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Die blinden Flecken antirassistischer Diskurse

Ronya Othmann

/ 6 Minuten zu lesen

Antirassistische Diskurse laufen Gefahr, in Schubladen zu denken und so Dichotomien fortzuschreiben, meint Autorin und Journalistin Ronya Othmann. Welche Fallstricke sind damit verbunden und wie könnten diese überwunden werden? Ein Essay.

Antirassistische Diskurse laufen Gefahr, in Schubladen zu denken. Autorin und Journalistin Ronya Othmann macht auf die blinden Flecken in diesen Diskursen aufmerksam. (© picture-alliance, Mika Volkmann)

Es gibt so einen Hang zum Einsortieren: "Die Migrant*innen", "die Flüchtlinge", "die Schwarzen", "die Frauen" – Kollektividentitäten, im Guten wie im Schlechten. Als Fremdzuschreibung, mit Vorurteilen versehen – wir wollen das hier lieber nicht wiederholen –, sind wir bei den berühmten -ismen und -feindlichkeiten; als Selbstzuschreibung, im Sinne einer progressiven Interner Link: Identitätspolitik, sind sie ein Mittel, um bestehende Machtverhältnisse zu beschreiben, politische Handlungsmacht zu erlangen und sich gegen Diskriminierung zur Wehr zu setzen. So weit, so gut. Nur verharren die antirassistischen Diskurse der letzten Jahre allzu oft in Dichotomien: "weiße Mehrheitsgesellschaft" auf der einen Seite und "People of Color" auf der anderen, "Dominanzkultur" und "Marginalisierte", "Biodeutsche" und "von Rassismus Betroffene". Viele Begriffe wurden außerdem eins zu eins aus dem US-amerikanischen Kontext übernommen (z.B. Externer Link: "Tokenism", "Black Indegineous People of Color", "Reverse Racism"), und das, ohne die Besonderheiten der US-amerikanischen Geschichte des Rassismus – von Interner Link: Sklaverei bis George-Floyd – und der deutschen Geschichte – vom Interner Link: Nationalsozialismus bis zum Interner Link: NSU oder auch der Interner Link: Zeit des Kolonialismus – voneinander abzugrenzen. Das führt nicht selten zu blinden Flecken und Kurzschlüssen wie "Es gibt keinen Rassismus gegen Weiße", was den antislawischen Rassismus einfach unter den Tisch fallen lässt ("Polacke", Witze über autoklauende Osteuropäer etc.) und ausgesprochen geschichtsblind ist (Antislawismus im wilhelminischen Kaiserreich, nationalsozialistischer Interner Link: Vernichtungskrieg im Osten).

Ein weiteres Problem des gegenwärtigen antirassistischen Diskurses ist, dass er Antisemitismus häufig komplett ausblendet, ihn zu einer bloßen Unterkategorie des Rassismus erklärt, was seiner spezifischen Funktionsweise und Geschichte nicht gerecht wird (Interner Link: Antisemitismus als Weltbild). Oder, die ganze Sache sogar umdreht, die Juden zu "Weißen" erklärt, zu Kolonialherren, zu "White Supremacists" in Bezug auf Israel. Überdies nehmen die antirassistischen Diskurse häufig nur den Rassismus, der von einer weißen (deutschen) Mehrheitsgesellschaft ausgeht, in den Blick. Rassismen und Feindlichkeiten unter Eingewanderten und ihren Nachkommen kommen kaum vor.

Die Gründe dafür sind die Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe. Denn auch unter Eingewanderten und ihren Nachkommen gibt es Mehrheitsverhältnisse und auch dort dominieren Mehrheiten den Diskurs. Diese Mehrheiten sehen sich in erster Linie als Opfer des Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft. Sich hingegen auch mit eigenen internalisierten Feindlichkeiten und Rassismen zu beschäftigen, ist unangenehm und mühselig.

Des Weiteren taucht immer wieder der Vorwurf der "Spaltung" auf: "Für einen deutschen Nazi sind wir sowieso alle gleich", heißt es oft. Die Angst geht um, Ressentiments gegenüber Menschen mit Migrationshintergründen nur zu bestätigen und zu verstärken, wenn Missstände in der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte thematisiert würden. "Es gibt doch ohnehin so viel Interner Link: antimuslimischen Rassismus", heißt es dann oft, wenn von Islamismus die Rede ist. Teilweise wird das Sprechen über Interner Link: Islamismus sogar gleich ganz zur Islamfeindlichkeit erklärt.

