt sind. 2018 ist die Zahl Asylsuchender auf 120.000 gefallen. Von den etwa 980.000 Personen, die in einem halben
Jahr zwischen dem Sommer 2015 und dem Frühjahr 2016 kamen, haben über 30 Prozent bereits Arbeit gefunden und gelten als integriert.
Das EU-Türkei-Abkommen und die "Hotspots" auf den griechischen Inseln
Die vielfach von Nichtregierungsorganisationen Interner Link: kritisierte EU-Türkei-Erklärung setzte der großzügigen Aufnahme von Schutzsuchenden, die bis weit in das Jahr 2015 hinein in einigen EU-Staaten wie Deutschland oder Schweden wahrgenommenen wurde, ein Ende. Sie bedeutete eine Wiederaufnahme der Versuche, Drittstaaten aktiv in das europäische Grenzregime einzubinden und Grenzkontrollen in das Vorfeld der EU-Außengrenze zu verlagern. Diese sogenannte Externalisierungspolitik wird von der EU seit den 1990er Jahren betrieben.
Durch die EU-Türkei-Vereinbarung wurde das Recht auf Asyl für Menschen, die über die Türkei auf die griechischen Inseln flüchten, de facto ausgehebelt: Auf den Inseln wurden Schnellverfahren für Menschen aus Staaten mit einer niedrigen Asyl-Anerkennungsquote (unter 25 Prozent) eingeführt. Zudem wurde für Asylsuchende aus Staaten mit hoher Anerkennungsrate (über 25 Prozent) eine Prüfung über die Zulässigkeit des Asylantrags etabliert. Nur wenn sich dabei herausstellte, dass die Türkei für die Asylsuchenden nicht ausreichend Schutz bot, Interner Link: wurden sie dem regulären Asylverfahren auf dem griechischen Festland zugeführt. Diese sogenannten 'beschleunigten Grenzverfahren' führten zu einer starken Einschränkung der Rechtsgarantien Schutzsuchender. Die Verfahren haben sich – entgegen der Intention – in der Praxis auch nicht durchweg verkürzt; stattdessen müssen Schutzsuchende oft monate- bis jahrelang auf eine Entscheidung der Behörden warten. Dadurch sind die ursprünglich als Durchgangsstationen konzipierten Zentren zur Registrierung und Identifikation (RICs) ankommender Menschen – auch 'Hotspots' genannt – zu Infrastrukturen der Immobilisierung geworden. Gleichzeitig stieg die Zahl der Geflüchteten auf den griechischen Inseln weiter, weil sowohl europäische Verteilungsmechanismen (relocation) als auch Rückführungen in die Türkei nicht in dem angestrebten Maße umgesetzt wurden. Zudem flohen weiterhin Menschen über die Türkei nach Griechenland, auch wenn ihre Zahl seit 2015 deutlich gesunken ist. Auf den griechischen Inseln in der Ägäis führte dies dazu, dass die Aufnahmekapazitäten der Hotspots auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos stark überschritten wurden und sich die Zustände in diesen Lagern dramatisch verschlechterten. Es mangelte an allem: Essen, Unterkünften, fließend Wasser, Strom, psychologischer und medizinischer Versorgung, sanitärer Infrastruktur sowie dem Schutz vulnerabler Gruppen. Sexualisierte Gewalt, körperliche Gewalt und Misshandlungen durch Anwohner:innen und staatliche Behörden sowie Rassismus prägten den Alltag.
Im März 2020 erreichte die Überbelegung der Hotspots ihren Höhepunkt, als rund 38.700 asylsuchende Menschen in diesen Lagern lebten, obwohl sie nur für 6.178 Personen ausgelegt waren. Alleine auf Samos befanden sich zu dieser Zeit zehnmal mehr Geflüchtete im Aufnahmelager als vorgesehen (7.706 bei einer Kapazität von 648). Immer wieder protestierten die betroffenen Menschen aus den Camps gegen die unhaltbaren Zustände. Doch an den katastrophalen Bedingungen in den Flüchtlingslagern änderten auch die rund 2,8 Milliarden Euro nichts, die Griechenland im Zeitraum von 2015 bis Ende 2020 aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU für die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten erhalten hatte. Gerald Knaus, Mitbegründer und Vorsitzender des Think Tanks European Stability Initiative und weithin als "Architekt" der EU-Türkei-Vereinbarung bekannt, sieht in den Bedingungen auf den Ägäis-Inseln eine bewusst produzierte Abschreckungsstrategie: "Es ist eine strategische Entscheidung, genau durch diese Bilder von Menschen, die leiden, andere davon abzuhalten, zu kommen. Das ist derzeit die Politik der Europäischen Union."
