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Staatenlosigkeit in Vergangenheit und Gegenwart | Staatenlosigkeit | bpb.de

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Staatenlosigkeit in Vergangenheit und Gegenwart

Vera Hanewinkel Beeke Wattenberg

/ 11 Minuten zu lesen

Jeder Mensch hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit. Dennoch gibt es weltweit viele Menschen, denen dieses Recht verwehrt wird. Ein Blick in die Geschichte der Staatenlosigkeit – und auf die Frage, wie verbreitet dieses Phänomen gegenwärtig ist.

In der Zwischenkriegszeit sollte der "Nansen-Pass" staatenlosen Flüchtlingen ein Mindestmaß an Sicherheit gewähren. (© picture-alliance, Heritage-Images | Fine Art Images)

Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, eine Staatsangehörigkeit zu haben und als Bürger:innen dieses Staates politische und soziale Rechte zu besitzen und diese geltend machen zu können. Doch was ist, wenn eine Person keine Staatsangehörigkeit besitzt? Dies ist die Lebensrealität von mindestens 10-15 Millionen Menschen weltweit: Sie sind staatenlos. Staatenlosigkeit bedeutet, dass eine Person viele Rechte, Freiheiten und Sicherheiten nicht genießt, die den Bürger:innen eines Staates garantiert werden. Denn die Staatsangehörigkeit ist mehr als nur eine rechtliche Kategorie und beeinflusst alle Bereiche des Lebens. Staatenlose Menschen befinden sich häufig in einem rechtlichen Schwebezustand und haben nur eingeschränkten Zugang zu Bildung, Arbeit, politischer Teilhabe und sozialer Unterstützung.

Nach der juristischen (de jure) Definition von Staatenlosigkeit, die sich im 1954 verabschiedeten internationalen Übereinkommen über die Rechtsstellung von Staatenlosen findet, sind Personen dann staatenlos, wenn sie von keinem Staat “auf Grund seines Rechtes als Staatsangehörige” angesehen werden. Diese de jure Staatenlosigkeit kann in bestimmten Verfahren durch den Staat rechtlich anerkannt werden. Zusätzlich gibt es viele Millionen Menschen, die zwar ohne wirksame Staatsangehörigkeit leben und somit praktisch (de facto) staatenlos sind, deren Staatenlosigkeit aber durch den Staat rechtlich nicht anerkannt ist. Dies trifft auf Personen zu, die keine amtlichen Ausweisdokumente besitzen, deren Staatsangehörigkeitsverhältnisse ungeklärt sind oder die zwar formell eine Staatsangehörigkeit besitzen, aber dennoch nicht unter dem Schutz dieses Staates stehen. Häufig haben sie keine Möglichkeit, ihre Staatsangehörigkeit nachzuweisen oder ihnen wird trotz der Staatsangehörigkeit der Zugang zu vielen Rechten verwehrt. Betroffene Personen sind beispielsweise undokumentierte Migrant:innen, die sich außerhalb ihres Herkunftslandes aufhalten, aber aus Angst davor abgeschoben zu werden, im Aufenthaltsland kein Asyl beantragen. Ein weiteres Beispiel sind Angehörige von Minderheiten, denen in ihrem ständigen Aufenthaltsland systematisch grundlegende Rechte vorenthalten werden.

Die Ursprünge von Staatenlosigkeit gehen auf die Durchsetzung der durch souveräne Nationalstaaten geprägte Weltordnung zurück. Seit dem 18. Jahrhundert wurde das Staatsangehörigkeitsrecht zunehmend kodifiziert, wodurch die einzelnen Individuen zunehmend stärker an "ihren" Staat gebunden wurden. Mit Interner Link: Beginn des Ersten Weltkriegs gewann die Staatsangehörigkeit an Bedeutung und ermöglichte noch eindeutiger die Kategorisierung als "Freund", "Feind" und "Neutraler". Aus militärischen und sicherheitspolitischen Gründen wurden Grenzkontrollen und ein systematisches Passwesen durchgesetzt, das auch nach dem Krieg als Mittel der zivilen Kontrolle fortbestand und immer weiter ausgebaut wurde. Mit der Aufwertung der Staatsangehörigkeit wurde die Ausbürgerung wiederum zur Waffe des Staates gegen unliebsame Bürger:innen – im Ersten Weltkrieg richtete sie sich vor allem gegen Angehörige von als feindlich angesehenen Staaten.

Staatenlosigkeit in der Zwischenkriegszeit

Massiv trat das Phänomen der Staatenlosigkeit erstmals in der Zwischenkriegszeit auf. Infolge der Oktoberrevolution von 1917 und des anschließenden russischen Bürgerkriegs waren ein bis zwei Millionen Menschen ins Ausland geflohen. 1921 entzog die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) all jenen Flüchtlingen die Staatsbürgerschaft, die sich nicht ihrer Herrschaft unterwerfen wollten. Die Situation verschärfte sich nach der Gründung der Sowjetunion 1922: Alle Personen, die bis dahin ins Exil gegangen waren, wurden zu Staatenlosen. Die Figur des staatenlosen Flüchtlings war geboren und der Interner Link: Völkerbund sah sich veranlasst, für diese neue Flüchtlingskategorie einen eigenen Hochkommissar einzuberufen: den Polarforscher Fridtjof Nansen. Die Flüchtlinge erhielten ein nach ihm benanntes internationales Ausweis- und Reisedokument ("Nansen-Pass"), das ihnen ein Mindestmaß an Schutz bieten und grenzüberschreitendes Reisen ermöglichen sollte. Ursprünglich nur für russische Emigrant:innen gedacht, wurde der Nansen-Pass in der Folgezeit auch auf andere Gruppen flüchtender Menschen ausgeweitet, etwa auf Interner Link: armenische Geflüchtete (1924).