Hinzu tritt außerdem gesamtgesellschaftlich eine große Unwissenheit. Ein Beispiel: Vor sechzig Jahren wurde das Interner Link: Anwerbeabkommen mit der Türkei geschlossen. Die ersten Gastarbeiter*innen kamen nach Deutschland. In den Augen der meisten Deutschen waren es "Türken" und "Muslime". In den Augen des türkischen Staates und der türkischen Mehrheitsgesellschaft waren diese Arbeitskräfte ebenfalls "Türken" und "Muslime". Dass aber unter ihnen auch Kurd*innen, Aramäer*innen, Alevit*innen, Ezîd*innen, Armenier*innen waren, die zum Teil Türkisch erst in den deutschen Fabriken von ihren Arbeitskolleg*innen lernten und nicht selten nach Deutschland gingen, um Diskriminierung und Verfolgung als nicht-türkische und nicht-muslimische Minderheiten zu entkommen, wird bis heute oft übergangen. Auch das hat mehrere Gründe: Schon zur Zeit des Interner Link: Osmanischen Reiches wurden Pogrome gegenüber nicht-muslimischen Minderheiten verübt. Und der Interner Link: türkische Nationalismus und die Zwangsassimilation nicht-türkischer Minderheiten ist schon seit der Republikgründung der Türkei 1923 durch Interner Link: Mustafa Kemal Atatürk fester Bestandteil des Umgangs des Staates mit seinen Minderheiten. Es ist also eine lange Geschichte der Gewalt und Verfolgung, die bis heute andauert und verdrängt, verschwiegen, tabuisiert und geleugnet wird. Der Interner Link: Genozid an den Armeniern ist dafür ein Beispiel. In der Türkei ist seine Leugnung Staatsdoktrin. In türkischen Schulbüchern heißt es bis heute, dass es andersherum war: dass die Türken die Opfer der Armenier gewesen seien. Denselben Geschichtsrevisionismus betreiben türkische Staatsmedien wie der Sender TRT, der mittlerweile auch einen deutschen Ableger hat. Und mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Unwissenheit hierzulande: Noch immer ist in keinem deutschen Bundesland der Genozid an den Armeniern als verpflichtendes Thema in Schulbüchern enthalten, Interner Link: trotz deutscher Verstrickungen (Kaiserreich). Es fehlt an Korrektiven, schlichtweg an Wissen. Dabei wäre das so wichtig.

Feindlichkeiten und Rassismen legt man mit der Migration nicht einfach so ab. Sie werden oft weitergegeben von Generation zu Generation. So kommt es dann z.B. auch auf deutschen Schulhöfen zu antikurdischen Ausfällen vonseiten türkischstämmiger Mitschüler*innen. Der deutschen Gesellschaft, den Pädagog*innen an Schulen fehlt oft das nötige Wissen über Interner Link: Geschichte und Ausformungen dieses Rassismus. Sie können nicht damit umgehen und ihn manchmal nicht einmal als solchen erkennen.

Integration wurde viel zu lange als Einbahnstraße verstanden. Nach dem Motto: die Migrant*innen, Flüchtlinge, Einwander*innen müssen sich in Deutschland integrieren. Social Media-Kampagnen wie #vonhier, die zurecht anprangern, wenn nach der "eigentlichen" Herkunft gefragt wird oder migrantisch gelesenen Menschen das Deutschsein abgesprochen wird, haben auch eine negative Schlagseite: Und zwar wenn die De-Thematisierung von Herkunft dazu führt, dass tradierte Normen, Werte, Erzählungen und eben auch Rassismen und Feindlichkeiten keine Rolle spielen.

Die Einwanderungsgesellschaft besteht aber nicht aus dem Gegensatz von einer "einheimischen" und einer durch eigene oder vermittelte Migrationserfahrung geprägten Gesellschaft, sondern aus unterschiedlichsten und vielfältigen Zugehörigkeiten und Verflechtungen. Es ist also kompliziert. Auch, was eigene Identitätskonzeptionen und Bezüge zum Herkunftsland der Eltern oder Großeltern betrifft. Ein paar plakative Beispiele: Während Duygu jedes Jahr ihren Urlaub an der türkischen Mittelmeerküste verbringt, hat Deniz das Land seiner Großeltern noch nie gesehen, identifiziert sich als Deutscher und spricht nicht einmal mehr die Sprache seiner Eltern. Während Dilan die Türkei aufgrund ihres eigenen politischen Engagements nicht mehr betreten kann, aus einer Familie von kurdischen Aktivisten stammt, die zum Teil lange in türkischen Gefängnissen saßen und gefoltert wurden, ist Serkan ein Anhänger der rechtsextremen Interner Link: Grauen Wölfe und schikanierte schon in der Schule in Recklinghausen seine kurdischen Mitschüler*innen. Während Ahmet im Vorstand einer DITIB-Moschee ist, bei der letzten Wahl Interner Link: Erdoğan gewählt hat, aus einer sunnitischen Familie stammt, ist Seda Atheistin und türkische Nationalistin. Und, und, und. Es ist natürlich noch viel komplizierter als es dieser kurze Text hier fassen kann.

Nur was ist daraus zu schließen? Rassismus ist immer noch Rassismus, auch wenn er von einer nicht-weißen Person ausgeht. Und er ist nicht marginal. Die Grauen Wölfe zum Beispiel sind die anhängerstärkste rechtsextreme Gruppierung in Deutschland. Ein konsequenter Antirassismus ist nicht selektiv. Er nimmt globale Verstrickungen mit in den Blick, lässt den Eurozentrismus hinter sich. Er interessiert sich für die Feindlichkeiten und Rassismen innerhalb der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte und ihre Geschichten. Und das weder im Sinne eines Interner Link: Kulturrelativismus, noch an Identität und Herkunft geknüpft. Das heißt: Auch, wenn ich weder türkisch noch kurdisch bin, geht mich antikurdischer Rassismus etwas an. Er ist eben nicht eine Art inner(post)migrantische Familienangelegenheit. Die Antwort könnte in einer pluralistischen Gesellschaft ein konsequenter Universalismus sein, der das Partikulare mit einbezieht.

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Ronya Othmann ist Autorin und Journalistin. Zuletzt erschien bei Hanser ihr Roman "Die Sommer" (2020) und ihr Gedichtband "die verbrechen" (2021). In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt sie die Kolumne "Import Export".