Welche Rolle spielen Hilfsorganisationen im Hotspot-System?
Auf den ägäischen Inseln leisten zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) humanitäre Unterstützung für geflüchtete Menschen. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits kann sich durch die Unterstützung die Situation von Geflüchteten verbessern. Andererseits übernehmen NGOs aber teilweise staatliche Aufgaben bei der Versorgung Geflüchteter, z.B. mit Blick auf Unterbringung, Wasserversorgung oder Bildungsangebote. Dies birgt die Gefahr, das Lager-System und den darin vorherrschenden Status Quo (indirekt oder direkt) zu stabilisieren. Wenn NGOs staatliche Pflichten übernehmen, vermindert es ggf. die Bereitschaft der Staaten, diesen nachzukommen. Doch die Versorgung Asylsuchender hat nichts mit Güte zu tun, sondern ist ein Recht, das ihnen laut Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 zusteht.
Nach der Verabschiedung der EU-Türkei-Erklärung 2016 entschieden einige etablierte Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen und Oxfam, sich aus den Hotspots zurückzuziehen, um die entstehende Struktur der Entrechtung und Festsetzung Schutzsuchender nicht durch ihre Arbeit zu unterstützen. Dies hatte jedoch nicht zur Folge, dass der griechische Staat die Versorgung Schutzsuchender wieder übernahm. Stattdessen füllten andere Hilfsorganisationen, ohne Erfahrungen in der professionellen humanitären Hilfe, schnell die entstandene Lücke. Viele von ihnen sind Teil eines 'Volunteer-Systems', in dem sich unqualifizierte Freiwillige für mehrere Wochen oder Monate in der ‘Flüchtlingshilfe’ engagieren. Dies kann dazu führen, dass gut gemeinte ‘Hilfeleistung’ mehr Schaden anrichtet als nützt: z.B., wenn unqualifizierte NGOs zentrale staatliche Aufgaben wie die Reparatur des Abwassersystems übernehmen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Hilfe zum Selbstzweck der Organisationen wird, da auch Hilfsorganisationen von privaten Spendengeldern profitieren, die besonders durch Bilder der unmenschlichen Zustände in den Lagern generiert werden.
Die griechische Regierung duldet oder unterstützt die Arbeit von Hilfsorganisationen, die sich ihren Regeln anpassen, geht jedoch repressiv gegen kritische NGOs und jede Form des selbstorganisierten Zusammenlebens von Geflüchteten vor. Dies zeigte besonders die Räumung des seit 2012 selbstverwalteten Camp Pikpa auf Lesbos durch Spezialkräfte der griechischen Polizei Ende Oktober 2020.
"Wir können unsere Insel nicht wiedererkennen."– Solidarität der griechischen Bevölkerung
Die Hotspots auf den ägäischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos wurden zu einer Zeit errichtet, in der Griechenland massiv von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen und die staatlichen Verwaltungsstrukturen bereits mit der Grundversorgung der eigenen Bevölkerung überfordert waren. Trotzdem waren es vor allem die Einwohner:innen der ägäischen Inseln, die sich bis weit in das Jahr 2015 hinein aktiv in der Erstversorgung neu ankommender Schutzsuchender engagierten. Laut einer landesweiten Umfrage des Think Tank DIANESOIS, die im Januar 2016 durchgeführt wurde, übten mehr als die Hälfte der befragten Griech:innen einen aktiven Akt der Solidarität gegenüber Schutzsuchenden aus: vier Prozent engagierten sich freiwillig in der Unterstützungsarbeit, 39 Prozent spendeten Lebensmittel und 31 Prozent Kleidung, zehn Prozent unterstützen Hilfsprojekte finanziell.
Mit Inkrafttreten der EU-Türkei-Vereinbarung und der damit einhergehenden wachsenden Zahl Geflüchteter, die auf den griechischen Inseln festsaßen, nahmen jedoch Angst und Ressentiments zu. Viele Inselbewohner:innen fühlten sich von der griechischen und europäischen Politik im Stich gelassen. Sie monierten zudem, dass ihre eigene Notsituation nicht gesehen werde und es an staatlicher Unterstützung zur Bewältigung der Auswirkungen der jahrelangen Finanzkrise fehle. Im Januar 2022 verzeichnete Griechenland mit 13,3 Prozent die höchste Arbeitslosenquote innerhalb der Europäischen Union. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Arbeitslosenquote in der EU beträgt 6,2 Prozent. Während asylsuchende Menschen im Asylprozess durch den griechischen Staat, die EU und humanitäre Organisationen (geringfügig) unterstützt werden, gibt es in Griechenland keine Sozialhilfe. Viele arbeitslose Griech:innen sind auf die Unterstützung der Familie oder gemeinnütziger Organisationen angewiesen. Im Rentensystem, das als wichtigste Säule des griechischen Sozialsystems gilt, kam es seit der Finanzkrise zu erheblichen Kürzungen. Jede fünfte Person im Rentenalter muss daher mit einer Monatsrente von weniger als 500 Euro zurechtkommen. Die Konkurrenz um ohnehin knappe staatliche Leistungen führt zu Konflikten zwischen Einheimischen und Geflüchteten. Gleichzeitig fürchten viele Menschen um ihre Existenz, da aufgrund der großen Präsenz von Schutzsuchenden weniger Urlauber:innen die wirtschaftlich vom Tourismus abhängigen Inseln besuchen. Zwar erholte sich die Tourismusbranche auf den ägäischen Inseln im Jahr 2017 , doch durch die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie gingen die Besucher:innenzahlen erneut um Interner Link: 77 Prozent zurück.
Im Januar 2020 wurde ein Generalstreik auf den griechischen Inseln ausgerufen, um gegen die überfüllten Hotspot-Lager zu demonstrieren. Einen Monat später kam es zu gewaltvollen Zusammenstößen: NGO-Mitarbeiter:innen wurden attackiert, Proteste gegen ankommende Geflüchtete und die geschlossenen Lager organisiert. Unter die Anwohner:innen mischten sich Rechtsextreme aus der ganzen EU, um auf Lesbos "Europa zu verteidigen". Die Proteste von Griech:innen richteten sich gegen das Interner Link: Austeritätsprogramm der EU und den Versuch, die Ägäis-Inseln mit der Verantwortung für die Aufnahme Geflüchteter alleinzulassen. Umfragen zeigen, dass Anfang 2020 eine Mehrheit der Befragten auf den griechischen Inseln in der östlichen Ägäis Migrant:innen und Geflüchtete als "Gefahr für das Land" sahen. Verstärkt werden negative Einstellungen gegenüber Schutzsuchenden und Unterstützungsorganisationen auch durch die auf Abschreckung ausgerichtete Politik und Rhetorik der griechischen Regierung. Laut Apostolos Verizis von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen trage die griechische Regierung eine Mitschuld an der rechten Gewalt auf den Inseln, da sie Solidarität und Hilfe mit ihrer Politik kriminalisiere. Immer wieder würden Falschinformation über die Arbeit der Hilfsorganisationen verbreitet.
Aktuelle Situation: Sinkende Ankunftszahlen, Pushbacks und geschlossene Lager
Die Zahl der Geflüchteten, die über den Seeweg auf die griechischen Inseln in der Ägäis gelangen, ist 2021 auf den niedrigsten Stand seit 2015 gesunken – von 856.723 (2015) auf 59.726 (2019) und 4.331 (2021). Auch die Zahl der in den Hotspots auf den griechischen Inseln untergebrachten Geflüchteten hat stark abgenommen: von rund 38.700 im März 2020 auf rund 13.553 im Januar 2021 und 3.216 im Dezember 2021. Im Dezember 2021 machten Schutzsuchende nur noch 1,36 Prozent der Bevölkerung auf den fünf Hotspot-Inseln in der Ägäis (Lesbos, Chios, Samos, Leros, Kos) aus. Dieser Anteil lag Ende 2020 noch bei 7,67 Prozent.
Der Rückgang der Zahl Schutzsuchender auf den griechischen Inseln ist einerseits auf Umsiedlungen auf das griechische Festland und andererseits auf den sinkenden Umfang an Neuankünften zurückzuführen (siehe Abbildung 1). Der Rückgang der Neuankünfte hat dabei zahlreiche Ursachen: so z.B. internationale Grenzschließungen im Zuge der COVID-19-Pandemie, oder eine wachsende Zahl der von NGOs und Medien dokumentierten völkerrechtswidrigen Zurückweisungen von Asylsuchenden (sogenannte Pushbacks).
Während die Zahl der auf den griechischen Inseln ankommenden Asylsuchenden sinkt, gibt es dem Interner Link: UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) zufolge vermehrt Berichte über Pushbacks. Schutzsuchende seien von griechischen Grenzschützern aufgegriffen und ohne Möglichkeit, ein Asylgesuch vorzubringen, zurück in türkische Gewässer gebracht worden. Auch die Interner Link: europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) steht im Verdacht, an diesen illegalen Praktiken der Zurückdrängung beteiligt zu sein. Medien und Nichtregierungsorganisationen dokumentieren diese Praxis seit Jahren. So seien z.B. der norwegischen Organisation Aegean Boat Report zufolge im Jahr 2021 629 Pushbacks im Ägäischen Meer erfolgt, von denen insgesamt 15.803 Menschen betroffen gewesen sein sollen. Fast 60 Prozent dieser Zurückweisungen wurden in der Nähe oder von den Inseln Lesbos und Samos registriert. Der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl zufolge gehen die griechischen Behörden dabei zunehmend brutal vor. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete im Februar 2022 von zwei Menschen, die in Folge eines Pushbacks durch griechische Behörden ertrunken seien, da sie auf hoher See aus dem Boot geworfen worden sein sollen.
Nach internationalem Recht muss Schutzsuchenden, die das Territorium eines EU-Mitgliedslandes erreichen, die Möglichkeit gegeben werden, ein Asylgesuch vorzubringen, das dann in einem ordentlichen Asylverfahren geprüft wird. Der Interner Link: Europarat rief griechische Behörden auf, die Praxis der Pushbacks zu beenden. Griechenlands Regierung hat derlei Vorwürfe bislang vehement zurückgewiesen.
Verschärfte Asylpolitik und geschlossene Lager
Seit Antritt der Mitte-rechts-Regierung unter Premierminister Kyriakos Mitsotakis Mitte 2019 ist die griechische Asyl- und Grenzpolitik zunehmend verschärft worden: laut Pro Asyl werden Asylanträge von afghanischen, syrischen, somalischen, pakistanischen und bangladeschischen Asylsuchenden seither systematisch als unzulässig abgewiesen ; der Zugang zum griechischen Gesundheitssystem und zu Sozialleistungen wurde weiter eingeschränkt ; solidarische Unterstützungsarbeit und geflüchtete Menschen werden kriminalisiert. Die Corona-Pandemie hat die Not in den Hotspots vergrößert. Lockdown-Maßnahmen und Bewegungseinschränkungen wurden in den Camps länger angewandt als im übrigen Griechenland, was dazu führte, dass tausende Menschen einen harten Lockdown unter schlechtesten hygienischen Bedingungen ertragen mussten.
Abgelehnte Asylbewerber:innen haben keinen Anspruch auf staatliche Leistungen wie Nahrungsmittelrationen. Auch für anerkannte Flüchtlinge laufen die meisten staatliche Leistungen wie Unterbringung und Lebensmittelversorgung nach einem Monat aus. Eine wachsende Zahl Schutzberechtigter ist daher obdachlos. Integrationsmaßnahmen gibt es kaum. Zwar können anerkannte Flüchtlinge theoretisch soziale Grundsicherung erhalten. In der Praxis gelingt es ihnen aber in den meisten Fällen nicht, die dafür notwendigen Dokumente beizubringen. Viele Kinder von anerkannten Flüchtlingen werden nicht beschult. Die wirtschaftliche Situation in Griechenland hat sich zudem durch die Corona-Pandemie erheblich verschlechtert, sodass es für Geflüchtete kaum möglich ist, Arbeit zu finden. Mehrere deutsche Gerichte haben 2021 Interner Link: entschieden, dass Menschen, die in Griechenland einen Schutzstatus erhalten haben und anschließend nach Deutschland weitergereist sind, nicht wieder nach Griechenland zurückgeschickt werden dürfen, weil es ihnen dort am Nötigsten ("Bett, Brot, Seife") fehle.
Im Jahr 2021 begann die griechische Regierung, Zäune um mehrere Lager für geflüchtete Menschen zu errichten. Im September 2021 wurde auf Samos das erste sogenannte "geschlossene Zentrum mit kontrolliertem Ausgang" – offiziell "Multi-Purpose Reception and Identification Centre" (MPRIC) genannt – für die Unterbringung von 3.000 Menschen eröffnet. Im November 2021 folgten ähnliche Lager auf den Inseln Kos und Leros. Weitere solcher Zentren sind auf den Inseln Lesbos und Chios geplant. Die EU hat für den Bau dieser Anlagen 276 Millionen Euro bereitgestellt.
Das geschlossene Zentrum auf Samos ist von Stacheldraht umzäunt, mit Überwachungskameras, Röntgenscannern und Magnettüren ausgestattet sowie rund um die Uhr von Polizei und Sicherheitspersonal bewacht. Personen, deren Asylgesuch abgelehnt wurde, dürfen das Lager nicht verlassen. Ende 2021 betraf dies rund 100 der 450 Bewohner:innen. Schutzsuchende, die sich noch im Asylverfahren befinden, dürfen sich nur zwischen 8 Uhr morgens und 20 Uhr abends außerhalb der Einrichtung aufhalten. Das Aufnahmezentrum liegt neun Kilometer von der nächsten Stadt (Vathi) entfernt. Der Preis für das Busticket für die Hin- und Rückfahrt übersteigt die tägliche finanzielle Unterstützung für Asylsuchende, die im Flüchtlingslager leben (2,50€ pro Einzelperson, 1,75€ pro Familienmitglied einer vierköpfigen Familie).
Die griechische Regierung hebt die bessere Ausstattung des geschlossenen Camps im Vergleich zum alten Hotspot-Lager hervor, etwa fließendes Wasser, Toiletten und separate Bereiche für Familien. Menschenrechtsgruppen beklagen hingegen eine gravierende Verletzung des Rechts auf (Bewegungs-)Freiheit. Die konstante Überwachung und Kontrolle der Asylsuchenden laufe auf eine "Politik des Freiheitsentzugs und einen Affront gegen die Menschenwürde" hinaus, meint beispielsweise der griechische Flüchtlingsrat. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen kritisiert die Entmenschlichung und Marginalisierung Schutzsuchender. Auch bei den Einwohner:innen der ägäischen Inseln stößt der Bau der geschlossenen Aufnahmeeinrichtungen auf Widerstand: Am 6. Januar 2022 verhinderten Teile der lokalen Bevölkerung und örtliche Beamt:innen auf Lesbos und Chios das Anlegen eines Frachtschiffes mit Material und Maschinerie für den Bau weiterer geschlossener Camps; zudem kommt es immer wieder zu Protesten.
Ausblick: Fortführung der Politik der Immobilisierung und Externalisierung
Die umfassende Fluchtmigration in den Jahren 2015 und 2016 hat die Defizite des Interner Link: Gemeinsamen Europäischen Asylsystems mehr als deutlich werden lassen. Bislang konnten sich die EU-Mitgliedstaaten aber nicht auf eine Reform einigen, die zu einer gerechteren Verteilung der Verantwortung für Schutzsuchende führen würde. Das Interner Link: Dublin-System ist weiterhin in Kraft, welches die Hauptlast bei der Aufnahme und Versorgung Schutzsuchender an die Staaten an den EU-Außengrenzen delegiert. Diese bemühen sich wiederum verstärkt darum, Grenzkontrollen in Drittstaaten auszulagern, damit Schutzsuchende ihr Territorium erst gar nicht erreichen. Man könnte hier auch von einer Politik der Immobilisierung und Externalisierung sprechen, welches das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschriebene Recht, Asyl suchen zu dürfen, aushöhlt. Die Krise des Asylsystems hält an; sichtbar wird sie vor allem an den Rändern der EU, wie der Interner Link: Dokumentarfilm "Paradise left behind" am Beispiel von Samos zeigt. Leitragende sind insbesondere diejenigen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Ihre Situation bleibt häufig auch nach der Flucht prekär. Sicherheit finden sie nicht.
absolviert den Masterstudiengang Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen (IMIB) an der Universität Osnabrück und ist Studentische Hilfskraft am dortigen Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS).
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.