Ausbürgerungen als Element totaler Herrschaft in der NS-Zeit

In NS-Deutschland wurde der Entzug der Staatsangehörigkeit zu einem Element der Marginalisierung von politischen Gegnern und Menschen – insbesondere Jüdinnen und Juden –, die nicht mehr als Teil der deutschen ›Volksgemeinschaft‹ galten. Durch das "Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit" vom 14. Juli 1933 konnte all jenen Reichsbürger:innen die Staatsangehörigkeit entzogen werden, die sich im Ausland aufhielten und durch "ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen das Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt haben". Auch jene, die einer Aufforderung zur Rückkehr ins Deutsche Reich nicht nachkamen, konnten die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren. Widerrufen werden konnte die Staatsangehörigkeit auch all jener, die während der Zeit der Interner Link: Weimarer Republik eingebürgert worden waren und deren Einbürgerung vom NS-Regime "nicht als erwünscht" angesehen wurde. Dies betraf vor allem aus Osteuropa stammende Jüdinnen und Juden, die in der Zwischenkriegszeit nach Deutschland gekommen waren. Die Betroffenen hatten keine Möglichkeit, Rechtsmittel gegen die Ausbürgerung einzulegen. Oft wurde ihnen die Ausbürgerung nicht einmal mitgeteilt. Ihr Vermögen konnte beschlagnahmt werden. Auf der Grundlage des Gesetzes wurde in mindestens 10.487 Fällen die deutsche Staatsangehörigkeit widerrufen, was hauptsächlich jüdische Deutsche betraf (in 6.943 Fällen). Weiteren 39.006 ebenfalls überwiegend jüdischen Personen wurde die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Mussten Ausbürgerungen zunächst noch individuell begründet werden, brauchte infolge eines Dekrets Heinrich Himmlers vom 30. März 1937 ausgewanderten Jüdinnen und Juden ein "deutschfeindliches Verhalten" nicht einmal mehr nachgewiesen werden. Das war der Beginn von Massenausbürgerungen. Allein 1938 entzog das NS-Regime fast 5.000 Personen die deutsche Staatsangehörigkeit. 1941 führten weitere Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht dazu, dass auch jüdischen Deutschen die Staatsangehörigkeit entzogen werden konnte, die sich im Interner Link: Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete aufhielten bzw. in die dort eingerichteten Vernichtungslager deportiert worden waren. So verloren nach 1941 weitere rund 250.000 Menschen ihre deutsche Staatsangehörigkeit. Deportierte Jüdinnen und Juden erhielten die Nachricht ihrer Ausbürgerung häufig im Interner Link: Konzentrationslager und starben staatenlos.

Hannah Arendt und das Recht, Rechte zu haben

Die politische Theoretikerin Interner Link: Hannah Arendt, die 1933 aus Deutschland geflohen war und der das NS-Regime daraufhin ihre deutsche Staatsangehörigkeit entzog, befasste sich in ihren Schriften unter anderem mit der Frage der Staatenlosigkeit. In ihrem 1955 erstmals auf Deutsch erschienenen Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" schreibt sie: "Denaturalisierung und Entzug der Staatsbürgerschaft gehörten zu den wirksamsten Waffen in der internationalen Politik totalitärer Regierungen." Arendt erfuhr am eigenen Leib, dass Menschenrechte trotz ihres Anspruchs, unveräußerliche Rechte zu sein, in der Praxis nicht in erster Linie für Menschen als Menschen gelten, sondern für Menschen, die als Staatsangehörige Mitglieder eines politischen Gemeinwesens sind. Nur als solche, so wurde offenkundig, hatten sie gesetzlich geschützte Rechte, wie etwa das Wahlrecht, das Recht auf Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung oder die Teilhabe am kulturellen Leben. Nur als solche konnten sie Menschenrechte überhaupt wahrnehmen. Und so forderte Arendt, dass es ein grundlegendes Recht geben müsse, einer Gemeinschaft anzugehören, in der jedem Menschen weitere Rechte garantiert werden. Arendt bezeichnete dies als "Recht, Rechte zu haben". Zwar haben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs internationale Regelungen – wie die Interner Link: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Interner Link: Genfer Flüchtlingskonvention oder der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte – die Souveränität von Nationalstaaten eingeschränkt, sich gleichgültig oder gar feindlich gegenüber Staatenlosen und entrechteten Minderheiten zu verhalten. Dennoch leben weltweit weiterhin Millionen von Menschen am Rande oder sogar außerhalb der politischen Gemeinschaften.

Staatenlosigkeit heute

Nach Angaben des Interner Link: UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) gab es Ende 2020 weltweit 4,2 Millionen staatenlose Menschen. Diese Zahlen enthalten auch Personen mit ungeklärter Nationalität, wie zum Beispiel Geflüchtete, deren Staatsangehörigkeit nicht ermittelt werden kann. Die tatsächliche Zahl aller staatenlosen Menschen auf der Welt dürfte jedoch deutlich höher liegen: nur 94 Länder (bei 193 der UN angehörigen Staaten) haben überhaupt Daten zu Staatenlosen auf ihrem Territorium erfasst und UNHCR gemeldet. So verfügte UNHCR 2019 beispielsweise nur in vier der 48 Staaten in Subsahara-Afrika über Daten zu Staatenlosen und kann auch keine Angaben zu einigen der bevölkerungsreichsten Ländern der Welt, wie beispielsweise China, machen. Außerdem ist die große Gruppe der staatenlosen Palästinenserinnen und Palästinenser in den Zahlen nicht enthalten, weil sie nicht unter das Mandat des UNHCR fallen, sondern von einem eigens für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten eingerichteten Hilfswerk betreut werden: Interner Link: UNRWA.

Das Institute on Statelessness and Inclusion schätzt die Zahl staatenloser Personen Mitte 2019 auf mindestens 15 Millionen Menschen weltweit. Diese Schätzung beinhaltet auch die Gruppe staatenloser Palästinenser:innen. Als Folge der aktuellen Entwicklungen im indischen Bundesstaat Assam, wo 1,9 Millionen Menschen der Entzug der Staatsangehörigkeit droht , könnte die globale Zahl der Staatenlosen erheblich steigen.

Bei mehr als 70 Prozent der von UNHCR als staatenlos anerkannten Personen handelt es sich um Menschen ohne Fluchterfahrung. Stattdessen sind sie in ihrem eigenen Herkunftsland staatenlos und werden auch in situ Staatenlose genannt (“in situ stateless person”). Weitere 25 Prozent der Staatenlosen sind als Asylsuchende oder Flüchtlinge anerkannt und drei Prozent sind Vertriebene im eigenen Herkunftsstaat. Nach Weltregionen lebten Ende 2020 laut UNHCR die meisten der statistisch erfassten rund 4,2 Millionen Staatenlosen in Asien (ca. 40 Prozent), insbesondere in Bangladesch (rund 867.000), Myanmar (600.000) und Thailand (481.000). Ein prominentes Beispiel einer staatenlosen Minderheit in dieser Weltregion sind die Interner Link: Rohingya, von denen 2017 Hunderttausende vor gewaltsamen Übergriffen aus Myanmar in das benachbarte Bangladesch flohen. Auch in Afrika gibt es viele Staatenlose – laut UNHCR-Statistiken leben die meisten davon in Côte d’Ivoire (Ende 2020 rund: 955.000 ), wo nach der Unabhängigkeit des Landes 1960 viele aus Burkina Faso eingewanderte Menschen nicht die Bedingungen erfüllten, um die Staatsangehörigkeit von Côte d’Ivoire zu erlangen. An dritter Stelle der Weltregionen mit den meisten staatenlosen Personen führt das UN-Flüchtlingshilfswerk Europa, wo es vor allem in den baltischen Staaten Interner Link: Lettland (Ende 2020 rund 209.000) und Interner Link: Estland (73.000) viele Menschen ohne Staatsangehörigkeit bzw. mit “unbestimmter Staatsangehörigkeit” gibt. Es handelt sich hierbei Interner Link: in der Regel um Menschen, die in der Zeit der Zugehörigkeit des Baltikums zur Sowjetunion eingewandert sind, sowie um ihre Nachkommen. Nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten wurde ihnen nicht automatisch die lettische oder estnische Staatsangehörigkeit verliehen. Gleichzeitig führte die Auflösung der Sowjetunion dazu, dass sie ihre sowjetische Staatsangehörigkeit verloren.

Drei Viertel der staatenlosen Menschen weltweit gehören Minderheiten an. In Europa sind besonders Angehörige der Interner Link: Roma-Gemeinschaft von Staatenlosigkeit betroffen. Durch Fluchtbewegungen sind zudem Menschen nach Europa gekommen, die entweder bereits im Herkunftsland staatenlos waren, oder auf der Flucht staatenlos geworden sind. Letzteres kann beispielsweise auf Kinder zutreffen, die auf der Flucht geboren wurden, ohne dass die Möglichkeit bestand, die Geburt ordnungsgemäß zu registrieren. Generell sind Kinder besonders häufig von Staatenlosigkeit betroffen, da nach verfügbaren Datensätzen 48 Prozent der Staatenlosen unter 18 Jahre alt sind.

Weitere Inhalte

Vera Hanewinkel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück und Redakteurin bei focus Migration.
E-Mail Link: vera.hanewinkel@uni-osnabrueck.de

Beeke Wattenberg absolviert den Masterstudiengang Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen (IMIB) an der Universität Osnabrück und ist Studentische Hilfskraft am dortigen Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS).